Als sie sich auf den Weg machten, bekam Nicci gerade noch Anns letzten Blick zu Nathan mit, einen Blick gegenseitigen Verständnisses und Zuneigung. Fast war es ihr peinlich, Zeugin eines solch intimen Augenblicks zu sein, gleichzeitig offenbarte sich darin eine Eigenschaft der beiden, die sie als einnehmend empfand. Es war genau die Art simpler Geste, die fast jeder, der sie sah, verstehen und schätzen würde. Der flüchtige Einblick in ihre Gefühle gab Nicci ein Gefühl von Trost und Frieden. Diese Frau war nicht nur die von ihr einen Großteil ihres Lebens gefürchtete Prälatin, sondern auch eine Frau, die die gleichen Gefühle, Sehnsüchte und Werte teilte wie nahezu jeder.
Als sie, während Nathan und Cara in einem Treppenschacht verschwanden, den langen Flur zurückgingen, sah Nicci kurz zu Ann hinüber.
»Ihr liebt ihn, nicht wahr?«
Ein Lächeln spielte über Anns Lippen. »Ja.«
Nicci blickte starr geradeaus, unfähig, sich zu überlegen, was sie darauf erwidern sollte.
»Überrascht, dass ich es zugebe?«, fragte Ann.
»Ja«, gestand Nicci.
Ann lachte amüsiert. »Nun, vermutlich gab es mal eine Zeit, da wäre ich ebenso überrascht gewesen.«
»Wann hat alles angefangen?«, wollte Nicci dann wissen. Anns Blick suchte vergangene Erinnerungen. »Wahrscheinlich schon vor Jahrhunderten. Ich war einfach zu töricht, zu sehr mit meiner Rolle als Prälatin beschäftigt, um zu erkennen, was sich direkt vor meinen Augen abspielte. Vielleicht dachte ich auch, zuallererst meine Pflicht tun zu müssen. Aber das ist nichts weiter als eine Ausrede für meine Torheit.«
Das unumwundene Geständnis dieser Frau verblüffte Nicci so sehr, dass ein amüsierter Ausdruck über Anns Gesicht ging, als diese ihre schockierte Miene bemerkte. »Erschreckt es Euch, festzustellen, dass ich auch nur ein Mensch bin?«
Nicci lächelte. »So formuliert klingt es nicht gerade schmeichelhaft, aber im Kern trifft es vermutlich zu.«
Sie bogen in eine lange Flucht von Stufen mit Absätzen in gleichmäßigen Abständen ein, die im quadratischen Treppenhaus durch den Palast nach unten führten, und deren Handlauf aus gusseisernen Ranken von meisterlich gearbeiteten und mit Blättern versehenen Zweigen gehalten wurde.
»Nun ja«, seufzte Ann. »Vermutlich war auch ich leicht schockiert, als ich diese Entdeckung machte. Gleichzeitig erfüllte sie mich mit Traurigkeit, zumindest anfangs.«
»Traurigkeit?« Nicci runzelte die Stirn. »Warum das?«
»Weil ich mir eingestehen musste, den größten Teil meines Lebens fortgeworfen zu haben. Ich wurde vom Schöpfer mit einem sehr langen Leben gesegnet, und doch ist mir erst jetzt, da ich mich seinem Ende nähere, klar geworden, dass ich es nur zu einem sehr geringen Teil wirklich gelebt habe.« Als sie den Absatz erreichten, fragte sie Nicci:
»Verspürt Ihr keine Reue, wenn Ihr seht, welch großen Teil Eures Lebens Ihr vergeudet habt, ohne jemals zu erkennen, was wirklich wichtig war?«
Nicci unterdrückte einen Stich des Bedauerns, als sie den Rand erreichten und die nächste Treppenflucht hinabzusteigen begannen.
»Das verbindet uns beide.«
Schweigend lauschten sie dem leisen Scharren ihrer Schritte, während sie die restlichen Stufen hinabstiegen. Endlich unten angekommen, nahmen sie statt einem der seitlich abzweigenden Durchgänge einen breiten, geradeaus führenden Flur, in dem der würzige Geruch der in gleichmäßigen Abständen angebrachten Öllampen hing. Die Wände zu beiden Seiten wiesen eine kassettierte Kirschholzvertäfelung auf, die wiederum in immer gleichen Abständen von strohfarbenen, mittels goldener, mit golden-schwarzen Troddeln an den Enden versehener Bordüren gerafften Vorhängen unterteilt wurde. Die Reflektorlampen in jedem zweiten Zwischenraum verliehen dem Flur einen warmen Glanz.
In jedem zweiten dieser getäfelten Rechtecke hing ein Gemälde, die meisten in kunstvoll verzierten Rahmen, so als stünden diese Kunstwerke in überaus hohem Ansehen. Jedem Gemälde war ein eigenes Geviert vorbehalten.
Obwohl stark unterschiedlich in den Themen - von spätmorgendlichen Bergimpressionen mit See, über eine Scheunenhofszene bis hin zu einem hohen Wasserfall -, war allen Gemälden eine geradezu schmerzlich betörende Verwendung des Lichts eigen. Der Bergsee lag zwischen hoch aufragenden Gipfeln, von hinten beschienen von Sonnenstrahlen, die jenseits eines im Dunst versinkenden Gebirges durch sich auftürmende goldene Wolken brachen. Einer dieser prächtigen Lichtstrahlen streifte das Ufer. Der Wald ringsum versank in anheimelnder Dunkelheit, während in der Mitte das Paar auf dem fernen Felsvorsprung von seinem warmen Strahl erfasst wurde.
In der Scheunenhofszene scharrten die Hühner auf dem mit Stroh bestreuten Pflaster, das von einer unsichtbaren, gedämpften Lichtquelle beschienen wurde, die es, mangels der harschen Helligkeit direkten Sonneneinfalls, nur noch lebenssprühender erscheinen ließ. Nicci wäre nie zuvor auf die Idee gekommen, einen Scheunenhof für ansehnlich zu halten, doch dieser Künstler hatte seine Schönheit nicht nur erkannt, sondern sie noch hervorzuheben gewusst.
Im Vordergrund des Gemäldes mit dem sich über einen fernen, hohen Kamm ergießenden Wasserfall verband der Bogen einer natürlichen Steinbrücke den düsteren Wald zu beiden Seiten. Auf dieser Brücke stand sich ein Paar gegenüber, von hinten beschienen von der untergehenden Sonne, die das majestätische Gebirgsmassiv in tiefes Violett tauchte. In diesem Licht umgab die beiden eine Erhabenheit, die ergreifend war. Nicci fand es bemerkenswert, dass so viele Dinge im Palast des Volkes der Schönheit gewidmet waren. Von seiner inneren Gestaltung bis hin zur Vielfalt der für die Fußböden, Treppen und Säulen, für die Statuen und anderen Kunstwerke verwendeten Gesteinsarten schien das Gebäude erfüllt von einer Verherrlichung der Schönheit des Lebens. Alles an diesem Palast, von seiner Bauweise bis hin zu den darin enthaltenen Dingen, schien auf eine Zurschaustellung der höchsten Errungenschaften des Menschen abzuzielen, eine wahrer Meisterschaft gewidmete Umgebung, die offenbar inspirierend wirken sollte.
Womöglich noch bemerkenswerter war, dass nur wenige Menschen diese meisterhaften Gemälde jemals zu Gesicht bekommen würden. Dies war ein privater Flur in den unteren Gefilden des Palasts auf dem Weg zu den Grabstätten einstiger Führer, wo sie fast ausschließlich der jeweilige Lord Rahl zu Gesicht bekam.
Nicci sah in diesen Gemälden auf dem Weg zu den Grabstätten Boten vergangener Generationen, die den jüngsten Nachfolger im Amt des Lord Rahl an den Wert des Lebens erinnern sollten, daran, worauf er sein Augenmerk zu richten hatte, an seine vornehmliche Pflicht: das Leben. Viele, die diesen Weg gegangen waren, hatten dies aus dem Blick verloren, wodurch ganze Generationen verloren hatten, was ihren Vorfahren noch vergönnt gewesen war und für sie als selbstverständlich gegolten hatte.
Aus diesem Grund war der gesamte Palast des Volkes in Form eines Banns gestaltet, der dem Haus Rahl größere Macht verlieh, deswegen war der Palast von so viel Schönheit erfüllt - um den jeweiligen Herrscher daran zu erinnern, was wichtig war, und ihm die Macht zu geben, dies im Namen seines Volkes zu bewahren.
Doch so atemberaubend all dies auch sein mochte, nichts von alledem besaß die Schönheit der Statue, die Richard unten in Altur’Rang aus Stein gemeißelt hatte. Sie hatte die Energie des Lebens auf eine so kraftvolle Weise verkörpert, dass sie Nicci in der Seele berührt und sie für alle Zeiten verändert hatte.
Richard war ein Lord Rahl, der dieses Lebensgefühl in sich trug. Er wusste, was sie zu verlieren hatten.
»Ihr liebt ihn, nicht wahr?«
Nicci machte ein erstauntes Gesicht und sah zu Ann, während sie den langen Flur entlangschritten.
»Was?«
»Ihr liebt Richard.«
Nicci richtete den Blick wieder nach vorn. »Wir alle lieben ihn.« »Das habe ich nicht gemeint, wie Ihr sehr wohl wisst.« Nicci gelang es, ihre Fassung zu bewahren, zumindest nach außen hin.
»Ann, Richard ist verheiratet, und zwar mit einer Frau, die er liebt. Und nicht nur liebt, sondern mehr liebt als das Leben.« Ann schwieg.
»Außerdem«, sagte Nicci in die beklemmende Stille hinein, »hätte ich sein Leben, unser aller Leben, ruinieren können, als ich ihn in die Alte Welt entführte. Fast hätte ich es getan. Er hätte mich von Rechts wegen damals töten sollen.«
»Mag sein«, erwiderte Ann. »Aber das war damals, und nun ist jetzt.«
»Was soll das heißen?«
Sie zuckte die Achseln, als sie an einer Einmündung abbogen und auf eine weitere Flucht von Stufen zuhielten, die sie zur Ebene der Grabstätten hinunterführen würde. »Nun, ich denke, Nathan hätte ebenso allen Grund gehabt, mich zu hassen, wie Richard allen Grund gehabt hätte, Euch zu hassen. Nur haben sich die Dinge nun einmal nicht so entwickelt.
Wie ich bereits vor einer Weile erwähnte, machen wir alle Fehler. Nathan hat mir meine verzeihen können, und da Ihr noch lebt, hat Richard Euch Eure wohl ebenfalls verziehen. Offenbar liegt ihm also etwas an Euch.«
»Ich sagte doch schon, Richard ist mit der Frau verheiratet, die er liebt.«
»Einer Frau, die möglicherweise existiert, möglicherweise aber auch nicht.«
»Ich habe die Macht der Ordnung ins Spiel gebracht. Glaubt mir, ich weiß, sie existiert.«
»Das ist nicht genau das, was ich meinte.«
Niccis Schritte wurden langsamer. »Was meint Ihr dann?«
»Schaut, Nicci...« Ann zögerte, als wäre sie zerstreut. »Macht Ihr Euch eigentlich eine Vorstellung, wie schwer es mir fällt, Euch ›Schwester‹
Nicci zu nennen?«
»Ihr weicht vom Thema ab.«
Ann ließ sie ein kurzes Lächeln sehen. »Allerdings. Was ich meine ist:
Hierbei geht es um mehr als um einen einzelnen Mann.« »Wobei genau?«
Ann warf die Arme in die Höhe. »Na, bei allem. In diesem Krieg, dabei, dass er Lord Rahl ist, seiner Gabe, dem Krieg gegen die Imperiale Ordnung, den von den Chimären verursachten Problemen mit der Magie, dem Feuerkettenbann, den Kästchen der Ordnung - allem eben. Wer weiß im Augenblick schon, in welchen Schwierigkeiten er steckt? Seht doch, was er alles zu bewältigen hat. Er ist nur ein einzelner Mann, ein einsamer Mann, dem niemand hilft.«
»Das vermag ich wirklich nicht zu bestreiten«, sagte Nicci.
»Richard ist der Kiesel im Teich - ein Individuum im Mittelpunkt ungeheuer vieler Dinge. Er berührt so vieles, er hat sich als zentrales Element in unser aller Leben erwiesen, alles kreist um das, was er tut, um die von ihm getroffenen Entscheidungen. Tut er einen falschen Schritt, stürzen wir alle.
Und seht Euch den armen Jungen an, den Ersten seit dreitausend Jahren, der mit subtraktiver Magie geboren wurde, der aufwuchs, ohne im Gebrauch seiner Gabe unterwiesen zu werden. Geboren als Kriegszauberer, ohne auch nur zu wissen, wie er von seinen Talenten Gebrauch machen kann.«
»Mag sein. Und weiter?«
»Nicci, könnt Ihr Euch überhaupt vorstellen, wie es für ihn sein muss, welcher Druck auf ihm lastet? Er ist in einem winzigen Dorf in Westland aufgewachsen und war dort Waldführer. Könnt Ihr Euch vorstellen, was es heißt, solche Verantwortung aufgebürdet zu bekommen, ohne auch nur zu wissen, wie man seine Gabe herbeirufen kann? Und nun ist er zu allem Überfluss auch noch ein Spieler für die Macht der Ordnung. Könnt Ihr Euch vorstellen, wie sehr es ihn erschrecken wird, wenn er dahinterkommt, dass die Macht der Ordnung ins Spiel gebracht wurde – in seinem Namen? Er weiß nicht einmal, wie er Verbindung zu seinem Han aufnehmen kann, und nun soll er die vermutlich komplexeste Magie handhaben, die je vom menschlichen Geist ersonnen worden ist?«
»Dafür bin ich ja da«, sagte Nicci und setzte sich erneut in Bewegung.
»Ich werde ihn darin unterweisen, ich werde seine Führerin sein.«
»Genau das meinte ich. Er braucht Euch.«
»Nun, ich bin für ihn da. Ich würde alles für ihn tun.«
»Würdet Ihr das wirklich?«
Die Stirn in Falten gelegt, betrachtete Nicci die unentzifferbare Miene der Prälatin. »Worauf spielt Ihr an?«
»Würdet Ihr wirklich alles tun? Würdet Ihr ihm der Mensch sein, den er am meisten braucht?«
»Und welcher wäre das?«
»Seine Partnerin.«
Sie rümpfte die Nase unter ihrer gerunzelten Stirn. »Seine Partnerin?«
»Seine Partnerin im Leben.« »Aber die hat er bereits.« »Kann sie Magie wirken?« »Sie ist die Mutter Konfessor.«
»Ja, aber kann sie Magie wirken? Kann sie, so wie Ihr, ihr Han heraufbeschwören?«
»Nun, ich weiß nicht.«
»Kann sie subtraktive Magie benutzen? Ihr könnt es. Richard wurde mit der Gabe für subtraktive Magie geboren. Im Gegensatz zu mir wisst Ihr mit einer solchen Kraft umzugehen, damit seid Ihr die Einzige auf unserer Seite, die das vermag. Habt Ihr je darüber nachgedacht, dass es Euch aus einem ganz bestimmten Grund in seine Nähe verschlagen haben könnte?« »Einem Grund?«
»Selbstverständlich. Allein kann er dies nicht bewältigen. Vielleicht seid Ihr die einzige Lebende, die ihm das sein kann, was er am meisten braucht - eine liebende Partnerin, die ihn unterrichten und anleiten kann, und die imstande ist, ihm eine angemessene Gefährtin zu sein.«
»Seine angemessene Gefährtin?« Nicci mochte kaum ihren Ohren trauen. »Bei den Gütigen Seelen, Ann, er liebt Kahlan. Was meint Ihr nur damit, seine angemessene Gefährtin?«
»Nun, genau das, was ich sage.« Sie machte eine vage Handbewegung.
»Ihm ebenbürtig - im weiblichen Sinne jedenfalls. Wer wäre besser geeignet für das, was er wirklich braucht, was wir wirklich brauchen?«
»Seht, ich kenne Richard.« Nicci hatte die Hand gehoben, um das Gespräch abzuwürgen, ehe es noch abwegiger wurde. »Und ich weiß, wenn er Kahlan liebt, muss sie eine wirklich bemerkenswerte Person sein. Sie muss ihm ebenbürtig sein. Man liebt, was man bewundert. Es entspricht dem Wesen der Imperialen Ordnung, genau das Gegenteil zu tun, zu lieben, was man verabscheut.
Mag sein, dass sie nicht so wie er Magie wirken kann, dennoch muss sie jemand sein, den er bewundert, jemand, der ihn ergänzt, zu einer vollständigen Person macht. Eine Geringere würde Richard niemals lieben.
Ihr würdigt sie herab, ohne auch nur das Geringste über sie zu wissen. Keiner von uns erinnert sich an sie, aber man braucht doch nur Richard zu kennen, um zu begreifen, wie außergewöhnlich sie sein muss. Außerdem ist sie die Mutter Konfessor, eine überaus mächtige Frau. Vielleicht kann sie mit ihrer Kraft nicht die gleichen Dinge tun wie eine Hexenmeisterin, aber das Gleiche gilt auch im umgekehrten Fall. Vor dem Fall der Grenzen herrschte die Mutter Konfessor über die Midlands. Königinnen und Könige verneigten vor ihr das Haupt. Könnten wir das auch? Ihr habt über einen Palast geherrscht, ich bin nichts weiter als die Sklavenkönigin. Kahlan dagegen ist eine wahre Herrscherin, eine Herrscherin, auf die ihr Volk vertraut, eine Herrscherin, die für es gekämpft hat, für die Bewahrung seiner Freiheit. Eine Frau, die nach Richards Worten die Grenze überschritten und in die Unterwelt hinabgestiegen ist, um Hilfe für ihr Volk zu erhalten. Als ich Richard in der Alten Welt gefangen hielt, ist sie für ihn eingesprungen, hat mit den D’Haranischen Streitkräften gekämpft und sie befehligt, um Jagangs Vormarsch aufzuhalten und so Zeit zu gewinnen, um eine Möglichkeit zu finden, ihm endgültig Einhalt zu gebieten. Richard liebt Kahlan. Damit ist alles gesagt.«
Nicci konnte kaum glauben, zu welcher Rechtfertigung sie sich hatte hinreißen lassen.
»Nun, was Ihr da sagt, mag ja alles durchaus richtig sein. Er mag diese Kahlan lieben, nur wer weiß schon, ob sie überhaupt noch lebt? Ihr seid mit dem bösartigen Wesen der Schwestern, in deren Gewalt sie sich befindet, sehr viel besser vertraut als ich. Niemand vermag zu sagen, ob er sie jemals wiedersehen wird.«
»So wie ich ihn kenne, wird er es.«
Ann breitete die Hände aus. »Und wenn, was dann? Was soll daraus entstehen?«
Die feinen Härchen in Niccis Nacken sträubten sich. »Was wollt Ihr damit sagen?«
»Ich habe das Feuerkettenbuch gelesen, ich weiß, wie der Bann funktioniert. Seht den Tatsachen ins Gesicht: Die Frau, die Kahlan einst war, existiert nicht mehr. Das alles hat der Feuerkettenbann ausgelöscht. Der Feuerkettenbann bewirkt nicht nur, dass die Menschen ihre Vergangenheit vergessen, er tilgt ihr Erinnerungsvermögen und vernichtet ihre Vergangenheit. In allen praktischen Belangen existiert die Kahlan, die es einst gab, nicht mehr.«
»Aber sie ...«
»Ihr liebt Richard. Stellt ihn in Euren Gedanken an die allererste Stelle und denkt nur an seine Bedürfnisse. Kahlan ist verloren - jedenfalls ihre Seele. So zutreffend alles, was Ihr über sie sagt, sein mag, die Frau, die Richard einst liebte, existiert nicht mehr. Selbst wenn er sie wiederfände, wäre sie nichts weiter als der Körper seiner einstigen Geliebten, eine leere Hülle, in der sich nichts mehr befindet, was er lieben könnte. Ist Richard die Art Mann, der sie alleine wegen ihrer äußeren Gestalt, wegen ihres Körpers lieben würde? Wohl kaum. Die Seele macht den Menschen zu dem, was er ist, und ihre Seele war es, die er geliebt hat – doch die ist verloren.
Wollt Ihr Euer Leben etwa ebenso fortwerfen, wie ich das meine? Ich habe ein ganzes Leben verloren, das ich hätte mit Nathan verbringen können, einem Mann, den ich eigentlich schon immer geliebt habe. Macht nicht denselben Fehler, Nicci. Lasst nicht zu, dass Richard sein Glück ebenso entgleitet.«
Nicci presste ihre zitternden Finger fest zusammen. »Vergesst Ihr etwa, wen Ihr vor Euch habt? Ist Euch klar, dass Ihr Richard eine Schwester der Finsternis aufnötigt, dem Mann, von dem Ihr behauptet, er sei die Hoffnung für die Zukunft aller?«
»Ach was«, spottete Ann. »Ihr seid keine Schwester der Finsternis, Ihr habt mit den anderen nichts gemein. Sie sind wahre Schwestern der Finsternis, Ihr nicht.« Sie tippte ihr gegen die Brust. »Nicht hier drinnen. Ihre Gier hat sie zu dem gemacht, was sie sind, denn sie wollten etwas, was sie sich nicht verdienen konnten - Macht und die Erfüllung dunkler Versprechungen.
Ihr dagegen wart anders. Ihr seid nicht eine Schwester der Finsternis geworden, weil es Euch nach Macht gelüstete, sondern aus genau dem gegenteiligen Grund. Ihr wart der Meinung, Eures eigenen Lebens unwürdig zu sein.«
Es stimmte. Nicci war als einzige Schwester der Finsternis nicht übergetreten, um Macht oder einen Vorteil für sich selbst zu erlangen, sondern vielmehr aus dem Gefühl, nichts wirklich Gutes verdient zu haben. Selbstlosigkeit, sich für die Bedürfnisse anderer aufopfern zu müssen, kein selbstbestimmtes Leben führen zu können, war ihr zutiefst verhasst. Und diese Einstellung gab ihr das Gefühl, eigensüchtig zu sein, machte sie zu einer unwürdigen Person. Anders als die anderen Schwestern der Finsternis glaubte sie nichts anderes zu verdienen als immerwährende Strafe.
Dieses aus Schuldgefühlen statt aus Gier motivierte Verhalten hatte die anderen Schwestern der Finsternis stets verunsichert, weshalb sie ihr misstrauten. Sie gehörte letztlich nicht zu ihnen.
»Bei den Gütigen Seelen«, entfuhr es ihr. Sie konnte kaum glauben, dass diese Frau, die sie während ihres jahrzehntelangen Zusammenlebens im Palast der Propheten kaum jemals zu Gesicht bekommen hatte, einen so klaren Blick für die damalige Situation besaß.
»Mir war gar nicht bewusst, dass ich so leicht zu durchschauen war.«
»Für mich war es ein steter Quell von Traurigkeit«, sagte Ann mit sanfter Stimme, »dass ein so wunderschönes und begabtes Geschöpf wie Ihr eine so geringe Meinung von sich hatte.«
Nicci schluckte. »Warum habt Ihr mir das nie zu sagen versucht?«
»Hättet Ihr mir denn geglaubt?«
Nicci blieb am oberen Treppenende stehen und legte eine Hand auf den Endpfosten aus weißem Marmor. »Vermutlich nicht. Für diese Erkenntnis musste ich erst Richard begegnen.«
Ann seufzte. »Vielleicht hätte ich es versuchen sollen, aber ich lebte in der steten Angst, für zu nachgiebig gehalten zu werden und durch solche Vertrautheiten meine Autorität zu untergraben. Außerdem befürchtete ich, wenn ich Novizinnen meine aufrichtige Meinung über sie verriete, könnte dies dazu führen, dass sie zu sehr von sich eingenommen wären. Ihr wart aber keineswegs so leicht zu durchschauen, wie Ihr vielleicht denkt. Die Tiefe Eurer Gefühle war mir nie bewusst. Ich dachte, was ich bei Euch für Bescheidenheit hielt, würde Euch als Frau gut zu Gesicht stehen. Auch darin habe ich mich getäuscht.«
»Das war mir nie bewusst.« Niccis Gedanken schienen sich in jener fernen Zeit zu verlieren.
»Glaubt aber nicht, dass Ihr die Einzige wart. Andere habe ich noch viel schlimmer behandelt, weil ich so große Stücke auf sie hielt. Verna habe ich vielleicht mehr als jeder anderen vertraut, trotzdem habe ich es ihr nie gesagt, sondern sie vielmehr auf eine zwanzigjährige sinnlose Suche geschickt, weil ich sie als Einzige mit einer solchen Mission zu betrauen wagte. Alles Teil meiner Verwicklung mit verschiedenen Ereignissen aus den Prophezeiungen.« Ann schüttelte den Kopf. »Wie hat sie mich gehasst für diese zwanzig Jahre.«
»Ihr sprecht von ihrer Suche nach Richard?«
»Ja.« Ann lächelte bei sich. »Auf dieser Reise hat sie auch zu sich selbst gefunden.«
Nachdem sie einen Moment ihren Erinnerungen nachgehangen hatte, blickte sie lächelnd auf zu Nicci. »Wisst Ihr noch, wie Verna ihn endlich zu uns brachte? Erinnert Ihr Euch an den ersten Tag, als sich alle Schwestern in dem großen Saal versammelt hatten, um den neuen Knaben zu begrüßen, und sich herausstellte, dass Richard längst ein erwachsener Mann geworden war?«
»Ich erinnere mich.« Bei der Erinnerung musste sie ebenfalls lächeln.
»Ihr würdet es kaum für möglich halten, was dieser erste Tag alles in Gang gesetzt hat. Als ich ihn an diesem Tag sah, schwor ich mir, eine seiner Ausbilderinnen zu werden.«
Sie war zu seiner Lehrerin geworden, und Richard letztendlich zu ihrem Lehrer.
»Richard braucht Euch jetzt, Nicci. Er braucht jemanden, der zu ihm steht, er braucht eine Partnerin in diesem Kampf. Für einen einzelnen Mann ist diese Last zu groß. Er braucht eine Frau, die ihn liebt. Kahlan existiert nicht mehr, und wenn, ist er für sie ein Fremder. Der traurige Kern der Sache ist, dass er sie an diesen Krieg verloren hat. Jetzt braucht er jemanden, der ihm ein Partner im Leben ist.
Er braucht Euch, damit Ihr ihm nachts die Dinge ins Ohr flüstert, die er hören muss. Ob er sich dessen bewusst ist oder nicht, er braucht Euch mehr als alles andere.«
Nicci war kurz davor, in Schluchzen auszubrechen. Sich selbst gegen das argumentieren zu hören, wofür sie ihr Leben hergegeben hätte, zerriss sie innerlich. Nichts im Leben wünschte sie sich mehr als Richard. Aber gerade weil sie ihn liebte, konnte sie nicht tun, was Ann von ihr verlangte.
Den Blick starr in den Treppenschacht gerichtet, wechselte sie das Thema. »Ich muss mir die Grabstätte ansehen, und anschließend muss ich mit Verna und Adie sprechen. Ich habe keine Zeit zu verlieren. Ich muss nach Tamarang, um Zedd zu helfen, Richard aus dem Bann der Hexenmeisterin zu befreien. Das ist es, was Richard im Augenblick am dringendsten benötigt.
Und dafür muss ich alles über diese Sechs wissen. Vielleicht habt Ihr sie nicht gekannt, aber Ihr hattet doch ein sich über die gesamte Alte Welt erstreckendes Spionagenetz.«
»Ihr wusstet von den Spionen?« Ann folgte ihr die Treppe hinunter.
»Ich hatte einen Verdacht. Ohne Hilfe kann sich eine Frau wie Ihr nicht so lange an der Macht halten. Unter Eurer Herrschaft war der Palast der Propheten eine Insel der Stabilität und Ruhe in einer Welt in Aufruhr, einer Welt, die im Begriff war, unter den Bann der Bruderschaft der Imperialen Ordnung zu fallen. Ihr brauchtet ein im ganzen Land verbreitetes Spionagenetz, um stets über die Geschehnisse in der Außenwelt unterrichtet zu sein, das Euch über die möglichen Gefahren auf dem Laufenden hielt. Schließlich wart Ihr der Garant dafür, dass der Palast über Hunderte von Jahren frei und ungehindert seiner Arbeit nachgehen konnte.«
Ann hob erstaunt eine Braue. »Ich war darin keineswegs so gut, wie Ihr denkt, meine Liebe. Andernfalls hätten sich die Schwestern der Finsternis unmittelbar vor meinen Augen wohl kaum so frei entfalten können.«
»Aber Ihr hattet einen Verdacht und habt Vorkehrungen getroffen.«
»Richtig. In jedem Falle aber unzureichende, wie sich nun herausstellt.«
»Niemand ist ohne Fehl, und niemand unbesiegbar. Richtig aber bleibt, dass Ihr lange Zeit Hervorragendes dafür geleistet habt, um sie in Schach zu halten. Ich weiß, dass sie wegen Eures Informantennetzes über Jahre unablässig über ihre Schulter geschaut haben, weil sie Euch fürchteten. Und dank dieses Netzes, wie nur die Prälatin es zu spinnen vermag, müsstet Ihr etwas über Sechs gehört haben.«
»Ich weiß nicht, Nicci. In all den Jahren haben sich Unmengen wichtiger Dinge zugetragen, da haben mich Gerüchte über eine Hexe nicht sonderlich interessiert. Es gab Wichtigeres. Was Sechs anbetrifft, so ist mir eigentlich nichts Bemerkenswertes zu Ohren gekommen.«
»Mir liegt nichts daran, Euch zum Verrat von Vertraulichkeiten zu bewegen, Ann. Mich interessiert nur alles, was Ihr über sie wisst. Aus irgendeinem Grund hat sie das Kästchen der Ordnung in ihren Besitz gebracht, das ich für Richard wiederbeschaffen muss. Schon der kleinste Hinweis könnte dabei hilfreich sein.«
»Von meinen Quellen habe ich einfach nie etwas über sie gehört.«
Schließlich nickte sie, fast wie zu sich selbst. »Aber ganz allgemein schon, daher weiß ich auch, dass sie die Macht der Ordnung nicht ins Spiel bringen kann.«
»Warum hätte sie es dann in ihren Besitz bringen sollen?«
»Nun, bis auf das, was Shota uns über sie berichtet hat, weiß ich zwar nichts über sie, gleichwohl ist mir bekannt, dass manche Menschen ihre Bestimmung in dem Wunsch sehen, alles Gute im Leben zu zerstören – eine besonders verdrehte Überzeugung, die im Grunde nichts anderes ist, als die Rechtfertigung vor sich selbst für ihren alles beherrschenden Hass auf alles Gute. Dieser zentrale Antrieb verbindet sie mit anderen, die wie sie das Ziel verfolgen, jeden zu vernichten, der in Freiheit lebt und nach Besserung trachtet. Dieses Ziel - die Vernichtung alles Guten - ist es, die ihre Leidenschaft anfacht.
Letztendlich ist diesen Leuten das Leben selbst verhasst, sie fühlen sich den Herausforderungen des Daseins nicht gewachsen. Die Notwendigkeit, sich der Welt zu stellen, so wie sie tatsächlich ist, ist ihnen ein Gräuel, also trachten sie danach, auf einem kürzeren Weg ans Ziel zu kommen. Statt selber hart zu arbeiten, entscheiden sie sich für die Vernichtung derer, die dies tun. Statt etwas Sinnvolles zu schaffen, versuchen sie, anderen ebendies zu nehmen.«
»Mit anderen Worten, obwohl Ihr nichts Genaues über diese Sechs wisst, vermutet Ihr, dass sie sich aufgrund ihrer Natur anderen von Hass getriebenen Personen anschließen wird.«
»Genau so ist es«, sagte Ann. »Und was besagt das?«
Am unteren Treppenende angekommen, blieb Nicci kurz stehen, legte ihre Hand auf den Treppenpfosten und tippte, den starren Blick gedankenverloren geradeaus gerichtet, mit dem Fingernagel auf den weißen Marmor. »Es besagt, dass sie sich letztendlich mit denen zusammentun möchte, die die beiden anderen Kästchen haben: die Schwestern der Finsternis. So sehr sie sich in ihren Uberzeugungen unterscheiden mögen, ihr Hass vereint sie.«
Ann lächelte bei sich. »Sehr gut, meine Liebe.«
»Sie selbst kann mit dem Kästchen nichts anfangen«, dachte Nicci schließlich laut nach. »Was bedeutet, dass sie es sich als Unterpfand für einen Handel verschafft haben muss. Mit seiner Hilfe will sie sich selbst Macht verschaffen. Nach dem Fall der Großen Grenze erschien ihr die Neue Welt angreifbar, sie ersann einen Plan und entwendete schließlich, was Shota hier in der Neuen Welt erschaffen hatte. Aber letztendlich reicht ihr das noch nicht. Für das Kästchen, das sich jetzt in ihrem Besitz befindet, verlangt sie Macht.«
Ann nickte. »Damit wäre gewährleistet, dass sie bei der Entfesselung der Macht der Ordnung mit von der Partie ist. Sie fühlt sich von der Möglichkeit der massiven Vernichtung alles Guten angezogen. Mag sein, dass es sie selbst nach Macht verlangt, aber ich denke, ihr eigentliches Ziel ist es, Teil dieser Demontage aller Werte und jeglicher Ordnung zu sein.«
»Eins aber ergibt dabei keinen Sinn.« Kopfschüttelnd starrte Nicci in den langen Flur. »Die Schwestern der Finsternis werden vermutlich nicht sonderlich erpicht auf einen Handel mit der Hexe sein. Sie fürchten sich vor ihr.«
»Den Hüter fürchten sie mehr. Sie brauchen das Kästchen unbedingt für die Entfesselung der Macht der Ordnung. Vergesst nicht, jetzt, da sie die Kästchen ins Spiel gebracht haben, ist ihr Leben verwirkt, sofern sie das falsche öffnen. Sie werden gar nicht anders können, als sich auf einen Handel mit Sechs einzulassen.«
»Vermutlich«, sagte Nicci.
Doch irgendetwas schien zu fehlen, nur kam sie nicht darauf, was. Irgendwie musste noch mehr dahinterstecken.