14

Zedd führte Nicci und Cara in einen Bereich der Burg der Zauberer, von dem Nicci wusste, dass er aus einem von mehrschichtigen Schilden schwer bewachten Labyrinth aus Fluren und Gängen bestand. In Wandhalterungen angebrachte Glaskugeln leuchteten eine nach der anderen auf, sobald sie sich ihnen näherten, nur um, kaum waren sie vorüber, wieder zu erlöschen. Die Burg erschien ihr wie ein riesiger, bedrückender Ort der Stille, und das nicht nur wegen ihrer ungeheuren Größe, sondern auch ihrer Unübersichtlichkeit. Sie hatte nicht die leiseste Vorstellung, welcher Arger Zedd so besorgt gestimmt hatte. Sie waren noch nicht weit gekommen, als Rikka, Tom, der blonde D’Haraner aus Richards Elitegarde, sowie Friedrich, der alte Goldschmied, aus einem Lesesaal traten und sich der schweigenden Prozession anschlossen. Nicci vermutete, dass sie dort alle auf das Erwachen nach ihrer Begegnung mit Sechs gewartet hatten. Dass Zedd sie vermutlich gebeten hatte, sich dort bereitzuhalten, steigerte ihre wachsende Besorgnis noch.

»Ihr seht schon sehr viel besser aus als gestern Abend«, bemerkte Rikka, als sie in ein gemütliches Zimmer gelangten, in dem Hunderte von Gemälden in allen Größen hingen. Die Gemälde, allesamt mit einem kunstvollen Blattgoldrahmen versehen, bedeckten die gesamte Wandfläche.

»Danke. Es geht mir wieder gut.«

Ihr fiel auf, dass es sich bei den Gemälden ausschließlich um Porträts handelte, wenngleich in sehr unterschiedlichen Stilrichtungen. Auf manchen waren die in feierliche Gewänder gehüllten Personen in steifer Pose sitzend dargestellt, andere zeigten sie ganz beiläufig in prachtvollen Gärten, in Gespräche unter prunkvollen Säulen vertieft, oder entspannt auf Bänken im Burghof sitzend.

Auf vielen bildete die Burg der Zauberer oder Teile davon den Hintergrund. Es stimmte ein wenig erschreckend und auch traurig, zu sehen, dass all diese Menschen einst auf der Burg gewohnt hatten, als dieser Ort noch voller Leben war. Dadurch wirkte sie jetzt noch verlassener und öder.

Rikka betrachtete Nicci von der Seite her von Kopf bis Fuß. »War das Nachthemd vorher nicht rosafarben?«

»Ich kann Rosa nicht ausstehen.«

Rikka schien enttäuscht. »Ach, tatsächlich? Als Cara und ich es Euch überzogen, fand ich, es machte Euch noch hübscher.«

War Nicci anfangs noch verblüfft, eine solche Bemerkung ausgerechnet aus dem Munde einer Mord-Sith zu hören, so wurde ihr die Geschichte mit dem Nachthemd nun schlagartig klar. Rikka war eine Frau, die einen Ausweg aus der Tristesse ihres früheren Wahns zu finden versuchte, die versuchte, ihre emotionalen Ketten abzuwerfen, Verhaltensweisen, die man ihr von klein auf eingebläut hatte. Zeit ihres Lebens war ihre Welt von Hässlichkeit und Gewalt geprägt gewesen. Das rosafarbene Nachthemd dagegen stand für Anmut und Unschuld - Dinge, die einer Mord-Sith verboten waren. Indem sie gegenüber Nicci ihre Bewunderung für etwas so Einfaches bekundete, erkundete sie die Möglichkeit, etwas Anziehendes und Harmloses schön zu finden - einem Traum nachzuhängen -, ganz so, wie ein junges Mädchen ein hübsches Kleid für seine Puppe nähte. Es war eine ästhetische Prüfung, eine Erkundung der eigenen Sehnsüchte.

»Danke«, sagte Nicci und fügte nach kurzem Nachdenken hinzu: »Es ist sehr hübsch, nur war es für mich halt die falsche Farbe, weiter nichts. Was meint Ihr? Sobald ich mich angezogen habe, gebe ich ihm seine alte Farbe zurück, dann könnt Ihr es haben.«

Argwohn schlich sich in Rikkas Miene. »Ich? Ich weiß nicht, ob -«

»Es würde Euch wunderbar stehen, ehrlich. Das Rosa würde ausgezeichnet zu Eurem Teint passen.«

Rikka wirkte ein wenig verwirrt und unsicher. »Wirklich?«

Nicci nickte. »Es wäre wie für Euch gemacht. Ich möchte wirklich, dass Ihr es nehmt.«

Rikka zögerte einen Moment, schließlich meinte sie: »Also gut, ich denke darüber nach.«

»Ich werde es waschen und dafür sorgen, dass der Rosaton genau Euren Geschmack trifft.«

Ein Lächeln huschte über Rikkas Gesicht. »Danke.«

Nicci wünschte, Richard könnte hier sein und dieses verhaltene Lächeln sehen, das so riskant für eine Mord-Sith war. Er hätte verstanden, dass dieser scheinbar so belanglose Schritt für diese Frau eine gewaltige Veränderung bedeutete. Sie vermisste ihn, hätte alles dafür gegeben, sein Lächeln zu sehen, dieses Lächeln, in dem sich alles widerzuspiegeln schien, was gut und anständig war. Sie vermisste ihn so sehr, dass sie hätte in Tränen ausbrechen mögen.

Rikka warf ihr einen Seitenblick zu. »Ist alles in Ordnung mit Euch? Diese Hexe hat Euch doch keinen bleibenden Schaden zugefügt? Ihr wirkt ein wenig, wie soll ich sagen ... geknickt.«

Nicci tat ihre Besorgnis mit einer unwirschen Handbewegung ab und wechselte das Thema. »Habt Ihr eigentlich Rachel inzwischen gefunden?«

Sie verließen gerade eine steinerne Kammer, deren Wände mit Teppichen von Landschaftsbildern behängt waren, und gelangten auf einen breiten, holzvertäfelten Flur, als die Mord-Sith Nicci mit einem eigentümlichen Blick bedachte. »Nein. Heute Morgen in der Frühe kam Chase zurück und berichtete, er hätte draußen vor der Burg Fußspuren gesehen. Gleich darauf hat er sich auf die Suche nach ihr gemacht.«

Rachel war für Rikka eine weitere Verbindung zu den einfachen Freuden des Lebens. Nicci wusste, dass sie die Kleine sehr mochte, auch wenn sie es niemals auch nur annäherungsweise zugegeben hätte.

»Ich weiß nicht, was in sie gefahren ist«, sagte Zedd über seine Schulter, als er sie um eine Ecke in einen schmaleren Flur führte. »Einfach wegzulaufen sieht ihr gar nicht ähnlich.«

»Glaubt Ihr, es könnte vielleicht etwas mit dem Auftauchen von Sechs zu tun haben?«, schlug Nicci vor. »Vielleicht steckt sie ja dahinter.«

Rikka schüttelte den Kopf. »Chase meinte, er hätte außer Rachels Spuren keine anderen gesehen, und ganz bestimmt keine von Sechs.«

»Denkt Ihr das Gleiche wie ich?«, wandte sich Cara an Nicci. »Ihr meint den Unterricht, den Richard uns damals im Spurenlesen gegeben hat?«

Cara nickte. »Er meinte, es wäre möglich, Spuren mithilfe von Magie zu verbergen.«

»Das ist wohl richtig«, warf Zedd ein. »Nur ist Rachel schon vor Sechs’

Auftauchen verschwunden. Hätte sie versucht, ihre Spuren mithilfe von Magie zu verbergen, warum dann nur ihre eigenen und nicht auch Rachels? Was hätte das für einen Sinn?«

Unvermittelt blieb Nicci stehen und wandte sich noch einmal herum zu der Türöffnung, durch die sie gerade getreten waren. Zu beiden Seiten des schmalen Portals standen vergoldete Pfeiler, die einen mächtigen Querbalken mit geschnitzten Symbolen stützten.

Sie betrachtete sie stirnrunzelnd. »War hier vorher nicht ein Schild?«

Zedds verdrießlicher Gesichtsausdruck verriet ihr, dass sie sich nicht getäuscht hatte. Er setzte sich wieder in Bewegung, und die an deren mussten sich beeilen, um aufzuschließen. Am Ende des Flurs bog er rechts in einen Durchgang ein, der zu einer Wendeltreppe führte. Verglichen mit den breiten Prunktreppen in der Burg der Zauberer war die Wendeltreppe eher schmal, im Vergleich mit einer gewöhnlichen Wendeltreppe war sie jedoch bemerkenswert. Die Tritte waren so breit, dass in der Mitte, wo ihre Anordnung bequem war und in einem vernünftigen Verhältnis zur Steigung stand, zwei Personen nebeneinander gehen konnten. Wegen der großzügigen Anlage des Treppenhauses musste man allerdings am äußeren Rand der Tritte mehrere Schritte bis zur nächsten Kante zurücklegen. Zudem folgten die Stufen einer eigentümlichen Krümmung, einer Art abfallenden korkenzieherähnlichen Ellipse, was eine gewisse Irritation bewirkte und einiges an Aufmerksamkeit erforderte, wollte man angesichts dieser ungewöhnlichen Anordnung nicht stürzen. Während des Abstiegs erkannte Nicci schließlich, dass man die Stufen so angelegt hatte, um eine mit glitzernden Mineralien durchsetzte Felsformation zu umgehen und anschließend zu unterführen.

Am Fuß der Treppe mündete ein kurzer Durchgang in den bereits vertrauten Spalt im Berg, der die Räume des Eindämmungsfeldes vom Muttergestein des eigentlichen Berges trennte. Jetzt waren sie der Stelle sehr nahe, wo die Hexe sie überrascht hatte.

»Hier«, verkündete Zedd und blieb stehen. »Hier ist es zuerst aufgetreten.«

Er wies an den perfekt eingepassten Steinquadern der Mauer gegenüber der groben, aus dem Granit des Berges geschlagenen natürlichen Wand empor.

Als Nicci an der Mauer entlangblickte, bemerkte sie einige dunkle Flecken, die nicht natürlichen Ursprungs zu sein schienen. Sie ließ den Blick mehrere Dutzend Fuß an der Mauer emporschweifen und entdeckte da und dort die gleichen dunklen Verfärbungen. Es sah so aus, als sickere irgendeine Substanz aus dem Gestein.

»Was mag das sein?«

Zedd wischte mit dem Finger über eine der dunklen Stellen und hielt ihn ihr vors Gesicht. »Blut.«

Mit zusammengekniffenen Augen betrachtete Nicci die zähflüs sige, feuchtrote Substanz an seinem Finger. Sie sah dem Zauberer wieder in die Augen. »Blut?«

Er nickte ernst. »Blut.«

»Echtes Blut?«

»Echtes Blut«, bestätigte er.

»Vielleicht von irgendwelchen Tieren?« Nicci musste an die Unmengen von Fledermäusen denken, die, von der Hexe aufgescheucht, durch ebendiese Flure geflüchtet waren. »Vielleicht von den Fledermäusen?«

»Menschenblut«, widersprach der Zauberer. Einen Augenblick lang verschlug es ihr die Sprache. Sie sah Cara an.

»Doch, wir sind absolut sicher«, beantwortete die Mord-Sith ihre unausgesprochene Frage.

»Ich geb’s auf«, meinte sie schließlich. »Wie kann es sein, dass Menschenblut aus dem Gestein dieser Mauer sickert?«

»Nicht nur aus dieser Mauer und in diesem Gang«, verbesserte Zedd. »Es sickert an verschiedenen, über die ganze Burg verteilten Stellen aus dem Gestein. Das Auftreten scheint keinem bestimmten Muster zu folgen.«

Abermals besah sich Nicci einige der dicken Tropfen, die an der Wand herunterliefen. Sie mochte sie nicht berühren.

»Nun«, meinte sie schließlich, »das bedeutet ganz sicher Ärger, nur weiß ich nicht, welcher Art.« Sie richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf Zedd. »Habt Ihr eine Ahnung, was es bedeuten könnte?«

»Es bedeutet, die Burg selbst blutet - in gewisser Weise. Es bedeutet, dass sie im Sterben liegt.«

Ob seiner Bemerkung konnte Nicci ihn nur fassungslos anstarren. »Sie liegt im Sterben?«

Zedd machte ein grimmiges Gesicht und nickte. »Dieser Schild dort hinten, nach dem Ihr Euch erkundigt habt - er befindet sich seit Jahrtausenden in diesem Gang. Jetzt ist er außer Kraft. Überall in der gesamten Burg versagen Schilde. Das gesamte Gefüge der Burg ist ernstlich in Gefahr.

So talentiert Sechs auch sein mag, es hätte ihr niemals möglich sein dürfen, bis hierher vorzudringen, ohne dass die Alarmanlagen aus gelöst wurden. Aber das ist nicht geschehen. Sie haben ebenfalls versagt. Deshalb wussten wir auch nicht, dass sie sich in der Burg befand. Nur dadurch konnte es ihr gelingen, sich an uns heranzuschleichen. Wäre die Burg intakt, hätten die Schilde - selbst bei einem Versagen der Alarmanlagen, oder wenn sie aus irgendeinem Grund überwunden worden wären - nicht nur verhindert, dass sie sich frei bewegen, sondern auch, dass sie überhaupt so weit ins Innere der Burg vordringen konnte. Dies hier ist ein gesicherter Bereich. Sie hätte einfach nicht bis hier unten vordringen dürfen, und doch hat sie einen Weg gefunden, die noch funktionierenden Schilde zu umgehen, so dass sie sich nach Belieben bewegen konnte.

Und der Grund dafür isj; allein dieser Defekt.« Er wies auf die blutenden Mauern. »Die Burg war zu krank, um ihr Eindringen zu verhindern oder, nachdem dies bereits geschehen war, sie aufzuhalten. Soweit ich weiß, ist eine solche Störung noch nie vorgekommen. Zwar sind auch schon in der Vergangenheit Personen unbefugt ins Burginnere vorgedrungen, aber nicht, weil die Burg selbst in ihrer Funktion versagt hätte, sondern weil diese Eindringlinge klug waren oder außergewöhnliche Talente besaßen, oder auch, weil sie Hilfe von drinnen hatten. Sechs dagegen ist ganz alleine hier hereinspaziert. Sie musste lediglich ein paar Umwege machen, um die noch funktionierenden Schilde zu umgehen.«

»Die Chimären ...«, entfuhr es Nicci tonlos, der plötzlich ein Licht aufging.

Zedd pflichtete ihr nickend bei. »Richard hatte recht.« »Lässt sich etwas dagegen tun?«

»Schon. Vorausgesetzt, es gelingt uns, ihn zu finden und dazu zu bringen, das korrekte Kästchen der Ordnung zu öffnen. Der Feuerkettenbann ist ebenfalls durch die Chimären verunreinigt. Und dies ist der Beweis dafür, dass alle Magie von ihnen verunreinigt wurde -genau wie Richard es uns erklärt hat. Er muss die Macht der Ordnung entfesseln und darauf hoffen, die Welt dadurch nicht nur von dem Feuerkettenbann, sondern auch von der durch die Chimären in der Welt des Lebens hinterlassenen Verunreinigung zu säubern.«

Nicci neigte den Kopf zur Seite. »Die Macht der Ordnung wurde zu einem ganz bestimmten Zweck erschaffen, Zedd, als Gegenmittel gegen den Feuerkettenbann. Sie wird kaum andere magische Kräfte aufspüren, die uns zu schaffen machen, und diese ebenfalls beseitigen. Dafür wurde sie nicht geschaffen.«

Zedd strich einige Strähnen seines weißen Haars glatt und wählte seine Worte mit Bedacht. »Ihr habt selbst davon gesprochen, dass die Macht der Ordnung, wie jede andere Kraft auch, für Ziele jenseits ihres eigentlichen, eng umrissenen Verwendungszwecks eingesetzt werden kann. Genau das muss Richard jetzt tun.«

Nicci wusste nicht, ob ein so erschöpfendes Vorgehen klug oder auch nur möglich wäre, fand aber nicht, dass dies der rechte Ort oder Zeitpunkt war, darüber zu diskutieren. Noch waren sie weit davon entfernt, Richard einen solchen Versuch wagen zu lassen, zunächst mussten sie ihn erst einmal finden. Danach würde das Öffnen der Kästchen noch Schwierigkeiten aufwerfen, die sie Zedd noch nicht einmal ansatzweise enthüllt hatte, weil sie ihn nicht über Gebühr hatte beunruhigen wollen. Schwierigkeiten hatten sie ohnehin schon mehr als genug.

»Bis dahin«, sagte Zedd, »müssen wir die Burg evakuieren.«

Nicci war entsetzt. »Aber wenn die Burg geschwächt ist, müssen wir das genaue Gegenteil tun und sie verteidigen. Hier lagern Dinge von unschätzbarem Wert, die wir unter keinen Umständen in die falschen Hände geraten lassen dürfen. Wir dürfen nicht riskieren, dass die hier aufbewahrten mächtigen magischen Gegenstände - die noch funktionierenden jedenfalls - Jagang oder den Schwestern in die Hände fallen. Ganz zu schweigen von den Bibliotheken.«

»Aus ebendiesem Grund müssen wir sie verlassen«, beharrte Zedd.

»Anschließend kann ich die Burg in einen Zustand versetzen, der sie vollkommen unzugänglich macht. Soweit ich weiß, ist das bislang noch nie versucht worden, aber eine andere Lösung sehe ich nicht.«

Niccis Blick wanderte zu dem aus dem Mauerwerk sickernden Blut empor. »Wenn die Burg tatsächlich krank ist und ihre Magie versagt, wie könnt Ihr dann so etwas tun und auch noch erwarten, dass es funktioniert?«

»In den alten Schriften über die Schutzvorrichtungen der Burg findet sich auch eine Erklärung zu den blutenden Wänden. So schaurig dieses Phänomen sein mag, es zeigt, wie schwerwiegend die Probleme der Burg tatsächlich sind. Soweit ich weiß, ist dergleichen noch nie vorgekommen. Es ist das erste Mal, dass eine solch drastische Warnung notwendig wurde. Es ist halt eines der Dinge, die ich bei meinem Amtsantritt als Oberster Zauberer über diesen Ort lernen musste.

In denselben Quellen werden die Notmaßnahmen beschrieben, die es in diesem Falle zu ergreifen gilt. Es gibt eine Möglichkeit, die Burg abzuriegeln, indem man sie in einen Zustand erhöhter, noch nicht degenerierter Energie versetzt.«

Nicci fand allein schon die Vorstellung beunruhigend. »In einen Zustand erhöhter Energie?«

»Es befand sich im Lager - ich habe einen ganzen Tag gebraucht, um es zu finden.«

»Was?«

Zedd wies auf eine nahe, messingverkleidete Tür, hinter der sich das Kästchen der Ordnung befunden hatte, bevor es von Sechs entwendet worden war. »Ein Knochenkästchen. Es befindet sich dort drinnen und hat die ungefähre Größe eines Kästchens der Ordnung. Es besteht zwar aus Bein, allerdings weiß ich nicht, von welchem Tier. Außen ist es über und über mit alten Symbolen bedeckt und enthält einen entworfenen Bann, der angeblich auf das Wesen des Hüters abgestimmt ist. Entworfen wurde der Bann von denselben Zauberern, die auch die Burg mit ihren zahlreichen Schutzvorrichtungen ausgestattet haben. Man könnte es mit einer kleinen Menge Originalteig vergleichen, den man zurückbehält, um jederzeit wieder den gleichen Brottyp backen zu können. Der Bann enthält einige Elemente der Originalmagie der Burg. Ziemlich findig, wenn man es sich überlegt.«

»Wie lange wird er nach seiner Aktivierung Bestand haben, ehe er wegen der Verunreinigung durch die Chimären ebenfalls degeneriert?«

Zedd machte ein Gesicht und schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung. Nach den Schriften, die ich studiert habe, und den von mir durchgeführten Tests könnte sich dieser Zustand eine Weile halten, aber mit absoluter Sicherheit lässt sich das nicht sagen. Wir können es nur versuchen.«

»Und wenn er bereits von den Chimären beeinträchtigt ist?«, wandte Friedrich ein. »Schließlich ist die Burg selbst infiziert, und dieser Bann ist Bestandteil ihrer ursprünglichen Energie.«

Friedrich war den größten Teil seines Lebens mit einer Hexenmeisterin verheiratet gewesen und wusste eine Menge über Magie, auch wenn er selbst nicht mit der Gabe gesegnet war.

»Einige der beeinträchtigten Teile der Burg, wie die Alarmanlagen, habe ich anhand von Prüfnetzen zu kontrollieren versucht, aber wegen der bereits vorhandenen Beeinträchtigung war das nicht möglich. Die Prüfung des Banns in dem Knochenkästchen verlief einwandfrei. Meinen Tests zufolge ist es noch intakt.«

»Wieso können wir nicht hierbleiben und die Burg in ihren Schutzzustand versetzen?«, schlug Cara vor.

»Zu gefährlich«, erklärte ihr Zedd. »Die Notmaßnahme ist noch nie zuvor zum Einsatz gekommen. Weder kenne ich ihr genaues Wesen, noch weiß ich, wie sie funktioniert. Die Hinweise, die ich durchgesehen habe, besagen lediglich, dass dieser Zustand ein Betreten unmöglich macht. Ich kann nur vermuten, dass eine solche Notmaßnahme mit möglichen Eindringlingen nicht eben glimpflich verfährt. Allem Anschein nach handelt es sich um eine Art Lichtbann, und nach meinen begrenzten Kenntnissen über die Bedingungen im Innern der Burg in diesem Zustand wäre ein Aufenthalt hier vermutlich sehr gefährlich. Denn woher wollen wir wissen, dass sich nicht längst Eindringlinge in der Burg befinden?«

Cara straffte sich. »Etwa jetzt, in diesem Augenblick?«

»Aber ja. Wenn die Schutzvorrichtungen der Burg versagen und die Alarmanlagen nicht funktionieren, woher wollen wir dann wissen, dass hier nicht irgendjemand herumspaziert, der hier nichts zu suchen hat? Unseres Wissens könnte selbst Sechs noch hier herumschleichen, schließlich hat Chase nach eigenem Bekunden keine Spuren gefunden, die auf ihr Verlassen hindeuten. Auch Schwestern der Finsternis hätten sich einschleichen können. Es gibt einfach keine verlässliche Methode, das zu erkennen.

Noch besorgniserregender ist, dass Feinde durch die Sliph eindringen könnten. Richard ist der Einzige, der sie in den Schlaf versetzen kann, wir können das nicht. Aufgrund ihrer Natur kann die Sliph niemandem ihre Dienste verweigern, der sie darum bittet und über die geeignete Kraft verfügt. Jagang könnte Schwestern der Finsternis hindurchschicken. Wir sind zu wenige, um sie Tag und Nacht zu bewachen, oder zumindest besitzen zu wenige von uns die nötige Kraft, um bei einem Angriff der Schwestern auch nur eine Chance auf Gegenwehr zu haben.

All dies macht die Burg anfällig für Übergriffe aller Art. Von einem solchen Bann dagegen muss man annehmen, dass er aufgrund seiner Natur jeden innerhalb der Burg vernichtet. Da es sich um ein Mittel für den äußersten Notfall handelt, könnte ein Verbleiben innerhalb der Burg für uns also ebenso tödlich sein. Deswegen müssen wir sie verlassen, bevor wir den Schutzstatus auslösen.«

»Und wie kommen wir nachher wieder hinein?«, wollte Cara wissen.

»Nun, erst einmal werde ich die Burg vollkommen abriegeln müssen. Die Abfolge zur Inaktivierung des Banns ist mir bekannt, doch ist sie einmal abgeriegelt, kann der Bann vermutlich nicht reaktiviert werden. Wir dürfen sie also auf keinen Fall abriegeln, ehe dies aus irgendeinem Grund absolut erforderlich wird, oder die Verunreinigung durch die Chimären aus der Welt des Lebens entfernt werden kann.«

Nicci tat einen schweren Seufzer. »Ich wüsste nicht, was dagegenspräche. Im Moment scheint dies die einzige Möglichkeit, die Burg zu retten.«

»Zumal wir«, fügte Zedd hinzu, »hier nicht einfach länger tatenlos herumsitzen können.«

»Nein«, gab Nicci ihm recht. »Vermutlich nicht.« In Gedanken war sie bereits bei den Dingen, die es zu erledigen galt. Es gab jede Menge von Orten, die sie aufsuchen musste.

»Mir scheint«, sagte Zedd und ließ den Blick über die seiner Entscheidung Harrenden wandern, »zuerst einmal müssen wir dafür sorgen, dass Richard seine Kraft wiedererlangt. Vermutlich wäre es sehr hilfreich für ihn, wenn sich die Verbindung zu seiner Gabe wiederherstellen ließe. Wir haben Grund zu der Annahme, dass sie durch einen in den heiligen Höhlen von Tamarang gezeichneten Bann gekappt wurde. Falls keiner eine bessere Idee hat, schlage ich vor, wir begeben uns dorthin und helfen ihm, indem wir das, was immer ihn von seiner Gabe trennt, zerstören.«

Die beiden Mord-Sith nickten. »Wenn es Lord Rahl hilft, würde ich sagen, machen wir uns auf den Weg.«

»Einverstanden«, sagte Tom.

»Ich fürchte, ich würde euch nur behindern«, meinte Friedrich. »Ich bin nicht mehr der Jüngste. Vielleicht bleibe ich am besten in der Gegend, für den Fall, dass Richard sich hier blicken lässt. Er wird über die Vorfälle unterrichtet werden müssen. Außerdem kann ich die Burg dann von außen im Auge behalten.«

»Klingt vernünftig«, meinte Zedd.

»Ich denke, ich sollte stattdessen besser zum Palast des Volkes aufbrechen«, sagte Nicci.

Zedd runzelte die Stirn. »Wieso?«

»Nun, ich kann die Sliph benutzen und vom Palast des Volkes direkt in die Gegend von Tamarang reisen, um Euch dort zu treffen. Da die Sliph erheblich schneller ist, bliebe mir etwas Zeit, einige Dinge im Palast zu überprüfen.«

»Zum Beispiel?«, fragte Zedd.

»Jetzt, da Richard verschollen und von seiner Gabe abgeschnitten ist, tritt Nathan in seiner Eigenschaft als Lord Rahl auf. Allein diese Bande verhindern noch, dass der Traumwandler in unsere Gedanken eindringt. Ich möchte wissen, wie er damit zurechtkommt.«

Zedd nickte nachdenklich.

»Außerdem gibt es im Palast, so wie hier, mit Magie gespeiste Schutzvorrichtungen«, fuhr Nicci fort. »Ann und Nathan müssen also unterrichtet werden, dass die Chimären im Begriff sind, diese Magie zu beeinträchtigen. Sie müssen wissen, was hier vorgefallen ist, damit sie im Gegensatz zu uns vorbereitet sind, sollte dort das gleiche Phänomen auftreten.

Aber vor allem müssen wir die Kästchen der Ordnung wiederbeschaffen. Sechs stammt aus der Alten Welt, dort haben auch Ann und Nathan lange Zeit gelebt. Auch wenn sie angeblich nichts über sie wissen, können sie uns vielleicht inzwischen einen Hinweis geben. Damals, in der Alten Welt, war Sechs überaus verschwiegen. Vielleicht weiß trotzdem jemand etwas über sie, jemand, den die beiden mir nennen könnten. Zurzeit wissen wir so gut wie nichts über diese Hexe. Wir sind also auf jeden Hinweis angewiesen.

Ich habe keine Ahnung, wo ich nach ihr suchen soll, aber dort könnte ich wenigstens mit meinen Fragen ansetzen.«

Zedd seufzte. »Klingt einleuchtend. Aber wenn Ihr etwas heraus findet, kommt Ihr zuerst zu mir nach Tamarang, ehe Ihr auf die Idee kommt, Euch selbst auf die Suche zu machen. Gut möglich, dass wir in Tamarang Eure Hilfe brauchen, und bei der Frage, wie Ihr mit Sechs fertig werden wollt, werdet Ihr meine Hilfe ganz gewiss benötigen. Sie hat ihre Gefährlichkeit hinlänglich bewiesen, Ihr werdet Euch nicht einfach an sie heranschleichen und ihr das Kästchen abnehmen können. Sobald wir einen Hinweis auf ihren möglichen Aufenthaltsort bekommen, werden wir uns zusammentun und einen Plan überlegen müssen.«

»Einverstanden«, sagte Nicci. »Und was ist mit der Sliph - nachdem ich in ihr gereist bin, meine ich? Wird sich jemand auf dem umgekehrten Weg in die Burg einschleichen können?«

»Der Schutzbann hat für die Eingangspunkte besondere Sicherungsvorkehrungen vorgesehen. Die Sliph wird Verzweigungen des Bannes zeichnen, so dass dieser Eingangspunkt wie alle anderen unüberwindbar wird. Sobald Ihr durch die Sliph aufgebrochen seid, werde ich den Bann aktivieren.«

»Ich werde Euch begleiten«, sagte Cara zu Nicci. Es war keine Bitte.

»Dann gehe ich mit Zedd«, entschied Rikka. »Eine von uns muss ja auf ihn aufpassen.«

Zedd warf ihr einen säuerlichen Blick zu, enthielt sich aber eines Kommentars.

Cara ließ ihren blonden Zopf durch die Hand gleiten. »Hört sich vernünftig an. Dann ist es also abgemacht.«

Es war, als ob die beiden festlegten, wie die Operation durchgeführt werden sollte. Allmählich begann Nicci Richard für seine bemerkenswerte Nachsicht zu bewundern.

»Suchen wir unsere Sachen zusammen«, schlug Zedd vor. »Es wird bald hell.«

Nicci nahm Rikka am Ellbogen beiseite. »Sobald ich mich umgezogen habe, mache ich Euch das Nachthemd fertig, damit Ihr es zu Euren Sachen packen könnt.«

Erneut huschte ein Lächeln über Rikkas Gesicht. »Ja, gut.«

Die Aussicht, etwas Schönes zu besitzen, etwas, das nichts mit dem Anzug einer Mord-Sith zu tun hatte, schien sie in eine Art stille Aufregung zu versetzen. Nicci versuchte, sich ganz auf diesen erfreuliehen Gedanken zu konzentrieren und ihre Nervosität über ihre neuerliche Reise in der Sliph abzustreifen. Schließlich würde ihr Richard diesmal nicht zur Seite stehen.

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