Mit steif durchgedrücktem Rücken verfolgte Nicci, wie Zedd vor ihren Augen auf den Stuhl sank und in seine Hände weinte. Aus Angst, die Beine könnten unter ihr nachgeben, drückte sie die Knie aneinander, fest entschlossen, nicht die Beherrschung zu verlieren und in Tränen auszubrechen.
Fast wäre es ihr gelungen.
Als sie die Macht der Ordnung beschwor und die Kästchen in Richards Namen ins Spiel brachte, hatte diese Macht etwas mit ihr angestellt. Sie hatte, in gewisser Weise, dem durch den sie infizierenden Feuerkettenbann ausgelösten Schaden entgegengewirkt. Nachdem sie mit Richards Ernennung zum Spieler dann die Verbindung zu jener Macht vollendet hatte, war sie sich der Existenz Kahlans schlagartig bewusst geworden.
Nicht etwa durch die Wiederherstellung ihrer Erinnerung an sie -die war unwiederbringlich verloren -, sondern durch ein simples Wiederverbinden mit der Wirklichkeit ihrer Existenz, mit dem Hier und Jetzt.
Eine halbe Ewigkeit war Nicci im Glauben gewesen, Richards Überzeugtheit von der Existenz einer Frau, an die sich niemand erinnerte, sei nichts weiter als eine Selbsttäuschung. Selbst später noch, nachdem er das Feuerkettenbuch gefunden und ihnen nachgewiesen hatte, was tatsächlich passiert war, hatte Nicci ihm zwar geglaubt, doch fußte dieser Glaube auf ihrem Glauben an seine Person und die von ihm entdeckten Tatsachen. Es war eine rationale Erkenntnis, die allein auf mittelbaren Indizien beruhte.
Mit ihrer Erinnerung oder Wahrnehmung hatte das nichts zu tun. Sie besaß keine persönliche Erinnerung an Kahlan, auf die sie sich hätte stützen können, nur Richards Wort und die vorliegenden Beweise. Jetzt aber war sie sicher, dass Kahlan tatsächlich existierte. Und dies bedeutete, dass Kahlan für sie nicht länger unsichtbar war. Sie würde sie wahrnehmen können, wie jeden anderen auch. Der Feuerkettenbann befand sich noch in ihr, doch die Macht der Ordnung hatte ihm teilweise entgegengewirkt und die fortlaufende Schädigung zum Erliegen gebracht, was ihr eine Erkenntnis der Wahrheit ermöglichte. Ihre Erinnerung an Kahlan war noch nicht lebendig, Kahlan selbst dagegen schon.
Somit wusste sie auch, dass Richards Liebe echt war. Seinetwegen verspürte sie einen schmerzhaft freudigen Stich in ihrem Herzen, auch wenn sie aufgrund ihrer Gefühle für Richard keinen Anlass hatte. Cara kam, stellte sich neben sie und tat etwas, das Nicci von einer MordSith niemals erwartet hätte: Sie legte sachte einen Arm um ihre Hüfte und drückte sie an sich.
Zumindest hätte sich vor Richards Erscheinen keine Mord-Sith so verhalten. Mit ihm war alles anders geworden. Richards leidenschaftliche Liebe zum Leben hatte sie beide von der Schwelle des Wahnsinns gerettet. Und nun einte die beiden ein einzigartiges Verständnis für ihn, eine besondere Verbundenheit, die niemand sonst, nicht einmal Zedd, wirklich zu würdigen vermochte.
Zudem vermochte niemand außer Cara in diesem Moment Niccis Opfer zu begreifen.
»Ihr habt richtig gehandelt, Nicci«, sagte Cara leise. Zedd erhob sich. »Ja, das hat sie. Tut mir leid, meine Liebe, aber ich war unverzeihlich hart zu Euch. Ihr habt Euch das alles wirklich genau überlegt, das sehe ich jetzt. Ihr habt getan, was Ihr für richtig hieltet, und, wie ich zugeben muss, das unter diesen Umständen einzig Sinnvolle. Ich entschuldige mich für meine vorschnellen Verurteilungen. Aber meine Befürchtungen über die mit dem Gebrauch der Macht der Ordnung verbundenen Gefahren waren nicht unbegründet - immerhin weiß ich vermutlich mehr darüber als jeder andere Zeitgenosse. Ich habe sogar gesehen, wie Darken Rahl die Magie der Ordnung beschwor, weshalb ich eine etwas andere Sicht der Dinge habe als Ihr.
Auch wenn ich nicht unbedingt vollkommen einer Meinung mit Euch bin, war Euer Vorgehen eine sehr kluge und mutige, wenn auch aus Verzweiflung geborene Tat. Verzweiflungstaten mit unglaublich dürftigen Erfolgsaussichten sind auch mir nicht fremd, daher bin ich bereit einzusehen, dass sie mitunter unumgänglich sind.
Ich hoffe, Ihr habt richtig gehandelt. Das wünsche ich mir jedenfalls, auch wenn das bedeuten würde, dass ich mich getäuscht hätte.
Aber das spielt jetzt keine Rolle, getan ist getan. Ihr habt die Kästchen der Ordnung ins Spiel gebracht und Richard als Spieler genannt. Wie immer ich darüber denken mag, bezüglich unserer Ziele sind wir alle einer Meinung. Da es ohnehin nicht mehr zu ändern ist, müssen wir nach Kräften dafür sorgen, dass es funktioniert. Wir müssen Richard nach bestem Vermögen unterstützen. Scheitert er, scheitern wir alle, und das Leben wird versiegen.«
Nicci konnte ein gewisses Gefühl der Erleichterung nicht verhehlen.
»Danke, Zedd. Mit Eurer Hilfe werden wir es schaffen.«
Er schüttelte traurig den Kopf. »Mit meiner Hilfe? Womöglich bin ich nichts weiter als ein Störfaktor. Hättet Ihr mich doch nur vorher um Rat gefragt.«
»Hab ich doch«, sagte Nicci. »Ich wollte wissen, ob Ihr Richard Euer Leben, das Leben aller, anvertrauen würdet. Eine erschöpfendere Rücksprache ist doch wohl kaum vorstellbar.«
Ein Lächeln brach durch die Traurigkeit in seinem Gesicht. »Vermutlich habt Ihr recht. Gut möglich, dass der Feuerkettenbann in Verbindung mit der Verunreinigung der Chimären bereits mein Denkvermögen beeinträchtigt hat.«
»Das glaube ich keinen Augenblick, Zedd. Ich denke, Ihr liebt Richard und seid um ihn besorgt. Wäre es nicht so wichtig gewesen, hätte ich Euch niemals um Rat ersucht. Ihr habt mir gesagt, was ich wissen musste.«
»Sollte Euch noch einmal eine solche Verwirrung überkommen«, meinte Cara zu ihm, »bin ich gern bereit, Euch wieder auf den rechten Weg zu bringen.«
Zedd bedachte sie mit einem finsteren Blick. »Wie überaus tröstlich.«
»Nun, Nicci hat sich ziemlich umständlich ausgedrückt«, sagte Cara, »aber eigentlich ist es gar nicht so kompliziert. Eigentlich sollte das jeder verstehen - sogar Ihr, Zedd.«
Er runzelte die Stirn. »Was wollt Ihr damit sagen?«
Cara zuckte eine Schulter. »Wir sind der Stahl gegen den Stahl. Lord Rahl ist die Magie gegen die Magie.«
Für Cara war damit alles gesagt. Nicci fragte sich, ob die Mord-Sith wirklich nicht begriff, dass sie damit nur die Oberfläche ankratzte, oder ob sie die Zusammenhänge womöglich besser begriff als jeder andere. Vielleicht hatte sie ja recht, und die Dinge lagen wirklich so einfach.
Zedd legte ihr eine Hand auf die Schulter, so sanft, dass sie sich sofort an Richard erinnert fühlte.
»Nun, was immer Cara sagt, dies könnte unser aller Tod sein. Aber wenn das Ganze Aussichten auf Erfolg haben soll, steht uns eine Menge Arbeit bevor. Richard wird unsere Hilfe benötigen. Wir beide wissen eine Menge über Magie, er dagegen so gut wie nichts.«
Nicci lächelte. »Er weiß mehr darüber, als Ihr denkt. Immerhin hat er die Störung im Feuerkettenbann entschlüsselt. Keiner von uns hatte auch nur eine Ahnung von dieser Geschichte mit der Sprache der Symbole, Richard dagegen hat es ganz von allein aufgegriffen und sich selbst beigebracht, wie man die alten Zeichnungen und Embleme deutet. Ich habe ihm nie etwas über seine Gabe beibringen können, und doch war ich oft überrascht, wie weit sein Auffassungsvermögen über das übliche Verständnis von Magie hinausging. Er brachte mir Dinge bei, die ich mir niemals hätte träumen lassen.«
Zedd nickte. »Ja, mich treibt er auch bisweilen in den Wahnsinn.«
Rikka, die andere auf der Burg der Zauberer lebende Mord-Sith, steckte den Kopf zur Tür herein. »Zedd, ich denke, das solltet Ihr wissen.« Sie wies mit dem Finger nach oben. »Ich war eben ein paar Stockwerke höher; offenbar gibt es dort ein zerbrochenes Fenster oder so. Der Wind macht jedenfalls ein seltsames Geräusch.«
Zedd runzelte die Stirn. »Was denn für ein Geräusch?«
Die Hände in die Hüften gestemmt, starrte sie auf den Boden und überlegte. »Ich weiß nicht.« Sie sah wieder auf. »Schwer zu beschreiben. Ein bisschen erinnerte es mich an Wind, der durch einen schmalen Durchgang bläst.«
»Eine Art Heulen?«, hakte Zedd nach.
Rikka schüttelte den Kopf. »Nein, eher so wie draußen auf der Brustwehr, wenn der Wind durch die Zinnen pfeift.«
Nicci blickte zu den Fenstern. »Es dämmert gerade. Ich war dabei, Netze zu wirken. Es geht überhaupt noch kein Wind.«
Rikka zuckte die Achseln. »Dann weiß ich auch nicht, was es hätte sein können.«
»Die Burg macht manchmal Geräusche, wenn sie atmet.«
Rikka rümpfte die Nase. »Atmet?«
»Ganz recht«, antwortete der Zauberer. »Wenn sich die Temperatur verändert, wie zum Beispiel jetzt, da die Nächte kälter werden, gerät die Luft in den Abertausenden von Räumen in Bewegung. Wird sie dann durch die Engpässe der Durchgänge gepresst, entsteht in den Fluren ein Stöhnen, selbst wenn draußen gar kein Wind weht.«
»Also, ich wohne noch nicht lange genug hier, um es selbst erlebt zu haben, aber das muss es wohl gewesen sein. Der Atem der Burg.« Rikka machte Anstalten, sich zu entfernen.
»Rikka?« Zedd wartete, dass sie stehen blieb. Sie drehte sich noch einmal um.
»Dieses Windgeräusch.« Er fuchtelte mit dem Finger Richtung Decke.
»Es war dort oben, sagt Ihr?« Sie nickte.
»Meint Ihr den gescheckten Flur, der an der Reihe von Bibliothekssälen vorbeiführt? Mit den Sitznischen draußen in den Zwischenräumen vor den Zimmern?«
»Genau den meine ich. Ich war gerade dabei, in den Lesesälen nach Rachel zu suchen. Sie blättert gerne in den alten Schriften. Wie Ihr schon sagtet, es muss der Atem der Burg gewesen sein.«
»Das Problem ist nur, dass dies einer von mehreren Bereichen ist, wo die Burg normalerweise beim Atmen keinerlei Geräusche macht. Der Flur dort endet in einer Sackgasse, weshalb die Luftbewegungen in andere Bereiche umgelenkt werden, so dass der Luftstrom dort viel zu träge ist, um hörbare Geräusche zu erzeugen.«
»Vielleicht kam es ja von weiter weg, und ich habe mir nur eingebildet, es wäre in diesen Fluren gewesen.«
Zedd stemmte eine Hand auf seine knochige Hüfte und dachte nach. »Es klang also wie eine Art Stöhnen, sagt Ihr?«
»Na ja, wenn ich es mir recht überlege, schien es eher ein Knurren zu sein.«
Zedd legte die Stirn in Falten. »Ein Knurren?« Er schritt über den dicken Teppich, steckte den Kopf zur Tür hinaus und lauschte.
»Na ja, nicht wie von einem Tier«, verbesserte sich Rikka. »Eher eine Art rollendes Grollen. Ich sagte ja schon, es hat mich an das Geräusch des Windes erinnert, wenn er durch die Zinnen bläst. Ihr wisst schon, so eine Art flatterndes Dröhnen.«
»Also, ich höre nichts«, murmelte Zedd.
Rikka zog ein Gesicht. »Na, hier unten ist das auch schlecht möglich.«
Nicci trat zu ihnen an die Tür. »Und wieso spüre ich dann dieses leise Vibrieren in meiner Brust?«
Zedd starrte sie einen Moment lang an. »Vielleicht hat es etwas mit der Zauberei um das Kästchen hier zu tun?«
Sie zuckte die Achseln. »Ich nehme an, das wäre möglich. Mit einigen der Elemente hatte ich mich noch nie zuvor beschäftigt, vieles war völlig neu. Unmöglich zu sagen, welche Nebeneffekte sich dabei ergeben haben können.«
»Wisst Ihr noch, wie Friedrich aus Versehen dieses Warnzeichen ausgelöst hat?«, fragte er Rikka. Sie nickte. »Klang es vielleicht in etwa so?«
Rikka schüttelte entschieden den Kopf. »Nur, wenn man es unter Wasser gesetzt hätte.«
»Diese Warnzeichen bestehen aus entworfener Magie.« Zedd rieb sich nachdenklich das Kinn. »Man kann sie nicht unter Wasser setzen.«
Caras Strafer wirbelte in ihre Hand. »Genug geredet.« Sie zwängte sich zwischen den beiden hindurch und trat durch die Tür. »Ich sage, wir gehen nachsehen.«
Zedd und Rikka schlossen sich ihr an, nicht aber Nicci. Stattdessen wies sie auf das Kästchen der Ordnung, das inmitten des leuchtenden Lichtgeflechts auf dem Tisch stand. »Ich sollte besser in der Nähe bleiben.«
Sie musste nicht nur das Kästchen bewachen, sondern auch weiter Das Buch des Lebens sowie einige andere Folianten studieren, denn noch immer gab es einige Teile der Ordnungstheorie, die sich ihr nicht vollkommen erschlossen hatten. Es gab eine Reihe ungeklärter Fragen, die ihr keine Ruhe ließen. Wenn sie die Absicht hatte, Richard irgendwann eine Hilfe zu sein, musste sie eine Antwort auf sie finden. Am meisten Sorge bereitete ihr ein zentraler Punkt der Ordnungstheorie sowie das Opfer der Feuerkettenreaktion selbst - Kahlan. Sie musste das Wesen der Erfordernisse für auf Primärgrundlagen basierenden Verbindungen besser verstehen, und sie musste begreifen, wie diese Grundlagen begründet wurden. Was ihr Sorgen machte, waren die Beschränkungen auf vorherbestimmte Verfahren - der Umstand, dass sie für die Neuschaffung von Erinnerung eines sterilen Feldes bedurften. Außerdem musste sie mehr über die genauen Bedingungen in Erfahrung bringen, unter denen diese Kräfte angewandt werden mussten. Im Mittelpunkt all dessen stand jedoch die Anforderung eines sterilen Feldes. Sie musste das genaue Wesen des für die Macht der Ordnung erforderlichen sterilen Feldes verstehen, und, weit wichtiger, den Grund, weshalb die Ordnungsverfahren seiner bedurften.
»Ich habe alle Schilde aktiviert«, erklärte Zedd ihr. »Die Eingänge zur Burg sind versiegelt. Wäre irgendjemand unbefugt eingedrungen, würden im ganzen Gebäude die Warnzeichen losschrillen, und wir müssten uns alle die Ohren zuhalten, bis der Auslöser gefunden wäre.«
»Es gibt mit der Gabe Gesegnete, die sich in diesen Dingen auskennen«, gab Nicci zu bedenken.
Zedd musste nicht lange überlegen. »Da ist etwas dran. Angesichts der Geschehnisse und der vielen Dinge, über die wir noch nichts wissen, können wir nicht vorsichtig genug sein. Vermutlich wäre es also keine schlechte Idee, wenn Ihr ein Auge auf das Kästchen halten würdet.«
Nickend folgte ihnen Nicci durch die Tür nach draußen. »Sagt mir Bescheid, sobald die Luft rein ist.«
Der hohe Gang draußen war zwar kaum mehr als ein Dutzend Fuß breit, erhob sich über ihren Köpfen aber beinahe bis außer Sichtweite. Hier, in den unteren Gefilden der Burg, bildete der Durchgang einen langen, schmalen Riss tief im Innern des Berges. Linker Hand befand sich eine Wand aus natürlichem Fels, gemeißelt aus dem Muttergestein des Berges. Selbst jetzt, nach Tausenden von Jahren, waren noch die Spuren der Schlagwerkzeuge zu erkennen.
Die Wand auf der Seite mit den Räumlichkeiten bestand aus gewaltigen, lückenlos eingepassten Steinquadern, die sich bis zu einer Höhe von sechzig oder mehr Fuß erhoben. Dieser scheinbar deckenlose Spalt im Innern des Berges bildete einen Teil der Grenze des Eindämmungsfeldes. Die innerhalb dieses Feldes liegenden Räume erstreckten sich entlang des äußersten Randes der Burg, die sich wiederum über dem Felsgestein des Berges erhob.
Nicci folgte den anderen nur ein kurzes Stück in den scheinbar endlosen Gang hinein und behielt sie im Auge, bis sie den ersten Quergang erreicht hatten.
»Für Schlampereien und Nachlässigkeiten ist dies nicht der rechte Augenblick«, rief sie ihnen hinterher. »Dafür steht zu viel auf dem Spiel.«
Zedd nahm ihre Ermahnung mit einem Nicken zur Kenntnis. »Sobald ich mir ein Bild gemacht habe, kommen wir zurück.«
Cara sah über ihre Schulter. »Seid unbesorgt, ich bin ja bei ihm -und ich bin nicht in der Stimmung für Nachlässigkeiten. Meine Laune wird sich wohl erst wieder bessern, wenn ich Lord Rahl lebend wiedersehe und in Sicherheit weiß.«
»Ihr wisst, was gute Laune ist?«, fragte Zedd, während sie mit schnellen Schritten losmarschierten.
Cara sah ihn verständnislos an. »Ich bin sehr oft liebenswürdig und gut gelaunt. Wollt Ihr etwa das Gegenteil andeuten?«
Zedd warf die Hände in die Luft und gab sich geschlagen. »Nein, nein.
Gut gelaunt beschreibt Euch durchaus passend.«
»Na schön.«
»Tatsächlich sogar noch etwas passender als blutrünstig.«
»Wenn ich es mir recht überlege, gefällt mir blutrünstig sogar noch ein bisschen besser.«
Nicci vermochte den fröhlichen Geist dieser Hänseleien zwischen den beiden nicht recht zu teilen. Es war ihr nicht gegeben, Menschen zum Lachen zu bringen. Außerdem kannte sie die Leute, die es auf sie abgesehen hatten und zu denen sie einst selbst gehört hatte, sowie ihr vollkommen gefühlloses Wesen, so dass sie das Gefühl hatte, nicht weniger ernsthaft vorgehen zu dürfen als sie.
Sie sah Zedd, Cara und Rikka hinterher, als diese den ersten Gang entlangeilten, Richtung Treppe.
Während sie die Stufen hinaufgingen, begriff Nicci plötzlich das Geräusch, die Vibration, die sie gespürt hatte.
Es war tatsächlich eine Art Warnsignal.
Jetzt wusste sie auch, warum Rikka es nicht hatte einschätzen können. Sie hatte den Mund bereits geöffnet, um den anderen etwas zuzurufen, als die Welt mit einem knirschenden Ruck anzuhalten schien.
Eine dunkle Wolke ergoss sich aus dem Treppenschacht, eine aus Millionen von Einzelpunkten bestehende Nachbildung einer sich mitten in der Luft drehenden, windenden, mal dünner und mal dicker werdenden Schlange, die unter gewaltigem Getöse die Treppe herabgeschossen kam. Das dröhnende, flatternde Rumpeln war ohrenbetäubend.
Tausende von Fledermäusen kamen um die Ecke geschossen, ein mächtiger, in der Luft schwebender Lindwurm, ein lebendiges Etwas aus Unmengen dieser zierlichen Lebewesen. Der Anblick so vieler Einzelwesen, verschmolzen zu einer einzigen, sich bewegenden Form, war fesselnd. Das Getöse hallte von den Wänden wider und füllte den Spalt im Berg mit chaotischem Getöse. Die Fledermäuse waren offenbar von Panik ergriffen, als sich ihre miteinander verschmelzenden Formen auf der Flucht vor irgendetwas überhastet um die Ecke wanden. Zedd, Cara und Rikka waren gleich auf den ersten Treppenstufen wie erstarrt stehen geblieben.
Dann waren die fliehenden Fledermäuse fort, vor sich hergescheucht von irgendeinem Grauen, das sie durch die Burg verfolgte. Zurück blieb ein leises Flattern, dessen gedämpfte Warnung noch in den Fluren widerhallte, als die Fledermäuse bereits in einem entlegeneren Winkel Schutz suchten.
Es war das ferne Geräusch, das Rikka gehört, aber nicht zu deuten gewusst hatte.
Nicci, den Blick starr auf das Treppenhaus gerichtet, aus dem die Fledermäuse hervorgekommen waren, hatte das Gefühl, in einem erwartungsvollen Moment der Stille gefangen zu sein. Sie wartete darauf, endlich wieder aufatmen zu können, wartete auf etwas Unvorstellbares. Mit einem Gefühl aufkommender Panik erkannte sie, dass sie sich nicht von der Stelle rühren konnte.
Und dann kam ein dunkler Schatten wie ein übler Wind die Stufen herabgefegt und schien doch gleichzeitig bewegungslos in der Luft zu stehen. Es war, als bestünde er aus wirbelnden schwarzen Formen und zerfließenden dunklen Schatten, die einen tiefschwarzen Strudel aus Düsterkeit erzeugten. Seine schwindelerregende Form, die sich ineinander verflechtenden Ströme aus Dunkelheit - alles vermittelte den Eindruck von nicht vorhandener Bewegung. Ein Augenzwinkern später war er verschwunden.
Mit Nachdruck unternahm Nicci einen neuerlichen Versuch, sich von der Stelle zu bewegen, doch es war, als wäre sie in warmes Wachs gegossen. Sie konnte behutsam Luft holen und sich vorwärtsbewegen, wenn auch nur unvorstellbar langsam. Jeder Zoll erforderte eine immense Kraftanstrengung und schien eine Ewigkeit zu dauern. Die Welt war unglaublich zähflüssig geworden, während gleichzeitig alles allmählich zum Erliegen kam.
Dann zeigte sich die Gestalt erneut, diesmal im Durchgang unmittelbar hinter den anderen im Gang am Fuß der Treppe, wo sie über dem steinernen Boden in der Luft zu schweben schien. Sie sah aus wie eine unter Wasser dahintreibende Frau in einem fließenden schwarzen Kleid. Trotz ihres wachsenden Entsetzens fand Nicci den exotischen Anblick seltsam faszinierend. Die anderen, die der Eindringling längst passiert hatte, waren beim Emporsteigen der Treppe mitten im Schritt so regungslos erstarrt, als wären sie gemalt.
Das drahtige Haar der Frau umspülte träge ihr blutleeres Gesicht. Der lose Stoff ihres schwarzen Kleides wirbelte herum wie in einem Wasserstrudel. Die Frau inmitten dieser wirbelnden Bewegung schien beinahe regungslos.
Der Anblick ähnelte nichts so sehr wie einer in trübem Wasser treibenden Frau.
Dann war die Gestalt ein weiteres Mal verschwunden. Nein, nicht im Wasser, erkannte Nicci.
In der Sliph.
Genau so hatte sie sich auch gefühlt. Es war dasselbe seltsame, jenseitig schwebende Gefühl des Dahintreibens, unfassbar langsam und doch irrwitzig schnell.
Plötzlich erschien die Gestalt erneut, näher diesmal. Nicci versuchte zu rufen, brachte aber keinen Ton heraus. Sie versuchte, ihre Arme zu heben, um ein Netz zu wirken, trieb aber zu langsam. Ihr war, als würde das bloße Heben eines Arms den ganzen Tag in Anspruch nehmen.
Glitzernde Lichtpartikel glommen auf und blinkten zwischen Nicci und den anderen in der Luft - vom Zauberer gewirkte Magie. Sie verfehlte den Eindringling um ein gutes Stück. Auch wenn die kurze Energieentladung wirkungslos verpuffte, so war Nicci doch überrascht, dass Zedd sie überhaupt hatte auslösen können. Sie hatte ungefähr dasselbe versucht, ergebnislos.
Dunkle Stofffetzen trieben mit fließenden, flatternden Bewegungen durch den Gang. Sich windende Formen und Schatten krümmten sich in kaum merklicher Bewegung. Die Gestalt ging nicht, lief nicht, sie glitt dahin und schien nahezu regungslos inmitten des wehenden Stoffes ihres Kleides zu schweben.
Dann war sie ein weiteres Mal verschwunden.
Nur um einen Lidschlag später wieder aufzutauchen, sehr viel näher jetzt. Die gespenstische Haut spannte straff über einem Gesicht, das aussah, als hätte das Sonnenlicht es nie berührt. Knäuel schwerelosen schwarzen Haars stiegen mit Fetzen des schwarzen Kleides empor. Es war der verstörendste Anblick, den Nicci je gesehen hatte. Ihr war, als würde sie ertrinken. Das Gefühl, nicht schnell genug atmen zu können, ließ Panik in ihr aufsteigen. Doch ihre brennenden Lungen konnten nicht schneller arbeiten als ihr übriger Körper.
Als Nicci genauer hinsah, war die Frau verschwunden. Sie gewahrte, dass auch ihre Augen zu langsam arbeiteten. Der Gang war wieder leer. Offenbar vermochte die Einstellung ihrer Augen der Bewegung nicht zu folgen.
Vielleicht, überlegte Nicci, hatte sie ja eine Art Halluzination, ausgelöst von den von ihr gewirkten Bannen oder der Macht der Ordnung, die sie angezapft hatte. Sie überlegte, ob es sich um eine Nachwirkung der Banne handeln konnte. Vielleicht hatte die Macht der Ordnung höchstselbst sie heimgesucht, um sie zu holen, weil sie mit diesen verbotenen Kräften herumexperimentiert hatte.
Das musste es sein - irgendeine Verbindung mit den gefährlichen Dingen, die sie heraufbeschworen hatte.
Wiederum erschien die Frau, schien völlig unvermittelt aus dem dunklen Abgrund nach oben zu treiben.
Diesmal konnte sie die strengen, harten Züge ihres Gesichts erkennen. Verblichene blaue Augen hefteten sich auf Nicci, als wäre sie das Einzige auf der Welt. Der bohrende Blick erfüllte sie bis auf den Grund ihrer Seele mit eiskalter Angst. Die Augen der Frau waren so blass, dass sie blicklos wirkten, doch Nicci wusste, dass die Frau sehr wohl sehen konnte, nicht nur in diesem Licht, sondern auch in der dunkelsten Höhle oder unter einem Felsen, wo kein Tageslicht sie je erreichte.
Das Lächeln der Frau war das boshafteste, das Nicci je gesehen hatte, das Lächeln einer Person, der Angst vollkommen fremd war, und die es genoss, sie auszulösen, einer Frau, die wusste, dass sie alles in der Gewalt hatte. Es war ein Lächeln, das ihr ein langsames Frösteln durch den Körper kriechen ließ.
Und dann war sie abermals verschwunden.
In der Ferne flammte erneut Zedds Magie auf, nur um unmittelbar darauf wieder zu erlöschen.
Nicci versuchte sich von der Stelle zu rühren, doch die Welt war zu zähflüssig, wie bisweilen in ihren schauderhaften Träumen, in denen alle Anstrengungen, sich zu bewegen, erfolglos blieben. In diesen Träumen versuchte sie vor Jagang wegzulaufen, doch stets war er unmittelbar hinter ihr, die Hand bereits nach ihr ausgestreckt. Wenn er sich dann auf sie stürzte, glich er dem Tod höchstselbst, der nichts als die unvorstellbarsten Grausamkeiten im Sinn hatte. Obwohl sie stets weglaufen wollte, ließen sich ihre Beine einfach nicht schnell genug bewegen.
Es waren Träume, die sie in einen Zustand panischen Zitterns versetzten, und in denen der Tod so wirklich war, dass sie die Todesangst bereits schmecken konnte.
Aber dies war kein Traum.
Japsend versuchte Nicci Luft zu holen, um Zedd etwas zuzurufen, doch beides war jenseits ihrer Fähigkeiten. Sie versuchte ihr Han herbeizurufen, ihre Gabe, vermochte aber keine Verbindung zu ihr herzustellen. Es war, als wäre ihre Gabe unfassbar schnell, sie selbst dagegen unglaublich langsam. Beides war miteinander unvereinbar. Plötzlich war die Frau, mit ihrer Haut von der blassen Farbe frisch Verstorbener, Haar und Kleid schwarz wie die Unterwelt, unmittelbar neben ihr.
Schwebend löste sich ihr Arm und langte unter dem wirbelnden Kleiderstoff hervor. Das ausgedörrte, fest über ihren Knöcheln spannende Fleisch betonte das darunterliegende Knochengerüst noch. Mit ihren knochendürren Fingern strich sie über die Unterseite von Niccis Kinn, eine Berührung voller Hochmut, eine arrogante Geste des Triumphs.
Dann lachte sie ein hohles, gurgelndes Unterwasserlachen, das schmerzhaft durch die steinernen Flure der Burg der Zauberer hallte. Nicci war jenseits allen Zweifels klar, was diese Frau wollte, weshalb sie gekommen war. Verzweifelt mühte sie sich, ihre Kraft zu entfesseln, die Frau zu packen, nach ihr zu schlagen, sie irgendwie aufzuhalten, doch sie war wie gelähmt. Ihre Kraft schien so unendlich fern, dass es eine Ewigkeit dauern würde, bis zu ihr durchzudringen.
Kaum hatten die Finger Niccis Kinn gestreift, da war die Frau auch schon wieder verschwunden und sanft in schwarze Tiefen zurückgesunken. Das nächste Mal zeigte sie sich an der messingbeschlagenen Tür des Zimmers, in dem sich das Kästchen befand. Sanft umspült von ihrem Kleid, trieb sie hindurch, ohne dass ihre Füße den Boden berührten. Und entschwand erneut aus Niccis Blick.
Bei ihrem nächsten Erscheinen befand sie sich genau zwischen dem Zimmer und Nicci.
Sie hatte das Kästchen der Ordnung unter dem Arm.
Und während das entsetzliche Lachen in Niccis Verstand widerhallte, zerschmolz die Welt zu völliger Schwärze.