30

Unvermittelt wurde Richard aus seinem leichten Schlaf gerissen. Selbst jetzt, mitten in der Nacht, war das Feldlager voller Geräusche und Leben. Scheinbar allenthalben grölten, lachten und fluchten Soldaten, Metall klirrte, Pferde wieherten, Esel schrien. In der Ferne konnte er die von Fackeln beschienene Rampe sowie Reihen von Männern und Wagen ausmachen. Sogar mitten in der Nacht wurden die Bauarbeiten ohne Pause vorangetrieben.

Doch nichts von alledem hatte ihn geweckt. Etwas näher bei ihm hatte seine Aufmerksamkeit erregt.

Dann sah er Schatten durch den Ring aus Bewachern und den Kreis aus niedrigen Transportwagen huschen, die sein Gefängnis umgrenzten. Er zählte vier an der Zahl, dunkle Gestalten, die sich lautlos durch die Dunkelheit stahlen. Er fragte sich, ob sie sich tatsächlich ungesehen hatten durchschleichen können, oder ob die Wachen sie hatten passieren lassen.

Ihre Größe verriet ihm, wer diese Leute waren. Nach Kommandant Kargs Bemerkungen über seine Wette mit Jagang hatte Richard ohnehin mit Besuch gerechnet, auch wenn es das Letzte war, was er jetzt gebrauchen konnte. Aber schließlich war es nicht so, dass er irgendeinen Einfluss darauf hatte.

Sehr viel mehr Sorge bereitete ihm, dass seine Möglichkeiten, an den Wagen gekettet, äußerst begrenzt waren. Er konnte sich schwerlich verstecken, und weglaufen erst recht nicht. Vor dem morgigen Spiel mochte er wirklich nicht gegen fünf oder womöglich noch mehr Männer kämpfen müssen. Eine Verletzung konnte er sich nicht leisten, schon gar nicht jetzt.

Er schaute zur Seite und sah, dass Johnrock nicht in der Nähe war. Der großgewachsene Mann lag, das Gesicht von ihm abgekehrt, auf der Seite und schlummerte tief und fest. Ihm etwas zuzurufen würde Richard des einzigen Vorteils berauben, der für ihn sprach: Überraschung. Die Männer, die im Begriff waren, sich an ihn heranzumachen, waren überzeugt, dass er schlief. Möglicherweise gingen die fünf Männer sogar zuerst zu ihm und schlitzten ihm die Kehle auf, um sich dann ungestört über Richard hermachen zu können.

Die fünf großen Kerle kamen verstohlen näher und bildeten einen Halbkreis. Offenbar wussten sie, dass die Kette ihn an der Flucht hindern und eine Umzingelung ihm jeden Spielraum nehmen würde. Angesichts ihres lautlosen Vorgehens schienen sie immer noch zu glauben, dass er schlief.

Einer von ihnen näherte sich, die Arme balancierend ausgebreitet, vorsichtig mit einem großen Schritt und trat in die Richtung von Richards Kopf, so als wollte er verhindern, den Broc einem Gegenspieler zu überlassen. Darauf war Richard gefasst. Er wälzte sich zur Seite, peitschte ihm das Kettenstück um den Knöchel und zog mit aller Kraft. Das riss ihm die Beine unter dem Körper weg, so dass er mit einem harten Aufprall auf dem Boden landete und sein Kopf auf den Boden schlug.

»Auf mit dir«, knurrte einer der anderen, jetzt, da er wusste, dass Richard wach war.

Richard packte ein zusammengelegtes, für den anderen unsichtbar hinter ihm auf dem Boden liegendes Kettenstück, blieb aber liegen. »Oder?«

»Oder wir treten dir, dort wo du liegst, den Schädel ein. Du hast die Wahl, im Stehen oder Liegen, aber auf jeden Fall kriegst du was ab.«

»Dann habt ihr also tatsächlich Angst, wie sich alle erzählen.«

Der Mann zögerte. »Wovon redest du?«

»Ihr habt Angst, morgen zu verlieren«, gab Richard zurück.

»Wir haben vor gar nichts Angst«, meinte eine andere der schattenhaften Gestalten.

»Aha. Dann ist es also Jagang, der Angst hat, wir könnten euch schlagen. Das sagt mir einiges. Und euch sollte es auch etwas sagen -nämlich, dass wir besser sind als ihr, und dass ihr in einer fairen Partie chancenlos seid. Das weiß auch Jagang, deswegen schickt er euch -weil ihr nicht gut genug seid, um uns beim Ja’La zu schlagen.«

Als ein anderer, wegen der Verzögerung leise fluchend, nach ihm zu greifen versuchte, schwang Richard die Kettenschlaufe so wuchtig wie möglich nach vorn. Sie traf den Mann mitten im Gesicht. Der drehte ab und stieß, schockiert von dem plötzlichen Schmerz, einen Schrei aus. Als auch noch ein Dritter angriff, ließ Richard sich auf seine Schul tern zurückfallen und trat ihm unter Aufbietung seiner ganzen Kraft in den Unterleib, wobei er sich das Gewicht des auf ihn Stürzenden zunutze machte. Der Tritt stieß den Mann zurück und presste ihm den Atem aus den Lungen.

Der erste Angreifer war wieder auf den Beinen, während der Mann, der den Kettenschlag ins Gesicht bekommen hatte, sich noch am Boden wand. Der dritte wälzte sich, den Arm schützend vor seiner Leibesmitte, herum, kam auf die Beine und schnappte, auf Rache sinnend, nach Atem. Nummer vier und fünf näherten sich von gegenüberliegenden Seiten. Zwei der zu Boden Gegangenen waren wieder auf den Beinen, bereit, sich erneut in den Kampf zu stürzen, so dass sie jetzt zu viert gleichzeitig angriffen. Zu viele Hände griffen nach der Kette, als dass Richard sie daran hätte hindern können. Er versuchte noch, sie außer Reichweite zu schnellen, doch einer der Männer stürzte vor und bekam die schweren Glieder mit beiden Händen zu fassen.

Mit einer Beinsichel trat Richard einem der anderen die Beine unter dem Körper weg, so dass dieser schwer auf die Schulter schlug. Die beiden anderen packten die Kette und rissen sie mit einem mächtigen Ächzen zurück. Die Kette spannte sich. Der plötzliche Ruck fühlte sich an, als könnte er ihm glatt den Kopf abreißen, derweil Richard mit dem Gesicht voran zu Boden gerissen wurde. Der würgende Schmerz in seiner Kehle war so heftig, dass er für einen winzigen Augenblick dachte, der Halsring hätte seine Luftröhre zerquetscht.

Während er in seiner vorübergehenden Benommenheit gegen seine aufkommende Panik ankämpfte, trat ihm einer der Männer in die Rippen. Es fühlte sich an, als wäre etwas gebrochen. Richard versuchte sich wegzudrehen, doch sie rissen die Kette erneut zurück in die andere Richtung, so dass der sich um seinen Hals drehende Ring ihn ruckartig nach hinten riss. Brennend schnitt das Eisen in sein Fleisch. Die fernen Posten blieben, wo sie waren, und schauten unbeteiligt zu. Ihr Interesse, in die Angelegenheit verwickelt zu werden, war nicht eben ausgeprägt. Immerhin waren diese Spieler aus der Mannschaft des Kaisers.

Als sie sich erneut spannte, packte Richard die Kette, kam wieder auf die Beine und hielt sie fest, um zu verhindern, dass sie ihm mithilfe von Kette und Halsring das Genick brachen. Zu dritt entwickelten sie einen gewaltigen Zug, so dass sie ihn erneut aus dem Gleichgewicht brachten und auf seinen Rücken rissen.

Als sich ein Stiefel auf sein Gesicht herabsenkte, konnte er den Kopf gerade noch rechtzeitig zur Seite drehen. Staub und Erde wirbelten hoch. Fäuste und Stiefel prasselten von allen Seiten auf ihn ein. Die Kette mit einer Hand festhaltend, stieß er einen der Angreifer mit der anderen zurück, blockte den Schlag eines weiteren und rammte einem dritten den Ellbogen gegen das Schienbein, so dass er vorübergehend auf ein Knie sackte. Doch je behänder er ihre Hiebe abwehrte und ihnen auswich, desto mehr prasselten auf ihn herab. Da sie die Kette auf Spannung hielten, konnte er sich kaum bewegen, ganz loszulassen wagte er aber ebenso wenig.

Richard ließ sich in eine kauernde Verteidigungshaltung fallen, schützte seinen Leib, machte sich so klein wie möglich und versuchte, ein möglichst langes Stück der Kette zu ergattern. Als einer der Männer ihn mit angewinkeltem Arm zu treffen versuchte, ließ Richard die Kette los und lenkte den Schlag mit seinem linken Unterarm ab, gleichzeitig drang er in seine Reichweite vor und rammte ihm den Ellbogen mit knochenzertrümmernder Wucht unters Kinn. Der Mann taumelte zurück. Da die Kette jetzt ein wenig mehr Spiel hatte, tauchte Richard unter einem Schlag weg und trat dem Mann dann seitlich gegen das Knie. Der Schaden war groß genug, um ihm einen Schmerzensschrei zu entlocken und ihn zu zwingen, sich humpelnd außer Gefahr zu begeben, was Richard sofort ausnutzte, um ihm auch gegen das andere Knie zu treten. Als seine Beine unter ihm wegknickten und er vornüberkippte, rammte Richard ihm das Knie ins Gesicht.

Schon flog der nächste Hieb heran. Richard tauchte nach links weg, bekam das Handgelenk mit eisernem Griff zu fassen und rammte ihm den Ballen seiner linken Hand von hinten gegen den Ellbogen. Das Gelenk knackte. Mit einem Aufschrei zog der Mann seinen ausgerenkten Arm zurück.

Den nächsten Hieb lenkte Richard an seinem Gesicht vorbei. Als sein Angreifer mit der anderen Hand zuschlug, lenkte er den Schlag in die entgegengesetzte Richtung, so dass sich dessen Arme kreuz ten und er einen Hebel hatte, den hünenhaften Kerl herumzuschleudern. Trotz seines Erfolgs war es schwierig, sich die Angreifer vom Leib zu halten, da die Kette um seinen Hals seine Bewegungsfreiheit einschränkte. Gleichwohl war ihm klar, dass er keine andere Wahl hatte, als seine Möglichkeiten abzuwägen, statt sich in das Undenkbare zu fügen. Was ihm die Abwehr zusätzlich erschwerte, war der Umstand, dass er nicht wagte, jene Hiebe einzusetzen, die er nur zu gerne benutzt hätte. Doch wenn er einen der kaiserlichen Spieler tötete, würde Jagang dies aller Wahrscheinlichkeit nach als Vorwand benutzen, ihn des Mordes anzuklagen und ihn hinrichten zu lassen. Auch wenn Jagang für die Hinrichtung eines Mannes schwerlich einen Vorwand brauchte, Richards Mannschaft erfreute sich zunehmender Bekanntheit, so dass die Hinrichtung Richards den Verdacht schüren würde, dass Jagang um die Unterlegenheit seiner Mannschaft wusste. So wenig ihn das allgemeine Gerede scherte, es wäre ihm eine Genugtuung, einen Grund zu haben, Richard zu töten.

War die Angriffsspitze der Mannschaft Kommandant Kargs tot, musste Jagang nicht mehr befürchten, Nicci an diesen zu verlieren. Jagangs Mannschaft war stark und hatte eine gute Chance zu gewinnen, ohne Richard als Angriffsspitze aber war ihnen der Sieg so gut wie sicher. Zudem würde kein Mensch aus dem Tod eines im Streit umgekommenen Gefangenen eine große Sache machen. Das passierte täglich und wurde so gut wie nie geahndet.

Im Falle seines Todes aber hatte Kahlan keine Chance mehr. Sie wäre für immer an den Feuerkettenbann verloren, ein lebendes Phantom ihres früheren Selbst.

Allein schon dieser Gedanke entfesselte bei ihm ungeahnte Kräfte, auch wenn er Acht geben musste, niemanden zu töten. Da es in einem Überlebenskampf alles andere als einfach war, sich zurückzuhalten, musste er fast ebenso viel einstecken, wie er austeilte. Als der nächste Hieb in seine Richtung zielte, packte Richard den Arm des Mannes, tauchte ächzend darunter weg, verdrehte ihn dabei und warf den Mann zu Boden.

Dann ging er selbst zu Boden. Richard schnappte sich ein Stück der Kette und schlug es einem der Männer ins Gesicht. Das Geräusch von Stahl auf Fleisch und Knochen war widerlich. Ein Tritt presste ihm die Luft aus den Lungen.

Die unablässigen Schläge, die er einstecken musste, zermürbten ihn. Der Kampf hatte erst Augenblicke zuvor begonnen, und doch kam es ihm wie Stunden vor. Seine ungestümen Verteidigungsbemühungen erschöpften ihn.

Als ein weiterer Angreifer sich gerade auf ihn stürzen wollte, wurde dieser abrupt zurückgerissen.

Johnrock hatte ihm eine aus seiner Kette gebildete Schlaufe um den Hals geworfen und zog ihn, während er um Atem ringend an der Kette zerrte, fort von Richard. Dann half er Richard in einem furiosen Handgemenge aus fliegenden Fäusten, Tritten und peitschenden Ketten, die Männer zurückzudrängen.

Plötzlich tauchte ein weiterer Mann aus der Dunkelheit auf, der wüste Drohungen ausstoßend durch den Ring aus Wachen hastete. Richard war so mit der Abwehr seiner Angreifer und ihren wirbelnden Fäusten beschäftigt, dass er nicht sehen konnte, wer es war. Völlig unvermittelt packte der neu Hinzugekommene einen der Angreifer bei den Haaren und riss ihn zurück. Im Schein der nahen Fackeln erkannte Richard die Schuppentätowierungen. Kommandant Karg beschimpfte die fünf Männer lauthals als Feiglinge und drohte, sie enthaupten zu lassen. Sie mit den Füßen tretend, befahl er ihnen, den Schlafplatz seiner Mannschaft augenblicklich zu verlassen. Alle fünf rappelten sich auf und verschwanden unvermittelt in der Nacht, und plötzlich war es vorbei. Richard lag im Dreck und unternahm nicht einmal den Versuch aufzustehen.

Wütend stieß Kommandant Karg einen Finger in Richtung Wachen.

»Solltet ihr noch irgendjemanden durchlassen, lasse ich euch alle bei lebendigem Leib die Haut abziehen! Habt ihr mich verstanden?«

Die Wachen bei dem Kreis aus Wagen machten ein betretenes und sorgenvolles Gesicht. Sie sagten, ja, sie hätten verstanden und schworen, dass niemand mehr hindurchgelangen würde.

Richard, der vor Schmerzen keuchend am Boden lag und wieder zu Atem zu kommen versuchte, hatte von dem Gebrüll des Kommandanten kaum etwas mitbekommen. So kurz der Kampf gewesen war, die Hiebe der Männer aus Jagangs Mannschaft hatten ihre Spuren hinterlassen.

Johnrock kniete nieder und wälzte Richard auf den Rücken. »Alles in Ordnung, Rüben?«

Vorsichtig bewegte Richard seine Arme, hob die Knie an, drehte behutsam sein Fußgelenk, um seinen pochenden Knöchel auszuprobieren, unterzog seine Gliedmaßen einer Untersuchung und prüfte, ob sie sich alle noch bewegen ließen. Sein ganzer Körper schmerzte. Er war einigermaßen sicher, keinen bleibenden Schaden davongetragen zu haben, trotzdem versuchte er noch immer nicht, wieder auf die Beine zu kommen. Vermutlich hätte er es auch gar nicht geschafft.

»Ich denke schon.«

»Was hatte das denn zu bedeuten?«, wollte Johnrock von Schlangengesicht wissen.

Kommandant Karg zuckte die Achseln. »Ja’La dh Jin.« Die Antwort ließ ihn überrascht innehalten. »Ja’La dh Jin?« »Das Spiel des Lebens. Was erwartest du?«

Die tiefer werdenden Falten auf seiner Stirn zeigten an, dass er offensichtlich nicht verstand. Richard dagegen schon. Das Spiel des Lebens umfasste mehr als nur das Geschehen auf dem Spielfeld. Es schloss das gesamte Umfeld, die Geschehnisse davor und danach, mit ein: die Strategie und Einschüchterung vorher, das Spielgeschehen auf dem Platz selbst, sowie die Folgen des Ausgangs einer Partie. Die Belohnungen nach einem Spiel machten die Geschehnisse im Vorfeld zu einem Teil des Spiels. Ja’La dh Jin war nicht nur das Geschehen auf dem Platz, es umfasste einfach alles. Leben bedeutete vor allem Überleben. Ob man lebte oder starb, hing davon ab, wie man sich im Leben verhielt. Das nackte Überleben zählte, machte alles zu einem Teil des Spiels. Eine Schlachtengängerin, die den Spieler der gegnerischen Mannschaft erdolchte, um ihrer Mannschaft zum Sieg zu verhelfen, die Spieler mit roter Farbe zu bemalen, das Einschlagen des Schädels der Angriffsspitze der gegnerischen Mannschaft mitten in der Nacht, all das war Teil des Spiels des Lebens. Wer überleben wollte, musste kämpfen, so einfach war das. Das war das Spiel des Lebens. Leben und Sterben, das war die Wirklichkeit, auf die es ankam, nicht, wie jemand einen verordneten Satz von Regeln befolgte. Starb jemand, weil er es versäumt hatte, sich zu verteidigen, konnte er schlecht »Foul« schreien, denn er war ja bereits tot. Für sein Leben, für den Sieg musste man kämpfen, unter welchen Umständen auch immer.

Kommandant Karg erhob sich. »Ruht euch ein bisschen aus - alle beide. Morgen entscheidet sich, ob ihr leben oder sterben werdet.«

Damit begab er sich hinüber zu dem Ring aus Wachen, um diese laut zu beschimpfen.

»Danke, Johnrock«, sagte Richard, nachdem der Kommandant gegangen war. »Du hast genau den richtigen Moment abgepasst.«

»Ich sagte doch, ich passe auf dich auf.«

»Du hast deine Sache gut gemacht, Johnrock.«

Ein Grinsen ging über sein Gesicht. »Mach du einfach morgen deine Sache gut, was, Rüben?«

Nickend schnappte Richard nach Luft. »Versprochen.«

Загрузка...