15

»Was ist es denn?«, raunte Jennsen der jungen Frau zu, die vor ihr durch das hohe, ausgedörrt Gras robbte. »Psst«, war Lauries einzige Antwort. Laurie und ihr Mann waren an diesem trostlosen Ort unterwegs gewesen, um eine späte Ernte wilder Feigen einzubringen, die hier in dem Gebiet zwischen den niedrigen Hügeln wuchsen. Dabei hatten sie sich immer weiter fortgewagt und waren schließlich getrennt worden. Als der Nachmittag sich dem Ende zuneigte und Laurie sich auf den Weg zurück in den Ort machen wollte, hatte sie ihren Mann nicht mehr gesehen. Es war, als wäre er vom Erdboden verschluckt worden.

In ihrer wachsenden Verzweiflung war sie schließlich in die Ortschaft Hawton zurückgelaufen, um Jennsen um Hilfe zu bitten. Da Eile geboten war, hatte Jennsen beschlossen, ihre Lieblingsziege Betty in ihrem Stall zurückzulassen, worüber diese sich alles andere als erfreut gezeigt hatte. Doch Lauries Mann wiederzufinden war ihr wichtiger. Als sie schließlich mit einem kleinen Suchtrupp zurückkehrten, war die Sonne längst untergegangen.

Nachdem Owen, dessen Frau Marilee, Anson und Jennsen ausgeschwärmt waren, um das hügelige Gelände abzusuchen, hatte Laurie eine unerwartete Entdeckung gemacht. Sie weigerte sich jedoch, darüber zu sprechen, stattdessen drängte sie Jennsen zur Eile. Sie sollte selbst einen Blick darauf werfen und vor allem Schweigen darüber bewahren. Vorsichtig hob Laurie den Kopf, gerade weit genug, um in die Nacht hinausspähen zu können. Zeigend beugte sie sich nach hinten, damit Jennsen ihr Flüstern verstehen konnte. »Dort.«

Jennsen, mittlerweile angesteckt von Lauries Alarmiertheit, reckte behutsam den Hals, um in die Dunkelheit zu spähen.

Das Grab war geöffnet worden.

Jemand hatte das große, Nathan Rahl gewidmete Granitmonument zur Seite geschoben, und aus dem Boden drang ein Lichtschein hervor, der einen matt leuchtenden Strahl in das dunkle Herz der sternenklaren Nacht schickte.

Jennsen wusste natürlich, dass dies nicht wirklich Nathan Rahls Grabstätte war, aber Laurie konnte das nicht wissen. Nathan hatte dieses Grabmal, das seinen Namen trug, selbst entdeckt, als er mit Ann eine Zeitlang bei ihnen gelebt hatte. Außerdem hatte er herausgefunden, dass dieses Mal, anscheinend eine ziemlich verschwenderisch gestaltete Grabstätte, in Wahrheit den Eingang zu geheimen unterirdischen Räumlichkeiten bildete, die Unmengen von Schriften enthielten. Er und Ann hatten Jennsen erklärt, dass dieses geheime Bücherlager Tausende von Jahren alt und während all dieser Zeit durch Magie geschützt gewesen sei.

Doch von alldem wusste Jennsen nichts, sie besaß keine magischen Kräfte. Sie war eine von der Gabe völlig Unbeleckte - ein Loch in der Welt, wie sie manchmal von den Besitzern magischer Kräfte genannt wurde, weil deren Gabe blind gegen sie war. Sie war ein überaus seltenes Geschöpf - eine Säule der Schöpfung, genau wie ihr ganzes in Bandakar beheimatetes Volk.

In grauer Vorzeit hatte man herausgefunden, dass bei der Vermischung der von der Gabe völlig Unbeleckten mit normalen Menschen, die alle über zumindest einen winzigen Funken Magie verfügten, ausnahmslos von der Gabe völlig unbeleckte Nachkommen entstanden. Zogen diese dann frei und ungehindert durch die Welt, bestand die Gefahr, dass die Magie durch ihre Fortpflanzung vollends aus der Menschheit getilgt würde. Damals hatte man entschieden, der Gefahr einer stetig anwachsenden Zahl mit der Gabe völlig Unbeleckter dadurch zu begegnen, dass man sie zusammentrieb und in die Verbannung schickte. Da diese Besonderheit ihren Ursprung in der Nachkommenschaft des Lord Rahl hatte, wurden in der Folge alle Kinder eines Rahl einer Prüfung unterzogen und, wurde die von der Gabe völlige Unbelecktheit festgestellt, auf der Stelle getötet, um jede weitere Verbreitung dieses Merkmals in der normalen Bevölkerung zu unterbinden. Jennsen, Spross eines Vergewaltigungsopfers von Darken Rahl, war entgegen aller Wahrscheinlichkeit der Entdeckung entgangen. Nun oblag es Richard, dem derzeitigen Lord Rahl, diesen Makel aus seinem Stammbaum zu tilgen.

Der jedoch empfand diese Vorstellung als abstoßend. Seiner Überzeugung nach hatten Jennsen und andere wie sie das gleiche Recht auf Leben wie er selbst. In Wahrheit war er begeistert gewesen, dass er eine Halbschwester hatte, ob nun von der Gabe völlig unbeleckt oder nicht, und hatte sie mit offenen Armen willkommen geheißen. Darüber hinaus hatte er die Verbannung dieses Volkes aufgehoben und – ungeachtet der Auswirkungen, die dies auf das Vorhandensein der Magie innerhalb der Menschheit letztendlich haben mochte - die Barriere aufgehoben, die es vom Rest der Menschheit trennte. Seit dem Fall dieser Barriere waren viele aus dem Volk von Bandakar von der Imperialen Ordnung gefangen genommen und als Zuchtvieh missbraucht worden, um das Verschwinden der Magie zu beschleunigen. Die Übrigen waren zunächst in ihrer angestammten Heimat zurückgeblieben, um sich mit der Außenwelt vertraut zu machen, ehe sie über ihr weiteres Vorgehen entschieden.

Jennsen empfand eine enge Verwandtschaft mit diesen Menschen. Sie hatte sich ihr ganzes Leben verstecken müssen, weil ihr wegen des Verbrechens ihrer Herkunft die Todesstrafe drohte, und somit selbst in einer Art Verbannung gelebt. Daher war sie nun bei ihnen geblieben, um diesen Neubeginn eines Lebens voller Möglichkeiten mit ihnen zu teilen. Offenbar befürchtete Laurie, ihrer Welt drohe nun neues Unheil, allerdings galt dies seit dem Aufmarsch der Armee der Imperialen Ordnung für die Welt aller. So gesehen befanden sich die von der Gabe völlig Unbeleckten nicht mehr in einer außergewöhnlichen Situation. Jennsen war unschlüssig, wer sich jetzt dort unten in dem Grabmal aufhalten mochte. Womöglich waren Ann und Nathan zurückgekommen, um die Bücher abzuholen, die sie aus dieser lange vergessenen unterirdischen Bibliothek benötigten. Auch diese Bücher hatten sich in ihrem Versteck hinter den Grenzen, die erst mit dem Auftreten Richards wieder hatten überschritten werden können, in einer Art Verbannung befunden.

Vielleicht, überlegte Jennsen, war es auch Richard selbst. Es war schon eine Weile her, dass sich Ann und Nathan zusammen mit Tom auf die Suche nach ihm gemacht hatten. Hätten sie ihn gefunden, hätten sie ihm gewiss von der unterirdischen Bibliothek erzählt. Vielleicht war er ja zurückgekehrt, um sie selbst in Augenschein zu nehmen oder aber, weil er etwas ganz Spezielles suchte. Die Vorstellung, ihren Halbbruder wiederzusehen, ließ ihr Herz vor Aufregung schneller schlagen. Andererseits konnte es durchaus auch jemand ganz anderes sein – jemand, der für sie alle eine Gefahr darstellte. Der Gedanke ließ sie zögern, überstürzt in das Grabmal hinabzusteigen.

Durch ihr ständiges Leben auf der Flucht vorsichtig geworden, verharrte sie regungslos in geduckter Haltung und hielt nach irgendeinem Hinweis Ausschau, wer sich dort unten in dem Grabmal befand. In der Ferne wiederholten Spottdrosseln in der regungslosen Finsternis ihre Rufe und versuchten, in einem nicht enden wollenden nächtlichen Streit sich gegenseitig zu übertreffen. Während sie ihnen müßig lauschte, wurde ihr klar, dass sie am besten in ihrem Versteck blieb und wartete, bis sich, wer immer sich im Grab befand, von selber zeigte. Da sie jedoch befürchtete, die anderen könnten von ihrer Suche zurückkehren und sie versehentlich verraten, beschloss sie, das Grab im Auge zu behalten und Laurie loszuschicken, um die anderen zu suchen und sie vor den unbekannten Eindringlingen zu warnen.

Noch ehe sie nahe genug heranrobben konnte, um Laurie mit leiser Stimme ihre Anweisungen zu geben, begann die junge Frau unvermittelt vorwärtszukriechen. Offenbar hatte sie beschlossen, das dort unten in dem Grabmal könnte vielleicht doch ihr Mann sein. Jennsen streckte sich und versuchte sie am Knöchel zu packen, doch der war längst außer Reichweite.

»Laurie!«, zischte Jennsen. »Bleib, wo du bist!«

Laurie überhörte das Kommando und robbte weiter durch das trockene Gras. Sofort kroch Jennsen ihr hinterher und bahnte sich einen Weg zwischen den alten Grabsteinen hindurch, die in dem unebenen Gelände überall verstreut umherlagen. Das trockene Gras machte für ihren Geschmack viel zu viele Geräusche, und Laurie war weder besonders vorsichtig noch leise. Jennsen hatte solche Dinge von ihrer Mutter gelernt, doch Laurie hatte davon so gut wie keine Ahnung. Ein gutes Stück weiter vorn entfuhr Laurie ein erschrockenes Keuchen. Jennsen hob gerade weit genug den Kopf, dass sie sehen konnte, ob jemand in der Nähe war - nur war es in dieser Dunkelheit schwer, überhaupt etwas zu erkennen. Ihrer Meinung nach konnten sie von einem Dutzend Soldaten umzingelt sein. Trotzdem, wenn sie sich ruhig verhielten, würde es schwierig, wenn nicht gar unmöglich sein, sie zu entdecken.

Plötzlich erhob sich Laurie bis zu den Knien und stieß dabei ein so schauderhaftes Heulen aus, dass Jennsens Nackenhaare sich sträubten. Der Schrei zerriss die nächtliche Stille. Die Spottdrosseln verstummten. Mitten in der Nacht trug ein solcher Schrei über riesige Entfernungen. Da sie nicht mehr befürchten musste, sich zu verraten, rappelte sich Jennsen auf und lief die noch verbliebene Entfernung bis hin zu Laurie, die, von unfassbarem Elend überwältigt, die Hände ins Haar gekrallt, den Kopf in den Nacken geworfen, ihren Kummer hinausschrie.

Vor ihr im Gras lag ausgestreckt ein Mann. Obwohl Jennsen das Gesicht bei dieser Dunkelheit nicht erkennen konnte, war nur allzu offensichtlich, um wen es sich handeln musste.

Jennsen zog das Messer mit dem Silbergriff aus der Scheide an ihrer Hüfte.

Just in diesem Moment tauchten die dunklen Umrisse eines großen Mannes mit einem Schwert in der Hand aus der Dunkelheit auf. Wahrscheinlich hatte er Lauries Mann umgebracht und sich danach irgendwo in der Nähe hingekauert, um auszuspähen, ob sich noch eine weitere Person dem Grabmal näherte.

Als sie bei Laurie anlangte - aber noch ehe sie die junge Frau aus dem Weg stoßen konnte -, schwang der Mann sein Schwert. Der dunkle, undeutliche Schatten der Klinge schlitzte Laurie die Kehle auf und hätte sie um ein Haar enthauptet. Spritzer warmen Blutes klatschten Jennsen seitlich gegen das Gesicht.

Das Grauen wich augenblicklich ihrem aufblitzenden Zorn. Erwartet hatte sie vielleicht Angst oder Panik, doch was urplötzlich in ihr hochstieg, war glühend heiße Wut, ein Zorn, den sie zum ersten Mal verspürt hatte, als vor langer Zeit plötzlich irgendwelche Fremde wie aus dem Nichts aufgetaucht waren und ihre Mutter brutal umgebracht hatten.

Noch ehe das Schwert seinen mörderischen Hieb vollendet hatte, sprang Jennsen aus dem Dunkel hervor, warf sich auf den Mann und rammte ihm ihr Messer mitten in die Brust. Er konnte nicht einmal überrascht zurückweichen, da hatte sie es bereits wieder herausgezogen, mit festem Griff gepackt und ihm dreimal in schneller Folge in den Hals gestochen. Immer noch wie eine Furie auf ihn einstechend, folgte sie ihm hinunter bis zum Boden und ließ erst von ihm ab, als sein Atem röchelnd zum Erliegen kam.

In der plötzlichen Stille versuchte sie keuchend wieder zu Atem * zu kommen, bemüht, sich vom Schock der Ereignisse nicht völlig lähmen zu lassen. Wenn es einen Posten gab, gab es vermutlich auch noch mehr. Sie wusste sicher, dass sich jemand unten in der Grabstätte befand, und das bedeutete, dass sie sich von der Stelle entfernen musste, wo Laurie eben noch geschrien hatte.

Sie erteilte sich selbst den Befehl, sich von der Stelle zu rühren. Bewegung war jetzt ihre beste Verteidigung, sie bedeutete Überleben. Den Oberkörper tief geduckt, begann sie, sich seitlich fortzuschleichen, stets ein Auge auf dem Lichtstrahl, der aus der Grabstätte drang, stets Ausschau haltend, ob jemand aus dem Grab hervorkam, um nach dem Lärm zu sehen, der die Toten entdecken würde.

Plötzlich tauchte aus dem Schwarz der Nacht ein zweiter Mann auf und wuchs unmittelbar vor ihr aus dem Gras.

Jennsen wechselte den Griff am Messer und fasste es wie zum Kampf. Mit wild pochendem Herzen blickte sie um sich, ob noch aus einer anderen Richtung Gefahr drohte.

Sie ignorierte den Befehl des Mannes, stehen zu bleiben, und täuschte eine rasche Linksbewegung an. Als er sich in diese Richtung warf und sie zu packen versuchte, wälzte sie sich stattdessen nach rechts. Angelockt von den Schreien des zweiten, tauchte ein weiterer Mann aus der Dunkelheit auf und schnitt ihr den Fluchtweg zu dieser Seite hin ab. Der Lichtschein aus der Grabstätte spiegelte sich matt auf den Gliedern des Kettenhemdes, das seine Brust bedeckte, und auf der Axt in seiner fleischigen Faust. Das Haar hing ihm in langen, fettigen Strähnen bis über die Schultern.

Sie ermahnte sich, an sein Kettenhemd zu denken, falls sie gezwungen sein würde, sich gegen ihn zu wehren. Gegen eine solche Panzerung war ihr Messer mehr oder weniger nutzlos. Sie musste eine verwundbare Stelle finden. Erst jetzt dämmerte ihr, welches Glück sie gehabt hatte, dass der Soldat, mit dem sie gekämpft und der Laurie getötet hatte, keinen Kettenpanzer getragen hatte.

Sie verspürte den verzweifelten Drang, kehrtzumachen und in blinder Panik fortzulaufen, wusste aber, dass dies ein Fehler wäre. Weglaufen weckte den Jagdinstinkt. Einmal geweckt, ergriff er von solchen Männern so vollends Besitz, dass sie nicht mehr haltmachen würden, bis sie ihre Beute erlegt hätten.

Beide Soldaten erwarteten, dass sie in die für sie scheinbar offene Richtung laufen würde - nach links. Stattdessen hielt sie genau auf sie zu, in der Absicht, zwischen ihnen hindurchzuschlüpfen und ihrer sich schließenden Zange zu entgehen. Der nähere der beiden, von dem sie wusste, dass er einen Kettenpanzer trug, hatte seine Axt zum Schlag bereit. Noch bevor er ausholen und zuschlagen konnte, schlitzte sie ihm die Innenseite seines entblößten Armes auf. Unmittelbar oberhalb des Handgelenks durchtrennte ihre rasiermesserscharfe Klinge die Muskeln seines Unterarms. Das leise Schnappen der unter Spannung stehenden Sehnen war nicht zu überhören.

Er stieß einen Schrei aus. Außerstande, seine Axt länger festzuhalten, ließ er sie fallen. Jennsen packte sie, tauchte unter dem zweiten Kerl weg, als dieser sich auf sie warf, wirbelte herum und schlug sie ihm im Vorüberfliegen in den Rücken.

Dann krabbelte sie auf allen vieren davon, während sich der eine seinen unbrauchbaren rechten Arm hielt und der andere mit einem Axtgriff im Kreuz zu ihr herumfuhr. Immer noch auf sie zuhaltend, wankte er ein paar Schritte, ehe er nach Atem japsend auf ein Knie sank. Das gurgelnde Geräusch seines Atems verriet ihr, dass sie zumindest seine Lunge durchbohrt haben musste. Da klar war, dass er in diesem Zustand nicht mehr kämpfen konnte, richtete sie ihr Augenmerk auf etwas anderes. Dies war ihre Chance zu fliehen. Sie ergriff sie ohne Zögern. Fast augenblicklich türmte sich eine Wand aus Soldaten vor ihr auf. Jennsen blieb abrupt stehen. Urplötzlich kamen sie von allen Seiten. Aus den Augenwinkeln sah sie durch den Lichtschein husehende Schatten, als Gestalten aus dem Innern des Grabmals nach draußen hasteten.

»Entscheide dich«, meinte der Mann genau vor ihr mit barscher Stimme.

»Dich abzustechen wäre uns ein Vergnügen. Andernfalls schlage ich vor, du gibst mir einfach das Messer.«

Jennsen erstarrte, wog ihre Chancen ab. Ihr Verstand schien ihr den Dienst zu versagen.

In der Ferne konnte sie sich vor dem Licht als Umrisse abzeichnende Gestalten sehen, die aus der Grabstätte in ihre Richtung gelaufen kamen. Der Mann streckte ihr die Hand entgegen. »Das Messer«, wiederholte er drohend.

Jennsen schwang den Arm herum und durchbohrte ihm die Handfläche. Im selben Moment, da er zurückzuckte, riss auch sie die Klinge zurück, so dass sie seine Hand zwischen den beiden mittleren Fingern teilte. Während die Nachtluft von einem Schwall von Verwünschungen widerhallte, ergriff sie die Gelegenheit beim Schopf und schlüpfte durch die größte Lücke im Ring aus Soldaten in das dahinterliegende Dunkel. Sie hatte kaum drei Schritte zurückgelegt, als sich ein Arm um ihre Hüfte legte und sie so abrupt zurückriss, dass ihr die Luft hörbar aus den Lungen gepresst wurde. Der Soldat zog sie zu sich an seine Lederrüstung. Jennsen rang nach Atem.

Bevor er ihre wild um sich schlagenden Arme bändigen konnte, bohrte sie ihm die Klinge in den Oberschenkel. Die Spitze stieß gegen den Knochen und blieb stecken. Unter lautem Fluchen gelang es ihm schließlich, ihre Arme zu fassen zu bekommen und sie ihr seitlich an den Körper zu pressen.

Tränen der Angst und Verzweiflung stachen ihr in den Augen. Sie würde sterben, hier, mitten auf einem Friedhof - und ohne jemals Tom wiederzusehen. Nichts sonst war ihr in diesem Moment wichtig, nichts sonst zählte. Nie würde er erfahren, was ihr widerfahren war, nie würde sie ihm ein letztes Mal ihre Liebe gestehen können. Mit einem Ruck zog der Soldat das Messer aus seinem Bein. Sie unterdrückte ein Schluchzen über ihren ungeheuren Verlust, den Verlust all dieser Menschen.

Sie erwartete, dass die Männer sie in Stücke reißen würden, doch ehe es dazu kommen konnte, erschien jemand mit einer Laterne. Es war eine Frau, die außer der Laterne noch etwas anderes in der Hand hielt. Sie blieb vor Jennsen stehen, legte die Stirn in Falten und verschaffte sich einen Überblick über die Situation.

»Seid still«, wies sie den Soldaten zurecht, der sich fluchend noch immer seine blutverschmierte Hand hielt.

»Das Miststück hat mich in die Hand gestochen!«

»Und mich ins Bein!«, setzte der Kerl hinzu, der Jennsen festhielt. Die Frau blickte kurz zu den nahebei liegenden Körpern hinüber. »Sieht ganz so aus, als könntet ihr noch von Glück reden.«

»Schon möglich«, murmelte der, der Jennsen hielt, schließlich. Unter ihrem unerbittlichen Blick war ihm sichtlich unbehaglich zumute.

»Und mir hat sie die Hand fast entzweigeschnitten!«, warf der dritte ein, offenbar noch immer nicht gewillt, die Gleichgültigkeit der Frau gegenüber ihren Schmerzen einfach hinzunehmen. »Dafür wird sie bezahlen!«

Die Frau warf ihm einen vernichtenden Blick zu. »Du hast nur eine Aufgabe: den Zielen der Imperialen Ordnung zu dienen. Wie willst du das schaffen, wenn du ein Krüppel bist? Jetzt halt den Mund, oder ich denke nicht mal daran, dich zu heilen.«

Als er in stummem Einverständnis den Kopf hängen ließ, löste die Frau schließlich ihren zornigen Blick und richtete ihr Augenmerk auf Jennsen. Die Laterne höher haltend, beugte sie sich ein wenig vor, um Jennsens Gesicht besser betrachten zu können. In diesem Moment erkannte Jennsen, dass der andere Gegenstand in ihrer Hand ein Buch war, wahrscheinlich eines, das sie aus dem geheimen Lager gestohlen hatte.

»Erstaunlich«, meinte sie wie zu sich selbst, während sie Jennsens Augen betrachtete. »Da stehst du genau vor mir, und doch sagt mir meine Gabe, du bist gar nicht da.«

Jennsen dämmerte, dass die Frau eine Hexenmeisterin sein musste, vermutlich eine der Schwestern in Jagangs Diensten. Die Kräfte einer solchen Frau oder eines anderen, der Magie besaß, vermochten ihr unmittelbar nichts anzuhaben, was allerdings unter den gegebenen Umständen nicht hieß, dass sie ihr nicht gefährlich werden konnte. Schließlich war keine Magie vonnöten, um den Soldaten den Befehl zu geben, sie zu töten.

Die Frau begutachtete das Messer und betrachtete das Zeichen auf dem Griff. Ihre Miene verfinsterte sich, als sie die Bedeutung des verzierten Buchstabens »R«, das Symbol des Hauses Rahl, erblickte, der in den silbernen Griff eingraviert war.

Als sie ihre Augen wieder zu Jennsen hob, waren sie erfüllt von grimmiger Erkenntnis. Überraschenderweise ließ sie das Messer fallen. Es blieb zu ihren Füßen im Boden stecken, als sie sich mit den Fingern einer Hand an die Stirn fasste und dabei zusammenzuckte, als hätte sie Schmerzen. Stumm wechselten die Soldaten einen Blick. Als sie erneut aufblickte, war ihr Gesicht ausdruckslos. »Sieh einer an, wenn das nicht Jennsen Rahl ist.« Ihre Stimme war wie verwandelt, sie klang tiefer und enthielt einen bedrohlich maskulinen Unterton. Jetzt war es an Jennsen, verwundert die Stirn zu runzeln. »Ihr kennt mich?«

»Aber ja, Schätzchen, und wie ich dich kenne«, antwortete die Frau plötzlich mit tiefer, heiserer Stimme. »Ich meine mich zu erinnern, du hättest mir geschworen, Richard Rahl zu töten.«

Jetzt begriff sie. Dies war Kaiser Jagang, der sie mit den Augen dieser Frau sah, der Traumwandler.

»Und was ist aus deinem Versprechen geworden?«, fragte sie mit einer Stimme, die eindeutig nicht die ihre war. Auch waren ihre Bewegungen marionettenhaft und schienen ihr starke Schmerzen zu bereiten. Jennsen war nicht sicher, ob sie nun mit dieser Frau oder mit Jagang sprach. »Ich habe versagt.«

Die Lippen der Frau verzogen sich spöttisch. »Versagt?« »Richtig. Ich habe versagt.« »Und was ist mit Sebastian?« Jennsen schluckte. »Er ist gestorben.«

»Gestorben«, äffte die Stimme sie nach. Die Frau trat einen Schritt näher, neigte den Kopf zur Seite und musterte sie mit einem wütenden Blick. »Und wie ist er gestorben, Schätzchen?«

»Durch seine eigene Hand.«

»Und warum sollte jemand wie Sebastian sich selbst das Leben nehmen?«

Hätte der hünenhafte Soldat sie nicht an seine Brust gepresst, Jennsen wäre einen Schritt zurückgewichen. »Vermutlich war es seine Art zu sagen, dass er nicht länger ein Stratege des Kaisers und der Imperialen Ordnung sein wollte. Vielleicht hatte er erkannt, dass sein Leben unrettbar vertan war.«

Die Frau funkelte sie an, enthielt sich aber einer Bemerkung. Nun bemerkte Jennsen den matten, goldenen Schimmer, der von dem Buch in der Hand der Frau mit der Laterne ausging, und konnte eben gerade den in verblassten, abgenutzten Buchstaben aufgeführten Titel erkennen.

Das Buch der gezählten Schatten stand dort zu lesen. Ein Tumult bewog alle, sich herumzudrehen. Einige Soldaten hatten alle Hände voll zu tun, weitere Gefangene herbeizuschleifen. Als sie in den Lichtkreis traten, verließ Jennsen aller Mut. Die Soldaten hatten Anson, Owen und dessen Frau Marilee in Gewahrsam. Alle drei sahen übel mitgenommen aus und waren blutverschmiert.

Die Frau bückte sich und hob Jennsens Messer auf.

»Seine Exzellenz hat entschieden, dass er möglicherweise Verwendung für diese Leute hat«, erklärte sie im Aufrichten, ehe sie mit dem Messer auf sie wies. »Nehmt sie mit.«

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