»Schau an, schau an, was bist du doch gerissen!«
Rachel stieß einen spitzen Schrei aus, fuhr auf und wandte sich herum in die Richtung, aus der die dünne Stimme gekommen war. Starre, weißlich blaue Augen waren auf sie geheftet. Sechs!
Instinktiv wäre sie am liebsten fortgelaufen, wusste aber, dass es sinnlos wäre, sich weiter in den hinteren Teil der Höhle zurückzuziehen, und den Weg nach draußen versperrte Sechs. Es gab kein Entrinnen. Rachel besaß zwar ein Messer, aber selbst das erschien ihr in diesem Moment geradezu lächerlich unzulänglich.
Ganz allein mit der Hexe in einer solchen Lage, war diese noch weit Furcht einflößender als in ihrer Erinnerung. Ihr schwarzes Haar sah aus wie von tausend schwarzen Witwen geflochten, und ihre Haut spannte zum Zerreißen straff über ihren knotigen Wangenknochen. In den Schatten war ihr schwarzes Kleid kaum auszumachen, so dass ihr fahles Gesicht und ihre Hände völlig losgelöst in der totenstillen Höhle zu schweben schienen.
Fast wären ihr die gespenstischen Kobolde lieber gewesen als diese Hexe. Sie überlegte, wie lange sie wohl schon dort im Finstern gestanden und sie beobachtet hatte. Sechs konnte sich lautlos wie eine Schlange bewegen und hatte keine Mühe, sich auch in völliger Dunkelheit zurechtzufinden. Rachel wäre nicht im Mindesten überrascht gewesen, wenn sie obendrein auch noch eine gespaltene Zunge besessen hätte. Sie war bei ihrer Arbeit an der Zeichnung von Richard so in Konzentration versunken gewesen, dass sie darüber nicht nur die Zeit vergessen hatte, sondern ein wenig auch, wo sie sich befand. Ihre Arbeit hatte sie so sehr in Anspruch genommen, dass sie jedes Gefühl der Vorsicht aufgegeben hatte. Sie hatte gar nicht gewusst, dass etwas sie so sehr vereinnahmen konnte.
Rachel kam sich töricht vor, dass sie sich aus lauter Sorglosigkeit hatte erwischen lassen, dass ihr ein so dummer Fehler unterlaufen war. Chase hätte beschämt den Kopf geschüttelt und sie gefragt, ob sie sich denn überhaupt nichts gemerkt hätte von dem, was er ihr beigebracht hatte. Dabei hatte sie nur das an Richard begangene Unrecht aufheben wollen – unbedingt. Sie wusste, was es hieß, im Mittelpunkt eines solchen Banns zu stehen, wie hilflos es einen machte. Ihm sollte es nicht ebenso ergehen, obwohl er schon viel länger unter diesem Bann stand, als sie jemals zuvor. Sie hatte ihm doch nur helfen wollen, sich aus der Gewalt dieser bösen Zeichnungen zu befreien.
Ihr war das Risiko bewusst gewesen, das sie eingehen würde, aber immerhin war er ihr Freund. Er hatte ihr so oft geholfen, da wollte sie sich wenigstens einmal revanchieren.
Sechs blickte in das Dunkel im Hintergrund der Höhle, jenseits der Öllampe, in das Dunkel, wo Violets Gebeine lagen.
»Doch, durchaus gerissen.«
Rachel schluckte. »Was denn?«
»Wie du die alte Königin beseitigt hast«, sagte Sechs mit seidenweichem Zischeln.
Verwirrt warf Rachel einen Blick über ihre Schulter. Sie konnte nichts dagegen tun. »Die alte Königin?« Sie sah die Hexe wieder an. »Violet war doch nicht alt.«
Sechs setzte ein Lächeln auf, dass Rachel beinahe unter sich gemacht hätte.
»Sie war im Augenblick ihres Todes so alt, wie sie jemals werden würde, meinst du nicht auch?«
Rachel verzichtete darauf, das Rätsel lösen zu wollen. Sie war zu eingeschüchtert, um einen klaren Gedanken zu fassen. Unvermittelt trat Sechs ins Licht. »Auf wie alt schätzt du dich in diesem Moment, Kleines?«
»Genau weiß ich das nicht«, antwortete Rachel so ehrlich wie möglich. Sie schluckte entsetzt. »Ich bin ein Waisenkind. Ich weiß nicht, wie alt ich bin.«
Der Besuch ihrer Mutter kam ihr wieder in den Sinn - wenn sie es denn überhaupt gewesen war. Im Nachhinein erschien es ihr gar nicht mehr so klar. Wieso hätte ihre Mutter sie in einem Waisenhaus zurücklassen sollen? Wenn sie es tatsächlich gewesen war, warum hätte sie Rachel dann alleine lassen sollen? Und wieso sollte sie sie mitten im Nirgendwo besuchen, nur um sie gleich darauf wieder zu verlassen? Als sie in Rachels Unterschlupf getreten war, hatte es vollkommen natürlich gewirkt, aber jetzt wusste sie nicht mehr, was sie davon halten sollte. Ihre Antwort ließ Sechs nur lächeln, allerdings entbehrte dieses Lächeln aller Freude. Vermutlich kannte sie gar kein freudiges Lächeln, nur dieses gerissene, mit dem sie den Menschen zu verstehen gab, wie düster und hexenhaft ihre Gedanken waren.
Mit ihrem langen, knochendürren Finger zeigte die Hexe auf die Zeichnung Richards. »Da steckt eine Menge Arbeit drin, weißt du.«
Rachel nickte. »Ich weiß. Ich war dabei, als Ihr und Violet sie angefertigt habt.«
»Ja«, meinte Sechs gedehnt, während sie Rachel betrachtete, wie eine Spinne eine in ihrem Netz gefangene, panisch summende Fliege. »Das warst du zweifellos, nicht wahr?«
Sie trat näher an die Zeichnung heran. »Dies hier« - mit einer fahrigen Bewegung wies sie auf eine der von Rachel veränderten Stellen - »wie hast du das gemacht?«
»Na ja, ich hab mich erinnert, was Ihr Violet über die finalen Elemente erzählt habt.« Rachel verzichtete darauf zu erwähnen, dass sie wusste, was sich hinter diesem Begriff verbarg. »Ich weiß noch, wie Ihr gesagt habt, dass diese Verbindung sie über den Azimuth-Winkel mit der Person verbindet, so dass der Bann den Betreffenden finden und ihm die entsprechende Bürde auferlegen kann. Ich dachte, demnach müsste es für das Funktionieren des Ganzen ziemlich wichtig sein. Also habe ich die Verhältnisse geändert, damit sich die Position verschiebt, die es mit dem Objekt verbindet.«
Sechs hörte bedächtig nickend zu. »Wodurch eine fundamentale Stütze für die Stellungsstruktur unterbrochen wäre«, sagte sie bei sich. »Ich muss schon sagen.« Nachdenklich schüttelte sie den Kopf, während sie sich die Zeichnung von Nahem besah. Die Stirn gerunzelt, sah sie sich zu Rachel um. »Du bist nicht nur ziemlich begabt, Kleines, sondern auch recht erfinderisch.«
Rachel hielt es für klüger, sich nicht zu bedanken. Trotz des Lächelns auf ihren Lippen war Sechs vermutlich alles andere als glücklich, das volle Ausmaß des Schadens zu entdecken, den sie, Rachel, in der Zeichnung angerichtet hatte. Zumal sich Rachel einigermaßen darüber im Klaren war, welchen Schaden sie in Wahrheit angerichtet hatte. Sechs wies mit ihrem knochendürren Finger. »Hier. Wieso hast du hier diese Linie hinzugefügt? Warum hast du die Verbindung nicht einfach gelöscht?«
»Weil ich dachte, es würde nur den Halt des Banns schwächen.« Rachel wies auf mehrere andere Elemente. »Diese hier stützen ebenfalls die Hauptelemente, er hätte also trotzdem gehalten, auch wenn ich die Verbindung gelöscht hätte. Hätte ich stattdessen diese Variante hinzugefügt, hätte sie die bereits eingerichtete Verbindung umgeleitet und somit unterbrochen, statt sie einfach nur zu lockern.«
Sechs schüttelte den Kopf. »Was hast du doch für ein ausgezeichnetes Gehör. Ich wusste gar nicht, dass Kinder bei diesen Dingen eine so schnelle Auffassungsgabe besitzen können.«
»Von schnell kann nicht die Rede sein«, widersprach Rachel. »Ihr musstet diese Dinge für Violet doch immerzu wiederholen. Da wäre es ziemlich schwierig gewesen, sie nach einer Weile nicht zu begreifen.«
Sechs lachte amüsiert in sich hinein. »Ja, sie war ziemlich dumm, nicht?«
Rachel verzichtete auf eine Antwort. Sie kam sich im Augenblick selbst nicht allzu schlau vor, wo sie sich doch so leicht hatte erwischen lassen. Sechs ging mit verschränkten Armen vor der Zeichnung auf und ab, untersuchte Rachels Werk und nahm, dabei kleine Laute von sich gebend, sorgfältig die ganze Zeichnung in Augenschein. Rachel fand es entmutigend, dass ihr sofort jede von ihr vorgenommene Veränderung ins Auge fiel. Nicht eine einzige entging dieser Hexe.
»Ziemlich eindrucksvoll«, bemerkte sie, ohne sich umzusehen. Sie warf eine Hand in die Luft. »Du hast das ganze Gefüge zunichtegemacht.« Sie wandte sich herum zu Rachel. »Und damit den kompletten Bann aufgehoben.«
»Aber leid tut es mir nicht.«
»Nein, vermutlich nicht.« Sie tat einen tiefen Seufzer. »Na ja, es ist ja kein wirklicher Schaden entstanden. Seinen Zweck hat er erfüllt. Ich nehme an, künftig wird er nicht mehr gebraucht.«
Rachel vernahm es mit Verbitterung.
»Ganz vergeblich war er trotzdem nicht.«
Die Arme immer noch verschränkt, bedachte sie Rachel mit einem verschlagenen Blick. »Offenbar habe ich eine neue Künstlerin gewonnen, eine, die etwas schneller von Begriff ist als die letzte. Gut möglich, dass du dich noch als überaus nützlich erweist. Ich denke, ich werde dich noch ein Weilchen am Leben lassen. Was hältst du davon?«
Rachel nahm all ihren Mut zusammen. »Ich werde keine Sachen zeichnen, um anderen wehzutun.«
Das Lächeln kehrte zurück, jetzt noch breiter. »Nun, wir werden sehen.«