20

Angesichts der zahllosen tödlichen Auseinandersetzungen, in denen sie sich schon befunden hatte, wusste Nicci, dass Weglaufen in diesem Moment ein Fehler gewesen wäre. Stattdessen hob sie eine Hand über Anns Schulter, beschwor jeden Funken dunkler Magie herauf, den sie besaß, und überließ sich ganz dem Austeilen ungezügelter Gewalt gegen die drei Frauen weiter vorn im Flur.

Im selben verwirrenden Moment, da sie das Versagen dieser dynamischen Verbindung gewahrte und sich nichts tat, wurde ihr bewusst, dass ihre Kraft im Palast des Volkes weitgehend nutzlos war. Angst legte sich wie ein schweres Gewicht auf sie.

Weiter vorn im Flur zündete ein Lichtblitz, in der Enge des Flurs ein durchdringendes Geräusch von ohrenbetäubender Lautstärke. Der gleißend helle Lichtbogen nahm ihr fast vollständig die Sicht. Verwoben mit dem Gleißen des Lichtblitzes waren dunkle Stränge tiefster Schwärze, eine Mischung, die bei jeder Berührung knisterte und knallte. Funken stoben, die Luft brannte. Das subtraktive Element war von einer solchen Schwärze, dass es eine Leere im Sein zu sein schien - was es im Grunde auch war.

Im Fußboden, Decke und Wände bedeckenden Marmor bildeten sich bei der Berührung schartige Risse. Gesteinssplitter schössen durch den Flur, sirrten allenthalben als Querschläger umher. Marmorstaub wallte auf, als die Luft höchstselbst von der gewaltigen Wucht dieser Kraftentladung erschüttert wurde. Der Druck blies die Flammen mehrerer Fackeln in der Nähe aus.

Trotz ihrer eingeschränkten Kräfte besaß Nicci im Augenblick der Verbindung mit ihrem Han noch genügend Kontrolle über ihre Gabe, um die vertraute Veränderung in ihrem Zeitgefühl zu spüren. Ihre Arme und Beine fühlten sich an, als wären sie aus Blei. Die Welt am Ende ihres Tunnelblicks schien nahezu völlig zum Stillstand zu kommen. Sie konnte jeden durch den verrauchten Flur auf sie zuschießenden Gesteinsbrocken in der Luft taumeln sehen und hätte reichlich Zeit gehabt, all die Splitter, Brocken und Körnchen zu zählen, die rotierend durch die Luft wirbelten. Unterdessen peitschte der Lichtblitz mit ungestümer Heftigkeit und doch unendlich langsam hin und her und hinterließ auf Niccis Netzhaut ein verwirrendes Nachglühen. Der Blitz ließ das Mauerwerk aufplatzen, wo immer er es berührte. Gleichzeitig mit der Verlangsamung der Welt begann ihr rasender Verstand nach einer Möglichkeit zu suchen, das Unausweichliche doch noch abzuwehren. Doch ihr zauberisches Talent enthielt nichts, was diese zu einer solch todbringenden Mischung aus additiver und subtraktiver verwobene Magie hätte aufhalten können, einer Magie von solcher Macht, dass sie durch das Mauerwerk bis in das Muttergestein drang und die Luft zum Sieden brachte.

Als sich der Strang flüssigen Lichts ungehindert durch den Flur wand, warf sich Ann vor sie. Nicci wusste nur zu gut, was ihnen bevorstand. Sie kannte das Wesen der drei Frauen, die ihnen gegenüberstanden, kannte die todbringende Kraft, die sie entfesselt hatten.

Da keine Zeit blieb, irgendeinen Befehl zu brüllen, versuchte die Prälatin sie mit ihrer ausgestreckten Hand zu packen und zu Boden zu reißen, wo sie in Sicherheit wäre. Sie bekam das graue Kleid zu fassen, und ihre Finger begannen den unendlich langwierigen Prozess des SichSchließens.

Es war ein Wettlauf zwischen dem Wunsch nach einem festen Griff und dem flackernden, scheinbar völlig außer Kontrolle geratenen Blitz. Doch Nicci wusste, völlig außer Kontrolle war er keineswegs. Die knisternde Entladung zuckte zur Seite und prallte direkt in die kleinwüchsige Frau. Der gleißend helle Lichtblitz ging glatt durch sie hindurch und trat am Rücken wieder aus. Der Aufprall erfolgte mit solcher Heftigkeit, dass die Prälatin mühelos Niccis hartnäckigem Griff entrissen wurde.

Anns untersetzter Körper prallte so hart gegen die Wand, dass die Marmorplatte einen Riss bekam, ein Aufprall, der ihr zweifellos jeden Knochen im Leib gebrochen haben musste.

Nicci konnte jedoch sehen, dass Annalina Aldurren bereits vor dem Zusammenstoß mit der Wand tot gewesen sein musste.

Unvermittelt fiel der Lichtblitz in sich zusammen. Von dem Donnergrollen klangen Nicci die Ohren, das Nachglühen brannte auf ihrer Netzhaut.

Ann, die toten Augen starr, glitt zu Boden und kippte mit dem Gesicht voran auf den Fußboden. Eine immer größer werdende Blutlache breitete sich unter ihrem Körper aus und ergoss sich über die weiße Marmorfläche.

Die drei Frauen standen, drei auf einem abgestorbenen Zweig kauernden Aasgeiern gleich, Schulter an Schulter weiter vorne im Flur und ließen Nicci nicht aus den Augen.

Sie wusste, wieso sie geschafft hatten, was ihr verwehrt geblieben war:

Sie hatten ihre Kräfte miteinander gekoppelt, als Einheit gehandelt und es auf diese Weise gerade eben geschafft, ihre Kraft auch innerhalb des Palasts zu wirken.

Was sie nicht wusste, war, wie sie hereingekommen waren. Jeden Augenblick erwartete sie ein weiteres Zünden des Lichtblitzes, der ihr das gleiche Schicksal wie Ann bescheren würde. Es hatte einmal eine Zeit gegeben, da wäre es ihr egal gewesen, ob sie umkam oder nicht, aber mittlerweile hatte sich das geändert. Nun war es ihr alles andere als egal. Sie bedauerte, vor ihrem Ende keine Gelegenheit mehr zur Gegenwehr zu haben. Wenigstens würde es rasch vorüber sein.

Ein boshaftes Lächeln ging über Schwester Arminas Züge. »Nicci, meine Teure. Wie schön, Euch wiederzusehen.«

»Ihr befindet Euch in schlechter Gesellschaft«, meinte Schwester Julia, gleich rechts neben Schwester Armina.

Die stämmige Schwester Greta, unmittelbar links von ihr, hatte ein böses Funkeln in den Augen.

Alle drei waren Schwestern der Finsternis. Während Schwester Armina sich - zusammen mit Schwester Ulicia, Cecilia und Tovi - von Jagang befreit hatte, um zu viert den Feuerkettenbann auszulösen, Kahlan gefangen zu nehmen und die Kästchen der Ordnung ins Spiel zu bringen, waren die Nicci ebenfalls wohlbekannten Schwestern Julia und Greta schon seit langem Gefangene Jagangs. Dass Schwester Armina jetzt bei ihnen war, ergab keinen Sinn.

Mangels Zeit, über die Bedeutung dieses Umstands nachzudenken, entschied Nicci, dass sie, wenn sie schon sterben musste, dies nicht kampflos tun würde. Unvermittelt schleuderte sie ihren Arm herum und wirkte den stärksten Schild, dessen sie fähig war. Sie wusste, wie erbärmlich schwach er ausfallen würde, und hoffte, er würde gerade lange genug standhalten. Dann rannte sie in die entgegengesetzte Richtung los - zurück zur Treppe.

Sie war kaum drei Schritte weit gekommen, als ein Strang aus verdichteter Luft ihr mit einer peitschenden Bewegung die Füße unter dem Körper wegriss. Sie schlug hart auf den Boden. Ihr Schild hatte sich offenkundig gegen die gekoppelten Kräfte der drei als nutzlos entpuppt. Nur war sie ein wenig erstaunt, dass sie nicht dieselbe tödliche Kraft eingesetzt hatten wie gegen Ann. Nicht gewillt, diesen Gedanken, oder was nun kommen mochte, zu vertiefen, wälzte sie sich nach links und kam wieder auf die Beine. Durch eine Öffnung stürzte sie in einen anderen Flur, die Schritte der ihr hinterhereilenden Schwestern bereits in den Ohren.

Die schmucklosen, unmöblierten Flure aus glattem weißen Marmor boten keinerlei Versteck. Wenn sie wegliefe, würden sie einfach einen Kraftblitz zünden und sie niederstrecken. Im Grunde hatte sie keine Chance, sie abzuschütteln und außer Reichweite ihrer Kraft zu gelangen. Doch da sie sie bereits verfolgten, gingen sie vermutlich davon aus, dass sie die Flucht ergreifen würde, also drückte sich Nicci gleich hinter der nächsten Ecke mit dem Rücken gegen die Wand, auf ebenjener Seite, die den dreien am nächsten war.

Japsend versuchte sie wieder zu Atem zu kommen und sich dabei so still wie irgend möglich zu verhalten. Von ihrem Standort aus war Anns Leichnam nicht zu sehen, wohl aber der leuchtend rote Blutfleck, der sich auf dem weißen Marmorboden ausbreitete.

Es war kaum zu glauben, dass Ann tot sein sollte. Eine Welt ohne Annalina Aldurren war eine lähmende Vorstellung.

Dann hörte sie die hastigen Schritte näher kommen und riss sich zusammen. Dies war nicht der rechte Augenblick für Trauer. Gewalt und Tod waren ihr zwar durchaus nicht fremd, doch mit dieser Art des Kampfes war Nicci nicht vertraut. Als Herrin des Todes hatte sie Tausende Tode miterlebt, hatte sie mehr Menschen getötet, als sie zu zählen oder sich in Erinnerung zu rufen vermochte, aber niemals hatte sie es mit bloßen Händen getan. Jetzt, ohne ihre Kraft, war dies ihre einzige Chance. Sie versuchte sich zu erinnern, wie Richard in diesem Fall vorgehen würde.

Als die drei um die Ecke gestürmt kamen, rammte sie der, die ihr am nächsten war, unter Aufbietung ihrer ganzen Kraft den Ellbogen ins Gesicht und vernahm das Geräusch abbrechender Zähne. Ihr Puls raste so schnell, dass sie den Aufprall am Ellbogen gar nicht spürte. Schwester Julia schlug der Länge nach auf den Rücken.

Sie lag noch nicht richtig, da stürzte sie sich auf Schwester Armina, packte sie bei den Haaren und schleuderte sie unter Ausnutzung ihres Vorwärtsschwungs mit dem Kopf voran gegen die Wand. Ihr Schädel gab ein hässliches Knacken von sich. Nicci hoffte, sie wenn schon nicht getötet, so doch zumindest bewusstlos geschlagen zu haben. Solange nur eine Schwester auf den Beinen stand, würde diese ihre Kraft nicht besser nutzen können als sie selbst.

Doch Schwester Armina war sehr wohl noch bei Bewusstsein und versuchte sich kreischend und Flüche ausstoßend zu befreien. Solange sie noch im Vorteil war, riss Nicci sie nach hinten, zog sie dann an den Haaren hoch und holte aus, um sie mit dem Gesicht voran gegen die Wand zu schmettern.

Doch dazu kam es nicht, denn nun warf sich die stämmige Schwester Greta in Niccis Flanke und rempelte sie zur Seite. Aufgrund ihres heranfliegenden Gewichts wurde Nicci so wuchtig gegen die Wand geschleudert, dass ihr die Luft wegblieb. Blindlings schlug sie nach der Frau, die sie zu Boden gerissen hatte, und versuchte, sie von sich herunterzuschieben.

Doch Schwester Greta hatte Niccis Taille fest im Griff. Sie wand sich zur Seite und konnte sie mühelos mit dem Gesicht voran zu Boden werfen. Schwester Armina, das Gesicht blutüberströmt, pflanzte ihr einen Stiefel auf die Brust. Neben ihr kam Schwester Greta schwer atmend wieder auf die Beine.

Ehe Nicci ihrem Beispiel folgen konnte, schoss ein stechender Schmerz durch ihren Körper und explodierte an ihrer Schädelbasis. Der Schock presste ihr den Atem aus den Lungen. Dank ihrer vereinten Gabe hatten die beiden keine Mühe, Nicci außer Gefecht zu setzen.

»Keine sehr elegante Art, deine Schwestern zu begrüßen«, bemerkte Schwester Greta.

Nicci versuchte die Schmerzen zu ignorieren und mit den Armen rudernd wieder auf die Beine zu kommen, doch Schwester Armina erhöhte den Druck ihres Fußes und jagte weitere spitze Schmerzenssignale durch ihren Körper. Den Rücken durchgebogen, die Muskeln zusammengezogen zu harten Knoten, schmolz Niccis Blickfeld zu einem winzigen Punkt am Ende eines langen schwarzen Tunnels. Sie krallte die Finger in den Fußboden und hatte nur einen Gedanken: Sie würde alles tun, nur damit es aufhörte.

»Ich schlage vor, du bleibst, wo du bist, oder, falls du das vorziehen solltest, wir erinnern dich daran, wie viel größere Schmerzen wir dir noch bereiten können.« Sie musterte sie mit hochgezogener Braue. »Nun?«

Nicci brachte kein Wort über die Lippen. Tränen der Qual rannen ihr aus den Augen, also nickte sie stattdessen.

Nun kam auch Schwester Julia stolpernd hinzu, beide Hände fest auf ihren Mund gepresst, während sie vor Schmerz und Wut heulte. Blut troff ihr in Fäden vom Kinn, bedeckte die Vorderseite ihres verblichenen, blauen Kleides und tropfte von ihren Ellbogen.

Schwester Armina, den Fuß noch immer auf Niccis Brust, beugte sich vor, stützte einen Arm auf ihre Knie und sagte mit einer Stimme, die nur zum Teil die ihre war: »Endlich wieder zurück bei uns, Schätzchen?«

Niccis Blut gefror schlagartig zu Eis.

Sie hatte sofort erkannt, dass es Jagangs Augen waren, die auf sie herabblickten.

Hätte sie nicht solche Schmerzen gehabt, es nicht nur mit knapper Not geschafft, überhaupt Luft zu bekommen, sie hätte gewiss die Flucht ergriffen, selbst wenn das ihren sofortigen Tod bedeutet hätte. Ein schneller Tod war diesen Qualen allemal vorzuziehen. Doch dazu war sie nicht imstande, also stellte sie sich stattdessen vor, wie sie Schwester Armina die Augen ausstieß - Jagangs Fenster.

»Dafür trete ich dir die Zähne ein«, presste Schwester Julia mit gedämpfter Stimme hinter ihrer vorgehaltenen Hand hervor. »Ich werd-«

»Halt den Mund«, fuhr Schwester Armina sie mit der grauenhaften Stimme an, die nur halb ihr gehörte, »oder ich erlaube nicht, dass sie dich heilen.«

Entsetzen blitzte in Schwester Julias Augen auf, als sie erkannte, dass es Jagang war, der zu ihr sprach. Sie verstummte.

Schwester Armina hielt ihr die Hand hin. »Gib ihn mir.«

Mit blutverschmierten Fingern förderte sie einen unerwarteten Gegenstand zutage, einen Gegenstand, der Nicci vor Angst den Atem stocken ließ. Sie gab ihn Schwester Armina.

Diese nahm ihren Fuß zurück, ließ sich auf ein Knie hinunter und beugte sich über die am Boden liegende Nicci. Nicci wusste, was nun kommen würde. Voller Panik sträubte sie sich mit aller Macht dagegen, doch es gelang ihr nicht, ihrem Körper eine Reaktion zu entlocken. Die kribbelnde Kraft, die sich durch ihre Nervenbahnen fraß, ließ ihre angespannte Muskulatur vollends erstarren.

Schwester Armina beugte sich vor und legte ihr einen bluttriefenden Ring um den Hals.

Nicci spürte, wie sich der Rada’Han mit einem Klicken schloss. Im selben Augenblick verlor sie die Verbindung zu ihrem Han. Sie war mit der Gabe geboren und schenkte ihr daher meist keine Beachtung. Doch nun war sie vollkommen von ihrem Talent getrennt, das, wie ihr Augenlicht oder Gehör, stets vorhanden war, und das sie stets benutzte, ohne je darüber nachzudenken. An seine Stelle trat nun eine erschreckende, ungewohnte Leere.

Die unvermittelte Abtrennung von ihrer Gabe hatte etwas Lähmendes. Ohne sie zu sein, war, als fehle ein Teil ihres Selbst, der Kern dessen, was ihr Wesen ausmachte.

»Auf die Beine«, befahl Schwester Armina.

Als der Schmerz endlich abebbte, sackte Niccis Körper kraftlos zusammen. Sie wusste nicht, ob ihre Muskeln ihr gehorchen würden, ob sie überhaupt die Kraft besitzen würde, sich zu erheben, kannte Schwester Armina aber gut genug, um nicht zu zögern. Sie wälzte sich herum und stemmte sich hoch auf Hände und Knie. Als sie sich nach Meinung der Schwester nicht schnell genug bewegte, fuhr ihr ein lähmender Schmerzensschock ins Kreuz. Sie unterdrückte einen Aufschrei, streckte gegen ihren Willen alle viere von sich und landete erneut flach auf dem Boden.

Schwester Greta schien ihren Spaß zu haben.

»Auf mit dir«, kommandierte Schwester Armina, »oder ich zeige dir, was wirkliche Schmerzen sind.«

Wieder stemmte sich Nicci mit Händen und Knien hoch und versuchte keuchend Luft zu holen. Tränen fielen auf den staubigen Boden. Klug genug, nicht länger zu zögern, kämpfte sie sich mühsam auf die Beine. Ihre Beine zitterten, aber sie schaffte es, sich aufrecht zu halten.

»Bringt mich einfach um«, stieß sie hervor. »Ich werde nicht kooperieren, ganz gleich, wie viel Schmerzen Ihr mir bereitet.«

Schwester Armina neigte den Kopf zur Seite und brachte ihr eines Auge ganz nah an sie heran. »Oh, Schätzchen, ich denke, da täuschst du dich.«

Wieder war es Jagang, der gesprochen hatte.

Ein blendender, flimmernder Schmerz, ausgelöst von dem Ring um ihren Hals, strömte durch ihr Innerstes. Der Schmerz war so überwältigend, dass sie auf die Knie sackte.

Es war nicht das erste Mal, dass sie Jagangs Folter über sich ergehen lassen musste. Doch wenn er früher in ihren Verstand eindrang, so wie jetzt in den dieser Schwester, hatte er ihr das Gefühl gegeben, er stoße ihr dünne Eisendorne tief in die Ohren, ehe er den Schmerz durch ihren Körper nach unten schießen ließ.

Dies war schlimmer.

In der sicheren Erwartung, ihr Blut aus Ohren und Nase rinnen und die Steinplatten bedecken zu sehen, starrte sie auf den Boden. Aber so sehr sie in ihrer unendlichen Qual auch blinzelte und keuchte, Blut war keines zu erkennen. Es wäre ihr lieber gewesen. Wenn sie nur genug blutete, würde das Leben aus ihr weichen.

Allerdings kannte sie Jagang gut genug, um zu wissen, dass er ihr nicht erlauben würde, einfach wegzusterben. Noch nicht.

Der Traumwandler mochte es nicht, wenn Menschen, die seinen Zorn erregten, eines schnellen Todes starben, und vermutlich gab es niemanden, den er ausgiebiger leiden lassen wollte als sie. Irgendwann würde er sie natürlich töten, aber zuerst würde er sich rächen und sie dann, nur um sie zu demütigen, eine Zeitlang seinen Männern überlassen, ehe er sie in die Folterzelte schickte. Diese Phase würde sich über einen langen Zeitraum erstrecken. Und wenn er schließlich ihrer Qualen überdrüssig wäre, würde sie ihre letzten Tage damit verbringen, dass man ihr die Eingeweide langsam durch einen Schlitz in der Bauchdecke entfernte. Dabei würde er zugegen sein wollen, um Zeuge ihres Todes zu sein und sich zu vergewissern, dass sein triumphierendes Lächeln das Letzte war, was sie vor ihrem Ende sah. In diesem Moment der Erkenntnis ihres Schicksals bedauerte sie nur eins: dass sie Richard niemals wiedersehen würde. Wenn sie ihn nur noch einmal sehen könnte, davon war sie überzeugt, würde sie ertragen können, was ihr nun bevorstand.

Schwester Armina trat näher, nah genug, um sicher zu sein, dass Nicci ihr überlegenes Lächeln sehen konnte. Jetzt hatte sie die Gewalt über den Ring um Niccis Hals, aber auch Jagang vermochte sie über diese Verbindung zu kontrollieren.

Zitternd und keuchend vor Schmerzen lag Nicci auf den Knien. Ihr Blick verdunkelte sich mehr und mehr, bis sie kaum noch etwas erkennen konnte. Ihr klangen die Ohren.

»Begreifst du jetzt, was dir blüht, wenn du uns nicht gehorchst?«, fragte Schwester Armina.

Nicci war nicht imstande zu antworten. Ihre Stimme versagte, allerdings brachte sie ein mattes Nicken zuwege.

Schwester Armina beugte sich über sie. Die Wunde in ihrer Kopfhaut hatte endlich zu bluten aufgehört. »Dann auf die Beine mit dir, Schwester.«

Zu guter Letzt ließ der Schmerz so weit nach, dass Nicci sich erheben konnte.

Sie wollte nicht aufstehen, sie wollte nur, dass man sie tötete. Doch das würde Jagang nicht zulassen. Er wollte sie selbst in die Finger bekommen.

Dann klärte sich ihr Sehvermögen allmählich und sie sah, dass Schwester Greta durch den Flur zurückgegangen war und Anns Taschen durchwühlte. Aus einer unter ihrem Gürtel verborgenen Tasche förderte sie einen Gegenstand zutage, betrachtete ihn kurz und hielt ihn dann in die Höhe.

»Ratet mal, was ich gefunden habe.« Sie schwenkte ihn hin und her, damit die beiden anderen ihn sehen konnten. »Sollen wir ihn mitnehmen?«

»Ja«, sagte Schwester Armina. »Aber beeil dich.«

Greta stopfte den kleinen Gegenstand in ihre Tasche und kehrte zu den beiden anderen zurück. »Sonst hatte sie nichts dabei.«

Schwester Armina nickte. »Wir sollten uns beeilen.«

Die drei standen Schulter an Schulter, den Blick den Flur entlang auf Ann gerichtet. Nicci konnte sehen, dass es ihnen trotz ihrer Verbindung Schwierigkeiten bereitete, von ihrer Kraft Gebrauch zu machen. Ohne den Bann des Palasts des Volkes, der ihr Han aufzehrte, hätte jede der drei allein mühelos die Kraft aufbieten können, die Ann getötet hatte. Die Luft knisterte, als die subtraktive Magie gezündet wurde. Das Licht in den Fluren wurde schwächer, und der Windstoß brachte noch ein paar weitere Fackeln zum Erlöschen. Eine tiefe Schwärze wogte durch den Gang auf die Prälatin zu und hüllte die Tote schließlich ein. Unter der erdrückenden Decke aus Schwärze raubte das Summen der Kraft Nicci vorübergehend abermals das Sehvermögen.

Als es wiederkehrte, war Ann nicht mehr da, und selbst ihr Blut, jeder Hinweis auf ihre Existenz, war von subtraktiver Magie ausgelöscht. Es schien unfassbar, dass ein nahezu eintausend Jahre währendes Leben in einem einzigen Augenblick vergehen konnte.

Niemand würde je erfahren, was ihr zugestoßen war.

Körper und Blut waren zwar vernichtet, der zerstörte Marmor hingegen würde sich nicht so einfach reparieren lassen. Die Schwestern schien es nicht zu kümmern.

Nicci hatte das Gefühl, als sei soeben alle Hoffnung gestorben. Schwester Armina packte sie unter dem Arm und stieß sie den Flur entlang. Nicci wäre fast gestolpert, konnte sich aber gerade noch fangen. Mit steifen Schritten ging sie vor den dreien her, immer wieder von spitzen, auf ihre überaus empfindlichen Nieren zielen den Stößen des Halsrings daran erinnert, nur ja nicht stehen zu bleiben. Sie waren noch nicht weit gegangen, als Nicci die Anweisung erhielt, links in einen Seitengang einzubiegen. Willenlos führte sie ihre Befehle aus, bog um Ecken und wählte auf Befehl schmalere Flure, bis sie am Ende eines kleineren Flurs zum Eingang einer Grabstätte gelangten, deren eher schlichte messingverkleidete Tür verschlossen war. Sie war nicht annähernd so massiv oder schmuckvoll verziert wie so manche andere, die sie bei ihrem Besuch der in einem entfernten Bereich gelegenen Grabstätte von Richards Großvater, Panis Rahl, gesehen hatte. Es erschien ihr seltsam, dass sie eine Grabstätte aufsuchten. Wollten sich die Schwestern womöglich verstecken, bis sie ihre Flucht aus dem schwerbewachten Palast in die Tat umsetzen konnten? Vielleicht wollten sie jetzt, mitten in der Nacht, eine geschäftigere Tageszeit abwarten, um nicht so leicht bemerkt zu werden? Nicci hatte nicht den leisesten Schimmer, wie sie hereingekommen waren.

In jeden der beiden Türflügel war das schlichte Motiv zweier ineinanderliegender Kreise getrieben. Schwester Greta zog die eine Hälfte auf und geleitete die anderen hinein. Nicci ging voran. Drinnen entzündete sie mithilfe eines Energiefunkens eine einzelne Fackel. In der Mitte des kleinen Raumes, auf dem leicht erhöhten Fußboden, stand ein kunstvoll verzierter Sarg. Die Wände über seinem höchsten Punkt waren mit Stein in ineinander verwirbelten Braun- und Gelbtönen verkleidet. Schwarzer Granit, durchsetzt mit kupferfarbenen, im Schein der Fackel aufleuchtenden Partikeln, bedeckte die untere Wandhälfte.

Die merkwürdige Einteilung ließ den oberen Teil, oberhalb des Sarges, wie die Welt des Lebens erscheinen, während die darunterliegende Hälfte an die Unterwelt erinnerte.

In das obere, hellere Gestein waren auf D’Haran die Hauptbeschwörungsformeln eingemeißelt, die sich in einem Bandfries um den gesamten Raum zogen. Ein flüchtiges Überfliegen der Schriftzeichen ergab, dass es sich um eher allgemein gehaltene Bittgesuche an die Gütigen Seelen handelte, diesen Rahl, wie schon seine Vorgänger, in ihre Reihen aufzunehmen. Sie kündeten vom Leben des Mannes und den Dingen, die er zum Wohle seines Volkes vollbracht hatte. Nichts an diesem Schriftband erschien Nicci sonderlich bemerkenswert. Es schien sich um das Grab eines Lord Rahl aus grauer Vorzeit zu handeln, der seinem Volk während einer vergleichsweise friedlichen Phase der D’Haranischen Geschichte gedient hatte. Der Text bezeichnete sie als eine Zeit des »Übergangs«.

In dem schwarzen Granit auf der unteren Wandhälfte befand sich eine recht merkwürdige Mahnung, stets des Fundaments zu gedenken, das alles darüber Liegende erst möglich gemacht habe. Dieses Fundament, stand dort zu lesen, sei von den zahllosen, längst der Vergessenheit anheimgefallenen Seelen gelegt worden.

Der Sarg selbst, aus glattem Stein bestehend und in schlichter Form gehalten, war mit Inschriften bedeckt, die alle Besucher ermahnten, all jene im Gedächtnis zu bewahren, die von diesem Leben in das nächste hinübergewechselt waren.

Überraschend stemmte sich Schwester Armina mit ihrem Gewicht gegen das eine Ende des Sarges und drückte unter angestrengtem Ächzen dagegen, bis er sich einige Zoll bewegte und ein Hebel sichtbar wurde. Sie griff in den schmalen Schlitz, packte ihn und zog ihn nach oben, bis er mit einem Klicken einrastete.

Mit einem kaum wahrnehmbaren Geräusch drehte sich der Sarg. Jetzt, da er zur Seite geschoben war, konnte Nicci zu ihrer Überraschung eine dunkle Öffnung erkennen. Dies war mitnichten eine Grabstätte, es war der verborgene Eingang zu irgendetwas, was darunter lag. Auf einen Schubs von Schwester Julia hin trat Nicci einen Schritt nach vorn auf die erhöhte Plattform, bis sie die grob aus dem Fels gehauenen Stufen sah, die in die Dunkelheit hinunterführten.

Schwester Greta kletterte in die Öffnung, entzündete eine der Dutzend Fackeln, die in einer Lochreihe in der unbehauenen Steinwand steckten, nahm sie mit und begann hinabzusteigen. Als Nächste folgte Schwester Julia, die ebenfalls eine Fackel mitnahm.

»Was ist?«, meinte Schwester Armina. »Worauf wartest du? Geh schon.«

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