Die Ellbogen auf die Mahagonitischplatte gestützt, fuhr sich Richard mit den Fingern durchs Haar. Er war so müde, dass die Schrift in dem vor ihm liegenden Buch zu verschwimmen begann. In letzter Zeit hatte er so viel gelesen, dass er längst den Überblick verloren hatte, wie viele Tage seine Rückkehr in den Palast des Volkes nun schon zurücklag. Das Ja’La-Spiel, Kahlans Flucht mit Samuel, Richards Rückkehr in den Palast und der anschließende Kampf - all das schien schon eine Ewigkeit her zu sein. Mithilfe Vernas und mehrerer anderer Schwestern hatte Nathan Adie heilen können, die jedoch bereits nach einer kurzen Erholungspause darauf bestanden hatte, sich erneut auf ihre einsame Reise zu begeben.
Obwohl er Verständnis für ihren Wunsch hatte, fragte er sich, ob sie wegen ihrer Hexenmeisterinnenkräfte im Palast womöglich keine Zukunft für sich sah - sofern es überhaupt noch irgendwo eine Zukunft gab.
Denn nach General Meifferts Bericht über eine Hexe auf einem mächtigen roten Drachen, die Jagd auf D’Haranische Truppen in der Alten Welt machte, schienen die Aussichten auf einmal mehr als düster. Jetzt, da sich die von ihm in die Alte Welt entsandten Truppen, die dort den Nachschub der Ordenstruppen für die Neue Welt stören sollten, selbst vernichtenden Angriffen ausgesetzt sahen, konnte er nicht einschätzen, wie viel Zeit ihnen bliebe, bis der Orden imstande wäre, endgültig jeglichen Widerstand gegen ihre Vision einer neuen Menschheit zu brechen.
Anfangs war er noch zuversichtlich gewesen, die Schlagkraft der Ordenstruppen bereits an der Quelle zu treffen, und eine Zeitlang war diese Strategie auch durchaus aufgegangen. Sie hatten Jagd auf Nachschubtransporte gemacht und sie noch vor Verlassen der Alten Welt vernichtet. Sie hatten Rekrutierungs- und Ausbildungslager in trostlose Wälder aus Pfählen mit darauf aufgespießten Soldatenschädeln verwandelt, hatten im selben Zug Nachschublager zerstört, Ernten vernichtet und die Prediger der widerwärtigen Glaubensüberzeugungen des Ordens getötet.
Bis den Menschen in der Alten Welt schließlich die bittere Wahrheit dieses Krieges zu dämmern begann, den gegen andere zu entfesseln sie so erpicht gewesen waren. Ihre selbstgefällige, hämische Freude über die Niederwerfung der Heiden aus dem Norden durch ihre Truppen war einer allen den Schlaf raubenden Angst gewichen, dass ebendiese Heiden kurz davorstehen könnten, sich grausam an ihnen zu rächen. Die Zahl derer, die andächtig den Predigern der Ordenslehren lauschten, dünnte merklich aus, und in einigen Gebieten waren bereits die ersten Aufstände gegen die Herrschaft der Imperialen Ordnung ausgebrochen. Jagang wusste dem jedoch auf vielfältige Weise zu begegnen. Zum einen ließ er die Verantwortlichen rasch und in aller Schärfe gegen jedes Aufkeimen einer Rebellion vorgehen. Ortschaften, die man der Sympathie mit den Freiheitsgedanken verdächtigte, wurden niedergebrannt, Hinrichtungen zu Tausenden angeordnet. Den Herrschaftsanspruch der Imperialen Ordnung in Frage zu stellen, hatte fürchterliche Folgen, wobei tatsächliche Schuld kaum jemanden interessierte. Das vornehmliche Ziel waren die Bestrafung an sich und die Wiederherstellung der Autorität, weshalb schon ein bloßer Verdacht brutalste Vergeltung rechtfertigte. Schon bald verfielen die Menschen in vorauseilenden Gehorsam, nur zu bereit, den neu erhobenen Nachschubforderungen in vollem Umfang zu entsprechen.
Die weitverbreitete Furcht, des Verrats an der Sache verdächtigt zu werden, hatte die für die Entsendung in den Norden zur Verfügung stehenden Nachschubmengen dramatisch ansteigen lassen, so dass die zusätzlich eingesetzten Nachschubkonvois keine Mühe hatten, alles Nötige zusammenzutragen. Dank der ungeheuren Weite des Landes war also gesichert, dass, aller Anstrengungen der D’Ha ranischen Truppen zum Trotz, noch genügend Material durchkam. Noch gut waren Richard die frischen Lebensmittelvorräte wie der Schinken in Erinnerung, daher wusste er, dass die Taktik, zumindest fürs Erste, aufging.
All dies waren Hindernisse, derer sich die in den Süden geschickten D’Haranischen Truppen bewusst waren und derer sie sich annahmen. Und genügend Zeit vorausgesetzt, hätten sie ihre Vorgehensweise, wie es nun mal dem Verhalten von Kriegern entsprach, auch entsprechend angepasst. Veränderte der Gegner seine Taktik, galt es dagegenzuhalten. Jagangs jüngster Schachzug war jedoch von anderem Kaliber. Er hatte einen Drachen und eine Hexe - die Beschreibung klang ganz nach Sechs – auf die Nachschubzüge und andere Einrichtungen angreifenden D’Haraner gehetzt. Aus eigener Erfahrung wusste Richard, dass die Ortung von Truppen aus großer Höhe erheblich einfacher war. Es war eine überaus wirkungsvolle - und angesichts der Talente einer Hexe eine umso tödlichere - Jagdmethode.
Die Taktik hatte nicht nur die Schlagkraft der Angriffe in der Alten Welt vermindert, sondern auch zum vollkommen sinnlosen Tod einer großen Zahl D’Haranischer Soldaten geführt, was den noch Kämpfenden die Aufgabe zusätzlich erschwerte. Dank des vermehrten Nachschubs und der Attacken aus der Luft schien Jagang, trotz der höheren Verluste an Mensch und Material, alles Nötige zu bekommen, um die Belagerung des Palasts des Volkes fortzusetzen. Und das allein zählte für ihn. Mittlerweile schien alles darauf hinzudeuten, dass es die Bewohner des Palasts sein würden, die nicht würden durchhalten können. War die Rampe erst fertiggestellt, und hatte man womöglich noch weitere Wege durch die Katakomben gefunden, würde dies die Ordenslegionen in die Lage versetzen, den Palast sowohl von oben als von unten zu attackieren, dabei würde die Rampe allein bereits genügen. Ein solcher Angriff würde der Imperialen Ordnung zwar hohe Verluste bescheren, was Jagang allerdings wenig scherte. Ihn interessierte nur sein Ziel, das er früher oder später erreichen würde.
Es wäre das unweigerliche Ende der Freiheit. Sie wären erledigt. Richards einzige Hoffnung jetzt bestand darin, eine Möglichkeit zu finden, sich der Kästchen der Ordnung zu bedienen, auch wenn er derzeit noch keines in seinem Besitz hatte. Zuerst aber musste er sich über ihren Gebrauch informieren. Wissen war seine schärfste Waffe, und er war fest entschlossen, sich gut zu rüsten.
Der Raum, in dem er und Nicci sich befanden, war eine Privatbibliothek, die laut Berdine überwiegend verbotene Schriften enthielt - Schriften, die allein dem Lord Rahl vorbehalten waren. Mächtige Schilde sicherten die schweren Mahagonitürflügel des mit einem Bogen überwölbten Eingangs. Obwohl Darken Rahl Berdine gelegentlich gebeten hatte, ihm beim Übersetzen des Hoch-D’Haran zu helfen, hatte sie diesen Raum nach eigenem Bekunden so gut wie nie betreten. Gewöhnlich, hatte sie erklärt, habe er ihn allein aufgesucht, weshalb Richard und Nicci entschieden hatten, dies sei ein guter Ort, um anzufangen. Unterdessen durchforstete Berdine mit Verna und nahezu all ihren Schwestern die übrigen Bibliotheken. Alles, was auch nur entfernt hilfreich schien, brachte man zu Nicci, die persönlich überprüfte, ob etwas dabei war, mit dem Richard sich befassen sollte. Einige der erfahreneren Schwestern erwiesen sich beim Aufspüren wichtiger Quellen nützlicher Hinweise als überaus wertvoll.
Zudem hielt Nicci alle anderen von Richard fern, damit er sich ganz auf sein Studium und die Vielzahl unterschiedlicher Dinge konzentrieren konnte, die sie ihm beibrachte. Bisweilen kam er sich wie ein Klausner vor, gleichzeitig aber blieb die Atmosphäre in dem stillen Arbeitszimmer hochkonzentriert - genau wie er es brauchte.
Die niedrigen Regale in diesem privaten Refugium standen unweit der kunstvoll getäfelten Wände, was in der Mitte Platz für Sofas und Sessel ließ und dem Raum eher den Anschein eines ruhigen Studierzimmers denn einer Bibliothek verlieh. Die obersten Borde einiger Regale zierten kleine Statuetten, wodurch sie eher wie Präsentationsmöbel denn Bücherregale wirkten.
Bislang war Richard noch nicht dazugekommen, die schmale eiserne Wedeltreppe zur Galerie auf der gegenüberliegenden Seite hinaufzusteigen, Nicci dagegen schon. Während er unentwegt las, schleppte sie Bücher herbei, um sie den seiner Begutachtung harrenden Stapeln noch hinzuzufügen. Obwohl der Raum so gar nichts von dem typischen Lesesaal mit von Büchern nur so überquellenden Regalen hatte, enthielten die unscheinbaren Gestelle gewiss Tausende und Abertausende von Bänden. Die für sie interessanten waren jedoch eher rar, selbst für einen Ort wie diesen.
Nichtsdestoweniger war der schwere Mahagonitisch, an dem er saß, mit Stapeln von Büchern übersät, die Nicci für ihn bereitgelegt hatte. Hier, in den Tiefen der Bibliothek, war nicht festzustellen, ob es Tag war oder Nacht, denn die schweren, dunkelblauen Samtvorhänge waren zugezogen. Sie aufzuziehen hätte dennoch nichts genützt, da sich dahinter nur die Holzvertäfelung befand. Ihr Zweck bestand lediglich darin, Fenster vorzutäuschen und den Raum ruhiger wirken zu lassen. Lampen hingegen gab es reichlich, dazu einen offenen Kamin, was dem Raum eine warme Atmosphäre verlieh und ihn gemütlich und einladend wirken ließ. Nach beidem stand Richard nicht der Sinn. Sie arbeiteten ohne Unterlass und solange es irgend möglich war. Selbst das Essen wurde ihnen gebracht, damit sie ihre Arbeit nicht zu unterbrechen brauchten. Konnten sie die Augen nicht länger offen halten, hielten sie auf einem der Sofas ein kurzes Nickerchen. Nicci wich nie weit von seiner Seite. Sie lief zwischen den Schatten und Lichtbalken der Reflektorlampen hin und her, die an den dunkelbraunen, polierten, in gleichmäßigen Abständen über den Raum verteilten Marmorsäulen hingen, überflog einen weiteren Band, um festzustellen, ob Richard einen Blick hineinwerfen sollte, nur um kurz darauf an eines der Regale zu treten und ihn wieder zurückzustellen. Richard brannte darauf, endlich loszuschlagen. Er wollte sich lieber heute als morgen auf die Suche nach Kahlan machen, wusste aber, dass dies nicht so einfach sein würde. Für eine ernsthafte Suche nach ihr musste er sich mit dem Gebrauch der Macht der Ordnung vertraut machen, ehe es womöglich zu spät wäre, sie jemals zurückzubekommen. Aber alleine war das völlig ausgeschlossen. Nicci hatte keine Sekunde gezögert, sich als seine Lehrerin zur Verfügung zu stellen.
Zunächst hatte sie ihm die Problematik steriler Felder erläutert. Sie wollte, dass er sich über deren Verwicklungen im Klaren war. Richard war kein Experte in diesen Dingen, gleichwohl war es Nicci gelungen, ihm die Prinzipien verständlich zu machen, auch wenn er anfangs seine Schwierigkeiten damit hatte. Er wollte nämlich nicht einsehen, warum ein gewisses Vorwissen so schädlich sein sollte.
Immer wieder hatte sie ihm eingeschärft, dass die Zauberer, die die Macht der Ordnung als Gegenmittel gegen die Feuerkettenreaktion geschaffen hatten, überzeugt gewesen waren, dass ein gewisses emotionales Vorwissen die von ihnen geschaffene Magie und somit die Macht der Ordnung selbst beeinträchtigen würde.
Zedd persönlich hatte ihr erklärt, dass dies nicht etwa irgendeine Theorie war, sondern den Tatsachen entsprach - wie Richard selbst bewiesen habe, als er sich in Kahlan verliebte, ohne dass deren Konfessorinnenkraft ihm etwas anhaben konnte. Hätte er vorab von dieser Möglichkeit gewusst, hätte ihre unabsichtlich entfesselte Magie ihn überwältigt. Damit, so Zedd, habe Richard die zentrale Frage der Ordnungstheorie bewiesen - Vorwissen vermochte die Wirkungsweise von Magie zu beeinträchtigen.
Richard wusste nur zu gut, wovon Nikki sprach, auch wenn sie bei manchen Aspekten im Dunkeln tappte. Und weil er die Situation aus eigener Anschauung erlebt hatte, war ihm der Ernst der Lage durchaus bewusst. Kahlans Vorwissen um seine tiefe emotionale Bindung zu ihr würde die Macht der Ordnung scheitern lassen.
Es war also keine Theorie, wie die Zauberer damals geglaubt hatten, es stimmte: Vorwissen beeinträchtigte ein steriles Feld. Gerade ihm, Richard, war dies gewissermaßen aus dem Bauch heraus klar geworden. Tief in seinem Herzen, aber auch vernunftmäßig zu wissen, dass Kahlan auf keinen Fall von ihrer beider Liebe erfahren durfte, schnürte ihm sein Innerstes zusammen. Im Augenblick war dies jedoch nur eine ferne Sorge, ein Problem, dem er sich hoffentlich eines Tages würde stellen müssen. Zuvor jedoch galt es noch eine Menge in Erfahrung zu bringen. Dank ihres Studiums einiger historischer Berichte aus der Bibliothek sowie von einigen Schriften aus der Zeit vor dem Großen Krieg, die die Schwestern aufgestöbert hatten, war es Nicci gelungen, eine Theorie über seine Gabe und ihre Funktionsweise zu entwickeln. Ihrer Meinung nach rührten seine Schwierigkeiten mit der Beherrschung seiner Talente weniger daher, dass er in jungen Jahren nichts über Magie gelernt hatte, sondern dass die Gabe eines Kriegszauberers sich grundsätzlich anders verhielt, als die einer Hexenmeisterin oder eines gewöhnlichen Zauberers. Richards Kräfte standen nicht einfach auf Abruf bereit, sondern funktionierten, wie das Schwert der Wahrheit, über eine von seinen Gefühlen gesteuerte Absicht. So gesehen war das Schwert der Wahrheit eine Art Leitfaden für die Funktionsweise seiner Talente, denn es funktionierte aufgrund einer Abwägung seines Benutzers. Niemals vermochte es jemanden zu verletzen, den dieser als Freund betrachtete, jeden mutmaßlichen Feind hingegen würde es vernichten. Tatsachen waren dabei unerheblich, der Glaube, die Einschätzung seines Benutzers, steuerte die Magie des Schwertes. Exakt dies war der zentrale Grundgedanke sowohl des Schwertes als auch seiner Gabe als Kriegszauberer.
Gefühle waren die Summe aller Erfahrungen, all dessen, was man über das Leben begriffen hatte, wie es sich in einem einzigen Augenblick offenbarte: eine innere Lebenseinstellung, die sich als emotionale Entladung äußerte. Das aber bedeutete nicht, dass diese endgültigen Urteile für sich genommen korrekt waren, denn wie das Schwert funktionierte seine Gabe nur im Einklang mit seinen Wertvorstellungen. Und der Vernunft fiel die Aufgabe zu, die Richtigkeit dieser Wertvorstellungen zu überprüfen und so eine wohlbegründete Rechtfertigung dafür zu liefern, dass diese Gefühle nicht nur echt, sondern auch moralisch gerechtfertigt waren.
Aus diesem Grund war es so wichtig, dass die richtige Person zum Träger des Schwertes der Wahrheit auserkoren wurde, musste sie doch über die Fähigkeit verfügen, diese Urteile aufgrund begründeter Überlegungen zu fällen.
Wie auch das Schwert funktionierte seine Gabe über den Zorn, und Zorn war insofern eine Projektion seiner Wertvorstellungen, als er eine Reaktion auf deren Gefährdung darstellte - als Gefahr für die Menschen, die er liebte, oder für das höchste menschliche Gut überhaupt, das Leben. Weil seine Gabe grundsätzlich anderen Zwecken diente, als die eines Heilers oder Propheten, würde er sie, so hatte Nicci ihm erklärt, vermutlich niemals direkt beherrschen lernen. Deshalb war sein Zorn der Schlüssel zu seinen Talenten als Kriegszauberer. Schließlich zog man nicht aus Freude oder purer Lust am Wettstreit in einen gerechten Krieg, sondern als Reaktion auf eine Gefahr für Leib und Leben. Dringlicher war für ihn jedoch, zu lernen, wie er die Macht der Ordnung einsetzen konnte, um dem Feuerkettenbann entgegenzuwirken. Nicci hatte auf die Zeichnungen und Symbole schockiert reagiert, mit denen er sich und seine Mitspieler bemalt hatte, denn sie hatte sofort gesehen, dass er bekannte Elemente zu völlig neuen Formen kombiniert hatte. Gleichzeitig aber hatte sie wissen wollen, wie es ihm gelungen war, die zur Macht der Ordnung gehörenden Elemente einzubinden. Als Erklärung hatte er angeführt, dass Teile jenes Banns, den Darken Rahl einst zum Öffnen der Kästchen der Ordnung gezeichnet hatte, sich mit Teilen des Tanzes mit dem Tod deckten, und mit denen sei er ziemlich gut vertraut.
Eine Verknüpfung, die in gewisser Weise durchaus Sinn ergab. Zedds Erklärung zufolge entsprach die Macht der Ordnung der Kraft des Lebens selbst. Beim Tanz mit dem Tod ging es in Wahrheit um den Erhalt des Lebens. Die Macht der Ordnung wurde somit aus der Kraft des Lebens gewonnen und diente dem Erhalt desselben, indem sie es vor dem Wüten des Feuerkettenbanns schützte.
In gewisser Weise waren demnach das Schwert der Wahrheit, die Talente eines Kriegszauberers und die Macht der Ordnung unentwirrbar miteinander verknüpft.
Das brachte Richard auf den Obersten Zauberer Baraccus, jenen Mann, der vor Tausenden von Jahren eine Schrift für ihn, Richard, verfasst hatte: Die Geheimnisse der Kraft eines Kriegszauberers, eine Schrift, die als Hilfestellung in seinem Kampf gedacht war. Das Buch befand sich immer noch in Tamarang, wo Richard es versteckt hatte, als Sechs ihn dort eine Zeitlang gefangen gehalten hatte. Er wusste, dass Zedd dorthin aufgebrochen war, um den in den heiligen Höhlen für ihn gezeichneten Bann von ihm zu nehmen. Die Rückkehr seiner Gabe schien darauf hinzudeuten, dass seine Bemühungen erfolgreich gewesen waren. Da die Verbindung zu seiner Gabe nun wiederhergestellt war, erinnerte er sich auch wieder Wort für Wort an Das Buch der gezählten Schatten.
Nun war Nicci aber überzeugt - und hatte ihn überzeugt -, dass es sich bei dem von ihm auswendig gelernten Buch nur um eine fehlerhafte Abschrift gehandelt haben konnte, mit deren Hilfe sich das richtige Kästchen der Ordnung nicht würde öffnen lassen.
Gleichwohl glaubte sie, dass auch eine fehlerhafte Abschrift sehr wahrscheinlich alle, oder doch die meisten, für das Öffnen und Benutzen des korrekten Kästchens der Ordnung notwendigen Elemente enthielt. Um die von Richard auswendig gelernte Abschrift als fehlerhaft zu entlarven, brauchte nur eine Abfolge von Elementen als unkorrekt identifiziert zu werden, was jedoch die Elemente als solche nicht zwangsläufig unbrauchbar machte.
Zu diesem Zweck hatte er ihr den gesamten Text vorgesprochen, wobei sie sich eine Notiz zu jedem im Text enthaltenen Element gemacht hatten. Wenn es ihm nun noch gelänge, jedes dieser Elemente wiederzuerschaffen beziehungsweise zu zeichnen, würde er, wenn ihnen die korrekte Abschrift von Das Buch der gezählten Schatten in die Hände fiele, diese Elemente nur noch in die richtige, in der korrekten Abschrift vorgeschriebene Ordnung bringen müssen.
Nicci wusste nun also, was sie ihm beibringen musste. Seine Kenntnisse diesbezüglich waren ohnehin schon weiter fortgeschritten, als sie angenommen hatte, denn er war bereits mit vielen Schlüsselelementen vertraut und kannte einen großen Teil der in den Bannformen verwendeten Grundelemente. Schließlich hatte er sich und seine Mitspieler eben damit bemalt. Der Tanz mit dem Tod hatte ihn die Grundlagen dieser Zeichen gelehrt, so dass sie ihm nun beinahe intuitiv erschienen.
Richard hatte herausgefunden, dass das Zeichnen der Bannformen tatsächlich eine natürliche Erweiterung nicht nur der für den Tanz mit dem Tod verwendeten Symbole war, sondern auch seines Kampfes mit der Klinge oder seiner Arbeit an einer Statue. Im Grunde waren diesen scheinbar so unterschiedlichen Dingen wesentliche Elemente gemein, denn sie alle beinhalteten Bewegung und Fluss.
Es erstaunte ihn, zu entdecken, wie sich dies alles zu einem größeren Ganzen fügte. Das Zeichnen der Bannformen, die Nicci ihn lehrte, erschien ihm weder unangenehm noch schwierig. Sondern ganz natürlich.
Zudem war Nicci insofern als Lehrerin einzigartig, da sie seine Vorstellungen von den schöpferischen Seiten der Magie verstand und ihn daher niemals korrigierte, sondern ihn mit viel Geschick zu den erforderlichen Ergebnissen führte.
Sie kam an seinen Tisch geschlendert. »Wie kommst du voran?«
Richard gähnte. »Ich weiß es selbst nicht mehr. In meinem Kopf läuft alles ineinander.«
Sie nickte abwesend, während sie eine Passage in dem Buch, das sie in Händen hielt, las.
»Dieses, wie du es nennst, Ineinanderlaufen könnte bedeuten, dass dein Geist Assoziationen und Verbindungen herzustellen beginnt -sozusagen dein hinzugewonnenes Wissen ordnet.«
Er seufzte. »Schon möglich.«
Nicci klappte das Buch zu und warf es auf den seitlich stehenden Tisch.
»Hier drinnen stehen ein paar nützliche Dinge. Solltest du dir einmal ansehen.«
»Ich glaube, mir verschwimmt alles vor den Augen. Ich kann jetzt nicht mehr weiterlesen.«
»Gut.« Sie wies auf die Schreibfeder in dem Halter neben ihm. »Dann zeichne eben. Du musst imstande sein, die Elemente aus dem Buch, das du gerade beendet hast, zu zeichnen. Wenn das echte Buch der gezählten Schatten ähnliche Elemente enthält, bist du ein gutes Stück weiter.«
Richard wollte schon widersprechen, wollte ihr erklären, er sei zu müde, doch dann dachte er an Kahlan, und in diesem Licht wurde seine Müdigkeit bedeutungslos. Außerdem war er einverstanden gewesen, sich von Nicci unterrichten zu lassen, und würde ihre Anweisungen nicht nur befolgen, sondern sich größte Mühe dabei geben. Dies war seine einzige Chance, zu lernen, was er brauchte, und die wollte er auf keinen Fall ungenutzt lassen.
Er zog ein Blatt Papier heran, tauchte die Feder in die Tinte, dann beugte er sich darüber und machte sich daran, Bannformen aus einem aufgeschlagen neben ihm liegenden Buch abzuzeichnen. Ein ebenso großes wie ungelöstes Problem war die Frage des Zauberersandes. Der von ihm auswendig gelernten Abschrift zufolge, mussten die für das Öffnen des korrekten Kästchens benötigten Bannformen in Zauberersand gezeichnet werden, und zwar unabhängig davon, ob es sich um eine fehlerhafte Kopie handelte oder nicht. Ohne diesen Sand würden die benötigten Banne einfach nicht funktionieren. Nun war Darken Rahl beim Öffnen des Kästchens der Ordnung in die Unterwelt hinabgesogen worden, und mit ihm der gesamte Zauberersand, den er für das Zeichnen des Banns verwendet hatte. Im Garten des Lebens, wo sich dies zugetragen hatte, war von diesem kostbaren Gut nichts mehr vorhanden. Wo einst der Zauberersand gelegen hatte, war jetzt nur noch nackte Erde.
Nicci sah von einem anderen Buch auf, in dem sie gerade blätterte. »Hier gibt es einige Hinweise auf den Tempel der Winde.«
Richard blickte auf. »Tatsächlich?«
Sie nickte. »Weißt du, am meisten erstaunt mich daran, dass du behauptest, die Unterwelt durchquert zu haben, um dorthin zu gelangen.«
Der Tempel war nur beim Aufleuchten eines Blitzes zu sehen gewesen, und während dieser Phase seiner Sichtbarwerdung war Richard über eine Straße zu ihm gelangt.
»Tut mir leid, Nicci, aber zu diesem Thema habe ich Euch alles erzählt, was ich weiß.«
»Hernach wurde der Tempel der Winde zu seinem Schutz in die Unterwelt verbannt, wo er nun irgendwo jenseits der Großen Leere seinen Standort hat. Zweck dieses Vorgehens war es, ihn in unerreichbare Ferne zu rücken.«
»Aber damals waren die Bedingungen genau richtig, und er stand direkt vor mir. Ich konnte einfach über die Straße gehen und ihn betreten.«
Mit einem abwesenden Nicken nahm sie ihre Lektüre wieder auf und ging weiter auf und ab. Schließlich blieb sie abermals stehen, einen ungeduldigen Ausdruck im Gesicht.
»Es ergibt trotzdem keinen Sinn. Es ist unmöglich, durch die Welt der Toten von einem Ort zum anderen zu gelangen. Das Durchqueren der Leere ist ungefähr so, als wollte man den Ozean überqueren, indem man einfach am Strand entlangläuft und auf eine Insel am anderen Ende der Welt tritt, ohne den dazwischen liegenden Ozean zu befahren.«
»Vielleicht steht der Tempel der Winde ja gar nicht so weit entfernt in der Unterwelt. Vielleicht liegt besagte Insel nicht am anderen Ende der Welt, sondern gleich in der Nähe des Strandes.«
Nicci schüttelte den Kopf. »Nicht, wenn es stimmt, was hier steht, und was du mir erzählt hast. Jeder dieser Querverweise besagt, dass der Tempel bei seiner Verbannung an einen sicheren Ort quer durch die Unterwelt geschickt wurde. Das ist etwa so, als hätte man ihn quer durch das Universum geschickt.«
»Lord Rahl«, rief Cara von der Tür.
Richard gähnte erneut. »Was gibt es denn, Cara?«
»Ich habe einige Leute bei mir, die Euch dringend zu sprechen wünschen.«
So sehr Richard sich auch nach einer Pause sehnte, mochte er doch seine Arbeit nicht unterbrechen. Wenn er Kahlan jemals wieder zurückhaben wollte, musste er über alles Bescheid wissen.
»Es scheint wichtig zu sein«, setzte sie hinzu, als sie ihn zögern sah.
»Also gut, führt sie herein.«
Angeführt von Cara betrat eine Gruppe von sechs in vollkommen weiße Gewänder gekleideten Personen den Raum, die in der eher dunklen Bibliothek beinahe wie Gütige Seelen leuchteten. Vor dem massiven Mahagonischreibtisch blieben sie stehen. Richard hatte den Eindruck, sie fürchteten eher, hingerichtet zu werden, als dass sie ihn zu sprechen wünschten.
Sein Blick wanderte von den sechs nervösen Personen hinüber zu Cara.
»Es sind Angehörige des Grabkammerpersonals«, erklärte sie. Richard betrachtete erneut ihre Gesichter. Sie wichen seinem Blick aus und starrten, immer noch schweigend, auf den Fußboden.
»Richtig, ich erinnere mich, gleich nach meiner Rückkehr einige von euch gesehen zu haben - nach dem Kampf mit den Ordenstruppen dort unten.«
Es war schier unglaublich, welch unvorstellbares Chaos dort unten beseitigt werden musste. Er hatte angeordnet, die Leichen der Ordenssoldaten über den Rand des Hochplateaus zu werfen, da sie im Augenblick Wichtigeres zu tun hatten, als sich um die sterblichen Uberreste von Mördern zu kümmern.
Die Bediensteten nickten.
»Also, was möchtet ihr mir mitteilen?«
Cara winkte ab. »Sie sind stumm, Lord Rahl.«
Er lehnte sich in seinen Sessel zurück und wies mit der Feder auf sie.
»Alle?«
Die sechs nickten.
Der grausige Hinweis entlockte Richard ein Seufzen. »Tut mir leid, dass man euch so misshandelt hat. Falls ihr euch dadurch besser fühlt, ich teile eure Empfindungen bezüglich dieses Mannes.«
Lächelnd betrachtete Cara ihre sechs Schützlinge. »Ich habe ihnen erklärt, dass Ihr an seinem Tod beteiligt wart.«
Die sechs lächelten zaghaft und nickten.
»Also, worum geht es? Könnt ihr mir helfen zu verstehen, was ihr mir sagen wollt?«, wandte er sich an die sechs.
Einer von ihnen streckte die Hand vor, legte ein zusammengefaltetes, vollkommen weißes Tuch auf den Tisch und schob es hinüber zu Richard. Als er danach greifen wollte, tropfte etwas Tinte von seiner Feder auf das Tuch.
Mit einem gemurmelten »Tut mir leid« legte er die Feder fort und zog das Tuch zu sich heran. »Und worum handelt es sich nun?«
Als sie keine Anstalten machten, sich zu erklären, warf er Cara einen Blick zu. Die zuckte nur die Achseln. »Sie haben sehr nachdrücklich darauf bestanden, dass Ihr einen Blick darauf werft.«
Einer deutete mit seinen flachen Händen eine Bewegung des Öffnens an, wiederholte die Geste dann.
»Ihr wollt, dass ich es auseinanderfalte?«
Die sechs nickten.
Obwohl das Tuch sich nicht so anfühlte, als könnte irgendetwas darin verborgen sein, ging Richard daran, seine Lagen auseinanderzufalten. Nicci, die neben den sechs stand, beugte sich über den Tisch, um zuzuschauen.
Als er die letzte Lage zur Seite klappte, wurde in der Mitte des Tuches ein einzelnes weißen Sandkorn sichtbar.
Abrupt blickte er auf. »Woher habt ihr das?«
Alle sechs wiesen nach unten.
»Bei den Gütigen Seelen«, entfuhr es Nicci leise.
»Was ist denn?« Cara beugte sich über den Tisch, um das einzelne weiße Sandkörnchen in Augenschein zu nehmen, das in der Mitte des Tuches lag. »Was ist das?«
Richard blickte auf und sah ihr ins Gesicht. »Zauberersand.«
Da diese Leute Angehörige des Grabkammerpersonals waren, konnte dies nur bedeuten, dass sie es irgendwo unten in der Gruft gefunden hatten. Obwohl der Zauberersand ein buntes, regenbogenfarbenes Licht verströmte, war er einigermaßen erstaunt, dass sie ein einzelnes Korn davon entdeckt hatten.
Zudem fragte er sich, wo sie wohl darauf gestoßen waren - und ob es vielleicht noch mehr davon gab.
»Könnt ihr mir den Fundort zeigen?«
Alle sechs nickten heftig.
Vorsichtig faltete er das Tuch wieder um das einzelne Sandkorn. Dabei fiel ihm auf, dass der Tintentropfen, weil das Tuch zuvor noch gefaltet gewesen war, zwei absolut identische Flecken auf den gegenüberliegenden Lagen des Tuches hinterlassen hatte.
Einen Moment lang betrachtete er sie nachdenklich.
Dann stopfte er das Tuch in seine Tasche und sagte: »Gehen wir. Bringt mich zu der Stelle.«