51

Rachel hockte immer wieder einnickend im Dunkeln an eine Steinmauer gelehnt da, als sie draußen vor der Zelle ein Geräusch hörte, das sie den Kopf heben ließ. Sie richtete sich auf und lauschte. Es klang wie ferne Schritte.

Sie ließ sich wieder gegen die kalten Steine sinken. Vermutlich war es Sechs, die kam, um sie in die Höhle zurückzubringen und sie dort Zeichnungen anfertigen zu lassen, um Menschen wehzutun. In der gemauerten, vollkommen leeren Zelle war es unmöglich fortzulaufen oder sich zu verstecken.

Sie wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte, wenn Sechs ihr befahl, all die schrecklichen Dinge zu zeichnen, die Menschen wehtun würden. Sie wollte das nicht, wollte keine Zeichnungen anfertigen, die Unschuldigen Schaden zufügten, wusste aber, die Hexe verfügte über Mittel und Wege, sie dazu zu zwingen. Sie fürchtete sich vor Sechs.

Es gab kein grauenhafteres Gefühl, als mit jemandem allein zu sein, der einem etwas antun wollte, und zu wissen, dass man nicht das Geringste dagegen machen konnte.

Bei der Vorstellung, was ihr bevorstand, was Sechs ihr antun würde, kamen ihr die Tränen. Sie wischte sie fort und versuchte, sich einen – irgendeinen - Ausweg zu überlegen.

Sie hatte die Hexe schon eine Weile nicht mehr zu Gesicht bekommen. Vielleicht war sie es ja gar nicht, sondern einer ihrer Bewacher, der ihr etwas zu essen brachte. Ein paar von ihnen kannte sie noch von früher, als Königin Milena noch gelebt hatte - allerdings nicht namentlich, sie erinnerte sich aber, sie damals gesehen zu haben.

Andere hingegen waren ihr völlig unbekannt, wahrscheinlich Soldaten der Imperialen Ordnung. Die alten Gardesoldaten waren nie gemein zu ihr gewesen, diese neuen Soldaten jedoch waren anders. Sie sahen wüst aus, und wenn sie sie mit ihren Blicken musterten, wusste sie einfach, dass sie sich in ihrer Phantasie die widerwärtigsten Dinge ausmalten, die sie ihr anzutun gedachten. Sie sahen nicht so aus, als würden sie sich von irgendjemandem davon abbringen lassen - außer vielleicht von Sechs, der sie stets aus dem Weg gingen. Diese beachtete sie nicht weiter, da sie offenbar exakt das von ihnen erwartete.

Rachel allerdings maßen sie mit ihren Blicken auf eine Weise, dass ihr das Mark in den Knochen gefror. Sie hatte Angst, von ihnen allein erwischt zu werden, wenn Sechs nicht dabei war, die sie ihr vom Leibe hielt. Allerdings war die Vorstellung, dass Sechs auf dem Weg hierher war, um ihr etwas anzutun, auch nicht eben besser.

Damals, noch zu Lebzeiten Königin Milenas, war ihr das Leben im Schloss stets verhasst gewesen. Die meiste Zeit hatte sie in steter Angst gelebt, ständig hatte sie Hunger gehabt.

Aber dies war anders, schlimmer - und das hätte sie niemals für möglich gehalten.

Aufmerksam lauschte sie auf die näher kommenden Schritte draußen und erkannte, dass es nicht die Schritte von Männerstiefeln waren, sondern leichtere - die einer Frau.

Demnach konnte es nur Sechs sein. Demnach war dies der Tag, den sie die ganze Zeit gefürchtet hatte. Sechs hatte ihr angedroht, sie bei ihrer Rückkehr für sich zeichnen zu lassen.

Der Schlüssel drehte sich scheppernd im Schloss. Rachel presste sich gegen die Wand hinter ihrem Rücken und wäre am liebsten fortgelaufen, doch wohin? Kreischend öffnete sich die schwere Eisentür, und der Schein einer Laterne drang in Rachels steinernes Gefängnis. Eine Gestalt mit einer Laterne in der Hand schwebte herein. Dann sah sie das Lächeln und blinzelte fassungslos. Ihre Mutter! Im Nu sprang Rachel auf und stürzte, das Gesicht plötzlich tränenüberströmt, auf die Frau zu und schlang ihr die Arme um die Hüften. Sie spürte, wie tröstliche Hände sie liebevoll in die Arme schlossen. Die Umarmung war so unerwartet, dass sie vor Freude zu weinen anfing.

»Ruhig, ganz ruhig. Jetzt ist alles in Ordnung, Rachel.«

Und sie wusste, dass es stimmte. Jetzt, da ihre Mutter da war, war plötzlich alles in Ordnung. Die schrecklichen Soldaten, die Hexe, das alles zählte nicht mehr. Jetzt war alles wieder gut.

»Danke, dass du gekommen bist«, sagte sie unter Tränen. »Ich hatte solche Angst.«

Ihre Mutter ging in die Hocke und zog sie fest an sich. »Wie ich sehe, hast du benutzt, was ich dir bei unserer letzten Begegnung gegeben habe.«

Rachel nickte an der Schulter ihrer Mutter. »Es war meine Rettung. Die Kreide hat mir das Leben gerettet. Danke.«

Sie spürte, wie eine tröstliche Hand ihren Rücken tätschelte, während sich ihre Mutter leise lachend über ihre hemmungslose Freude amüsierte.

Plötzlich löste sich Rachel aus der Umarmung. »Wir müssen fort, ehe diese schreckliche Hexe zurückkommt. Außerdem sind hier Soldaten – gemeine Kerle, die dich auf keinen Fall sehen dürfen. Sie könnten dir schreckliche Dinge antun.«

Ihre Mutter betrachtete sie, ein strahlendes Lächeln im Gesicht. »Im Augenblick sind wir in Sicherheit.«

»Aber wir müssen von hier fort.«

Immer noch lächelnd, nickte ihre Mutter. »Ja, das müssen wir. Aber vorher musst du etwas für mich tun.«

Rachel unterdrückte ihre Tränen. »Was immer du willst. Du hast mir das Leben gerettet. Das Stückchen Kreide hat mich vor den gespenstischen Kobolden gerettet. Sie hätten mich sonst glatt in Stücke gerissen.«

Ihre Mutter legte ihr die Hand an die Wange. »Das hast du ganz alleine vollbracht, Rachel. Du hast von deinem Verstand Gebrauch gemacht und dir selbst das Leben gerettet. Ich habe dir nur ein wenig dabei geholfen, als ich merkte, dass du Hilfe brauchst.«

»Aber es war doch genau die Hilfe, dich ich brauchte.«

»Ich bin so froh, Rachel. Aber jetzt brauche ich deine Hilfe.«

Rachel zuckte die Achseln. »Aber wie könnte ich dir helfen? Dafür bin ich doch viel zu klein.«

Ihre Mutter lächelte, auf eine Weise, die sie stutzig machte. »Du hast genau die richtige Größe.«

Rachel konnte sich nicht vorstellen, wofür sie die richtige Größe haben sollte. »Um was geht es denn?«

Ihre Mutter nahm die Laterne auf und erhob sich, dann bot sie Rachel ihre Hand. »Komm, ich werde es dir zeigen. Du musst eine sehr wichtige Nachricht überbringen, um jemanden zu retten.«

Als sie in den steinernen Gang hinaustraten, konnte man im Lichtschein ihrer Laterne erkennen, dass er menschenleer war. Die Gardisten waren nirgendwo zu sehen.

Rachel gefiel der Gedanke, jemandem zu helfen. Sie wusste, was es hieß, Angst zu haben und auf Hilfe angewiesen zu sein.

»Ich soll eine Nachricht überbringen?«

»Ganz recht. Ich weiß, du bist sehr tapfer, aber du darfst dich nicht fürchten vor dem, was du gleich sehen wirst. Da ist nichts, wovor man sich fürchten müsste, versprochen.«

Während sie den Gang entlangeilten, wuchs ihre Sorge. Ihre Mutter hatte ihr geholfen, und nun wollte sie ihr den gleichen Gefallen tun. Trotzdem, es klang, als könnte es beängstigend sein. Wenn einem jemand erklärte, man solle keine Angst haben, bedeutete das für gewöhnlich, dass da etwas Furchterregendes war. Trotzdem, schlimmer als die gemein aussehenden Männer, die sie mit ihren Blicken musterten, oder als die Hexe konnte es kaum sein.

Chase hatte ihr beigebracht, dass Angst etwas ganz Normales sei, dass man sie aber überwinden müsse, um sich selbst zu helfen. Angst, sagte er immer, könne einen nicht retten, wohl aber ihre Überwindung. Rachel blickte auf zu ihrer wunderschönen Mutter. »Für wen ist die Nachricht?«

»Sie soll einem Freund helfen. Richard.« »Richard Rahl? Du kennst Richard Rahl?«

Ihre Mutter sah nach unten. »Du kennst ihn, darauf kommt es an. Du weißt, dass er allen zu helfen versucht.« Sie nickte. »Das stimmt.«

»Nun, er wird Unterstützung brauchen. Du musst ihm eine Nachricht von mir überbringen, damit wir dafür sorgen können, dass er die nötige Unterstützung auch bekommt.«

»Einverstanden. Ich helfe ihm gern. Ich liebe Richard.«

Ihre Mutter nickte. »Gut. Er hat deine Liebe auch verdient.«

Vor einer schweren Tür blieb sie zögernd stehen, drückte dann Rachels Hand. »Hab jetzt keine Angst, einverstanden?«

Rachel, Schmetterlinge im Bauch, sah ihre Mutter aus großen Augen an.

»Einverstanden.«

»Da ist nichts, wovor man sich fürchten muss. Versprochen. Außerdem bin ich ja bei dir.«

Rachel nickte. Dann stieß ihre Mutter die Tür in die kalte Nachtluft auf. Durch die Türöffnung konnte Rachel sehen, dass der Mond am Himmel stand, und weil sie in ihrer düsteren Zelle nur das Licht einer Lampe gesehen hatte, konnte sie draußen alles einigermaßen gut erkennen. Es schien ein von steinernen Mauern umgebener Innenhof zu sein, groß genug nicht nur für Büsche, sondern sogar für Bäume. Zusammen traten sie hinaus in die frostige Dunkelheit. Dann erblickte sie die leuchtend grünen Augen, die auf sie herabstarrten, und erstarrte.

Der Atem blieb ihr in der Kehle stecken und verhinderte so, dass der in ihrem Innern aufgestaute Schrei hervorbrach.

Gewaltige Flügel öffneten und spreizten sich, und da der Mond sie von hinten beschien, konnte sie die Adern in der über den Flügeln gespannten Haut pulsieren sehen.

Ein Gar.

Rachel wusste einfach, im nächsten Augenblick würde die Bestie sie beide in Stücke reißen.

»Hab keine Angst, Rachel«, sagte ihre Mutter mit begütigender Stimme. Rachel war außerstande, ihre Beine zu bewegen. »Was?«

»Das ist Gratch. Gratch ist ein Freund von Richard.« Sie wandte sich der mörderischen Bestie zu, legte ihr eine Hand auf den pelzigen Arm und streichelte sie beruhigend. »Nicht wahr, Gratch?«

Das Maul klaffte auf. Riesige Reißzähne schimmerten im Schein der Laterne. Sein dampfender Atem drang zischend zwischen diesen Fängen hervor und stieg in die kalte Luft.

»Grrratch liiieb Raaaach aaarg«, knurrte die Bestie. Rachel war fassungslos. Genau genommen war es gar kein Knurren, vielmehr hatte es fast so wie Worte geklungen.

»Hat er etwa gerade gesagt, er liebt Richard?«

Gratch nickte eifrig, und Rachels Mutter ebenso.

»Ganz recht. Gratch liebt Richard, genau wie du.«

»Grrratch liiieb Raaach aaarg«, wiederholte die Bestie. Diesmal konnte Rachel sie schon besser verstehen.

»Gratch ist hier, um Richard zu helfen. Aber dich brauchen wir auch.«

Endlich löste Rachel den Blick von der riesigen Bestie und sah zu ihrer Mutter.

»Aber was kann ich denn tun? Ich bin nicht so groß wie Gratch.« »Nein, bist du nicht. Genau deswegen kann er dich tragen. Und auf diese Weise kannst du deine Nachricht überbringen.«

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