Richard hockte mit vor die Brust gezogenen Knien im schwindenden Licht, lauschte auf die niemals nachlassende Geräuschkulisse des feindlichen Armeelagers jenseits des Rings aus Wagen und Bewachern und stieß einen verzweifelten Seufzer aus. Kaum zu fassen, dass es Jagang irgendwie gelungen war, Nicci gefangen zu nehmen! Ihm war unbegreiflich, wie es dazu hatte kommen können. Es machte ihn ganz krank, sie mit dem Rada’Han um den Hals zu sehen. Ihm war, als ginge die ganze Welt in die Brüche.
So sehr es ihn bei dem Gedanken auch grauste: Es schien, als wäre die Imperiale Ordnung nicht mehr aufzuhalten. Wer immer ein selbstbestimmtes Leben führen wollte, wurde ganz gezielt von den unzähligen Anhängern der Imperialen Ordnung unterjocht, Menschen, die mit fanatischer Inbrunst einem deprimierend heuchlerischen Glauben anhingen und geradezu besessen davon waren, ihn allen anderen aufzuzwingen. Ein Vorhaben, das dem Wesen des Glaubens hohnsprach, doch das scherte diese Gläubigen nicht. Wer sich ihrem Glauben nicht unterwarf, der war des Todes.
Diese Gläubigen zogen, wohin es ihnen beliebte, wann es ihnen beliebte, und metzelten jeden nieder, der ihnen im Weg stand. Mittlerweile beherrschten sie die Neue Welt ebenso wie die Alte, waren sogar bis in das entlegene Westland vorgedrungen, jenes Land, in dem er aufgewachsen war.
Ihm war, als hätte die ganze Welt den Verstand verloren. Schlimmer noch, Jagang war im Besitz von mindestens zweien der Kästchen der Ordnung und schien die Dinge bestens im Griff zu haben. Und nun hatte er auch noch Nicci in seiner Gewalt.
Aber wenn es ihm das Herz brach, sie mit dem goldenen Ring der Sklavin in der Unterlippe zu sehen, sie erneut als Gefangene jenes Mannes zu sehen, der sie in der Vergangenheit so fürchterlich missbraucht hatte, so brachte es sein Blut zum Kochen, auch Kahlan in der Gewalt dieses Mannes zu sehen.
Zudem empfand er es als überaus entmutigend, dass sie sich nicht an ihn erinnerte. Sie war ihm wichtiger als alles andere auf der Welt - sie war seine Welt. Und nun kannte sie nicht einmal mehr seinen Namen. Ihre Stärke, ihr Mut, ihr Mitgefühl, ihre Klugheit und das besondere Lächeln, das sie sich nur für ihn aufsparte, all das war stets in seinen Gedanken und würde es bis zum Tag seines Todes bleiben. Er erinnerte sich noch gut an ihren Hochzeitstag, an die Liebe, die sie für ihn empfunden hatte, und wie glücklich sie gewesen war, einfach nur in seinen Armen zu liegen. Ihr dagegen war all das entfallen. Alles würde er tun, um sie zu retten, sie wieder zu der zu machen, die sie tatsächlich war, ihr ihr altes Leben zurückzugeben und ihr wieder einen Platz in seinem zu geben. Doch ihre frühere Persönlichkeit existierte nicht mehr. Der Feuerkettenbann hatte ihnen beiden alles genommen. Im Grunde spielte es keine Rolle mehr, wie sehr er sich wünschte, sein Leben mit ihr zu verbringen, oder sich wünschte, anderen möge dieses Glück beschieden sein. Die Anhänger der Imperialen Ordnung hatten ihre eigenen Pläne für die Menschheit.
In diesem Augenblick erschien ihm die Zukunft nur freudlos und trist. Aus den Augenwinkeln sah er Johnrock zu sich herüberrobben. Die schwere Kette rasselte, als der hochgewachsene Mann sie über den harten, steinigen Boden schleifte.
»Du musst essen, Rüben.«
»Hab ich schon.«
Johnrock wies auf das halb aufgegessene Schinkenstück, das Richard auf seinem Knie balancierte. »Aber nur die Hälfte. Du musst für das Spiel morgen bei Kräften sein. Du solltest etwas essen.«
Beim Gedanken an das, was am nächsten Tag passieren würde, schnürte sich Richards Magen vor banger Besorgnis noch fester zusammen. Er hielt Johnrock das dicke Stück Schinken hin. »Ich hab genug. Wenn du willst, kannst du den Rest haben.«
Das unverhoffte Glück ließ Johnrock schmunzeln. Doch dann hielt seine Hand inne, und sein Grinsen erlosch. Er blickte Richard in die Augen.
»Bist du sicher, Rüben?«
Als Richard nickte, nahm Johnrock schließlich den Schinken und biss herzhaft hinein. Nachdem er den Bissen gekaut und runtergeschluckt hatte, stupste er Richard mit dem Ellbogen an.
»Alles in Ordnung mit dir, Rüben?«
Richard seufzte. »Ich bin ein Gefangener, Johnrock. Wie könnte da alles in Ordnung sein?«
Johnrock grinste, er dachte, Richard habe einen Scherz gemacht. Doch als der sein Lächeln nicht erwiderte, wurde auch Johnrock ernst.
»Du hast heute einen ziemlichen Schlag gegen den Kopf abbekommen.«
Er beugte sich ein wenig näher und sah ihn mit hochgezogener Braue an.
»Das war nicht eben klug.«
Richard sah zu ihm hinüber. »Was willst du damit sagen?«
»Wir hätten heute fast verloren.«
»Fast zählt nicht. Beim Ja’La gibt es kein Unentschieden. Entweder man gewinnt oder man verliert. Das ist es, was zählt.«
Richards Ton ließ ihn ein wenig zurückweichen. »Wenn du meinst, Rüben. Aber wenn dir meine Frage nichts ausmacht, was war eigentlich passiert?«
»Ich habe einen Fehler gemacht.«
»Ich hab dich noch nie einen solchen Fehler machen sehen.«
»So was kommt vor.« Richard ärgerte sich selbst, dass er einen solchen Fehler gemacht hatte, sich so hatte ablenken lassen. Er hätte es besser wissen, geschickter vorgehen müssen. »Ich kann nur hoffen, dass mir morgen nicht wieder so etwas passiert. Morgen ist der entscheidende Tag, der Tag, auf den es ankommt. Hoffentlich unterläuft mir morgen kein Patzer.«
»Das hoffe ich auch. Wir haben einen langen Weg hinter uns.« Zur Unterstreichung seiner Worte drohte Johnrock Richard mit dem dicken Schinkenstück. »Wir gewinnen nicht nur unsere Spiele, wir gewinnen mit jeder Partie auch neue Anhänger. Eine Menge Leute ma chen Stimmung für uns. Noch ein Sieg, dann sind wir die Besten, und die ganze Menge wird uns zujubeln.«
Richard betrachtete seinen Flügelstürmer. »Hast du gesehen, wie riesig die Spieler in Jagangs Mannschaft sind?«
»Mach dir deswegen keine Sorgen.« Johnrock ließ ein schiefes Lächeln aufblitzen. »Ich bin auch riesig, ich werde dir zur Seite stehen, Rüben.«
Richard konnte nicht umhin, sich seinem lächelnden Flügelstürmer anzuschließen. »Danke, Johnrock. Das weiß ich. Das tust du immer.«
»Bruce genauso.«
Richard vermutete, dass dem tatsächlich so war. Bruce war ein Ordenssoldat, gleichzeitig aber auch Mitglied einer starken Mannschaft, die es zu einem gewissen Ruhm gebracht hatte - Rubens Mannschaft, wie die meisten seiner Spieler sie mittlerweile nannten, wenn auch nicht in Kommandant Kargs Beisein. Bei den Zuschauern hießen sie die rote Mannschaft, Kommandant Karg bezeichnete sie als seine Mannschaft, untereinander jedoch nannten sie sich »Rubens Mannschaft«. Er war ihre Angriffsspitze, und mittlerweile vertrauten sie ihm. Wie einige der anderen Soldaten in der Mannschaft, hatte Bruce anfangs nur widerstrebend die mit roter Farbe aufgetragenen Symbole tragen wollen, doch jetzt trug er sie voller Stolz. Andere Soldaten jubelten ihm zu, wenn er das Spielfeld betrat.
»Das Spiel morgen wird ... gefährlich werden, Johnrock.«
Der nickte wissend. »Ich bin fest entschlossen, dafür zu sorgen.«
Wieder ging ein Lächeln über Richards Gesicht. »Pass auf dich auf, ja?«
»Meine Aufgabe ist es, auf dich aufzupassen.«
Richard schüttelte einen kleinen Stein, den er aus dem Boden gepult hatte, in seiner locker geschlossenen Hand und wählte seine Worte mit Bedacht.
»Die Zeit wird kommen, da ein Mann selbst auf sich aufpassen muss. Es gibt Momente, da-« »Da kommt Schlangengesicht.«
Die geraunte Warnung ließ Richard augenblicklich verstummen. Er blickte auf und sah Kommandant Karg durch die Linien der Bewacher stapfen. Er wirkte alles andere als glücklich.
Richard schmiss das Steinchen fort und stützte sich, als Kommandant Karg unmittelbar vor ihm stehen blieb, zurückgelehnt auf seine Hände. Staub stieg um dessen Stiefel auf. Karg stemmte die Fäuste in die Hüften.
»Was hatte das denn zu bedeuten, Rüben?«
Mit zusammengekniffenen Augen betrachtete Richard die Schuppen der Schlangenhauttätowierung, die im schwindenden Licht gerade noch zu erkennen waren. »War es Euch nicht recht, dass wir gewonnen haben?«
Statt zu antworten, richtete der Kommandant seinen wütenden Blick auf Johnrock. Der verstand und entfernte sich bis hinter das andere Wagenende, bis der Spielraum seiner Kette ausgeschöpft war und er nicht mehr weiterkonnte. Der Kommandant ging vor Richard in die Hocke. Die Schuppen seiner Tätowierung bewegten sich so, dass Richard beinahe eine echte Schlangenhaut vor sich zu sehen meinte.
»Du weißt genau, was ich meine. Was sollte dieser Unfug?«
»Ich wurde niedergeschlagen. Das versucht die gegnerische Mannschaft immer, also musste es irgendwann einmal passieren.«
»Ich habe gesehen, wie du dein Bestes zu geben versucht hast, knapp gescheitert bist und nicht punkten konntest, ich hab gesehen, wie du nach Kräften einem Angriff der Blocker ausweichen wolltest, ohne dass es dir ganz gelungen wäre, aber noch nie habe ich dich einen so dummen Fehler machen sehen.«
»Tut mir leid.« Richard sah keinen Sinn darin, zu widersprechen.
»Ich will wissen, warum.«
Richard zuckte die Achseln. »Wir Ihr schon sagtet, es war ein dummer Fehler.« Er ärgerte sich mehr über sich selbst, als der Kommandant jemals würde begreifen können. Einen ähnlichen Fehler durfte er sich morgen nicht erlauben. »Trotzdem haben wir gewonnen, was bedeutet, dass wir gegen die Mannschaft des Kaisers antreten werden. Und genau das habe ich Euch versprochen - dass ich Eure Mannschaft bis in eine Partie gegen die Mannschaft Jagangs führen werde.«
Der Kommandant richtete seine Augen nach oben und betrachtete einen Moment lang die ersten Sterne am Abendhimmel, ehe er antwortete. »Du erinnerst dich doch noch an deine Gefangennahme, oder?«
»Ja.«
Er senkte die Augen wieder und fixierte Richard mit festem Blick. »Dann weißt du auch, dass du an jenem Tag eigentlich hättest getötet werden sollen. Ich habe dich am Leben gelassen, unter der Bedingung, dass du nach besten Kräften dafür sorgst, meine Mannschaft zur Meisterschaft zu führen. Davon konnte heute nicht die Rede sein. Du hättest mit deinem dummen Spielzug die Chancen meiner Mannschaft um ein Haar verspielt.«
Richard hielt seinem Blick stand. »Seid unbesorgt, Kommandant. Morgen werde ich mein Bestes geben. Versprochen.«
»Gut.« Endlich ging ein Lächeln über die Lippen von Schlangengesicht, auch wenn es nur ein kaltes Verziehen des Mundes war. »Gut. Gewinnst du morgen, Rüben, kriegst du deine Frau.«
»Ich weiß.«
Das Lächeln wurde verschlagen. »Und ich meine, vorausgesetzt, du gewinnst morgen.«
Richards Interesse hielt sich in Grenzen. »Tatsächlich?«
Kommandant Karg nickte. »Wenn wir gewinnen, gehört die Blonde mit der tollen Figur mir.«
Jetzt war es an Richard, verständnislos aufzublicken. »Was redet Ihr da? Eine solche Frau wird Euch Jagang niemals überlassen, eine Frau, die er als seinen persönlichen Besitz gekennzeichnet hat.«
»Es handelt sich um eine kleine Wette mit dem Kaiser. Er ist so siegesgewiss, dass ich ihn überreden konnte, sein am meisten geschätztes Weibsstück auf den Ausgang zu verwetten. Ihr Name ist Nicci. Er bezeichnet sie als seine Sklavenkönigin. Jagang will sie unter keinen Umständen an mich verlieren ... Er ist geradezu besessen von ihr. Aber ich denke, du kannst sie für mich gewinnen.« Sein Blick richtete sich auf seine fernen, lustvollen Phantasien. »Das würde mir sehr gefallen - so wie es ihm vermutlich missfallen würde.« Er kehrte zum eigentlichen Thema zurück und drohte Richard mit erhobenem Finger. »Aber auch deinetwegen solltest du besser gewinnen.«
»Damit ich mir eine Frau aussuchen kann?«
»Damit du weiterleben kannst. Verlierst du morgen, erwartet dich die Todesstrafe, die du eigentlich schon nach der Ermordung meiner Männer verdient gehabt hättest.« Kommandant Kargs Lächeln kehrte zurück.
»Gewinnst du aber, kannst du dir, wie versprochen, eine Frau aussuchen.«
Richard erwiderte seinen Blick mit einem wütenden Funkeln. »Ich habe Euch bereits zugesagt, dass ich morgen mein Bestes geben werde. Und was ich verspreche, halte ich auch.«
Der Kommandant nickte. »Gut. Du gewinnst morgen, und wir alle werden glücklich sein.« Er lachte amüsiert. »Nun, Jagang wohl eher weniger - vermutlich gar nicht. Und wenn ich es mir recht überlege, auch Nicci nicht unbedingt, aber das ist nun wirklich nicht meine Sorge.«
»Und der Kaiser? Glaubt Ihr nicht, es wird ihm etwas ausmachen?«
»Oh, das wird es, zweifellos.« Wieder lachte er amüsiert. »Jagang wird außer sich sein, wenn er mir Nicci abtreten muss. Ich habe mit ihr ein paar Rechnungen zu begleichen. Und ich bin fest entschlossen, es in vollen Zügen zu genießen.«
Richard schaffte es, den Mund zu halten und gefasst zu wirken, dabei hätte er ihm am liebsten die Kette um den Hals geschlungen und ihn erdrosselt.
Kommandant Karg erhob sich. »Gewinn dieses Spiel, Rüben.«
Wütend starrte Richard auf den Rücken des Mannes, als dieser sich mit schnellen Schritten entfernte.
Als er sicher sein konnte, dass der Kommandant verschwunden war, hielt Johnrock ein Stück seiner Kette schlaff, damit sie nicht an seinem Halsring zerrte, und robbte zurück zu Richard.
»Was hat er gewollt, Rüben?«
»Er will, dass wir gewinnen.«
Johnrock lachte schnaubend. »Darauf wette ich. Als Besitzer einer Meistermannschaft kann er sich nehmen, was immer ihm beliebt.«
»Genau das macht mir Angst.« »Was?«
»Ruh dich ein bisschen aus, Johnrock. Morgen wird ein ereignisreicher Tag.«