56

Ein blitzartiger Schauder eiskalter Angst ließ Kahlan aus dem Schlaf hochschrecken.

Etwas auf der rechten Seite liegend, den Kopf ganz nach rechts gedreht, während ihr Kinn auf der als Kopfkissen dienenden Satteltasche ruhte, riskierte sie einen vorsichtigen Blick durch den schmalen Spalt ihrer Lider. Die aufkommende Dämmerung verlieh dem wolkenverhangenen Himmel soeben den ersten Hauch von Morgenröte.

Zuerst noch ahnungslos, was sie so unvermittelt geweckt hatte, erkannte sie schon bald den Grund.

Unmittelbar über sich konnte sie aus den Augenwinkeln Samuel erkennen, der sich - vollkommen regungslos verharrend, lautlos und nur wenige Zoll entfernt - über sie beugte wie ein Berglöwe über seine Beute. Er war vollkommen nackt.

Kahlan war so verblüfft, dass sie einen Moment lang in völliger Verwirrung erstarrte. Und sich fragte, ob sie tatsächlich wach war oder einen absonderlichen Albtraum hatte. Ihre Verwirrung schlug um in nachdrückliche Angst, als ihre Instinkte das Kommando übernahmen. Ohne sich anmerken zu lassen, dass sie wach war, schob sie ihre Hand Zoll für Zoll Richtung Gürtel, um an ihr Messer zu gelangen. Da sie leicht nach rechts verdreht lag, befand sich ihr Messer halb unter ihrem Körper, so dass sie ihre Finger unter ihren Körper zwängen musste, um heranzukommen. Sie vertraute darauf, dass ihre Decke ihre Bewegung zumindest ein wenig verdecken würde. Das Messer war nicht an seinem Platz.

Sie schielte an sich herab, in der Hoffnung, es sei irgendwie herausgerutscht und liege irgendwo nahebei auf dem Boden. Als sie suchend unter der Decke umhertastete, erblickte sie unweit Samuels Kleiderhaufen. Dann sah sie das Messer. Es war zwischen seine Kleider geworfen worden - für sie unerreichbar.

Ihr wurde schlecht bei der Vorstellung, dass er sich heimlich ausgezogen und sie dabei im Schlaf beobachtet hatte. Sie fand es abstoßend, dass er ihr so nahe gekommen war, sie angestarrt und ihr in Vorbereitung auf die obszönen Dinge, die er offenbar mit ihr zu tun gedachte, unbemerkt das Messer abgenommen hatte. Und sie war wütend auf sich selbst, weil sie ihn so weit hatte gewähren lassen.

Obwohl er immer schüchtern und verängstigt gewirkt hatte und oftmals geradezu versessen darauf war, ihr zu schmeicheln, war sie von seinem Verhalten nicht völlig überrascht. Nur zu gut waren ihr die vielen Male in Erinnerung, als sie ihn dabei ertappt hatte, und stets hatte in seinen Blicken ein kriecherisches Verlangen gelegen, das er sonst niemals an den Tag legte.

Samuel war nicht groß, aber muskulös und ihr kräftemäßig zweifellos überlegen. Kampflos würde sie sich ihm unmöglich entziehen können, zudem befand sie sich für eine körperliche Auseinandersetzung mit ihm in einer denkbar ungünstigen Lage. Auf diese kurze Distanz konnte sie nicht einmal wirkungsvoll zuschlagen. Ohne Messer, ohne Aussicht auf fremde Hilfe, konnte sie kaum darauf hoffen, sich seiner zu erwehren. Trotz seiner deutlichen körperlichen Überlegenheit, und obwohl sie geschlafen hatte, hatte er in seiner übergroßen Vorsicht den Fehler begangen, sie nicht durch entschlossenes Vorgehen kampfunfähig zu machen. Was offenbar nichts mit einem Mangel an Möglichkeiten zu tun hatte, sondern mit fehlendem Mut. Es war das Einzige, was im Moment noch für sie sprach - und dass er nicht wusste, dass sie wach war. Diesen Vorteil wollte sie nicht verspielen. Wenn sie losschlug, würde das Überraschungsmoment seinen Vorteil etwas ausgleichen - und ihr eine Gelegenheit verschaffen, die sich ihr nicht noch einmal bieten würde. Die unterschiedlichsten Möglichkeiten schössen ihr durch den Kopf. Sie hatte nur die eine Chance, zuerst zuzuschlagen, deshalb musste sie unbedingt dafür sorgen, dass ihre Aktion Wirkung zeigte. Ihr erster Gedanke war, ihm das Knie dorthin zu rammen, wo es am meisten wehtat, doch angesichts ihrer leicht nach rechts verdrehten Lage, ihrer unter der Decke gefangenen Beine und seiner Position über ihr und auf der Decke, erschien ihr dies keine gute Wahl.

Die Linke jedoch lag gleich neben der Decke im Freien, es erschien ihr die vielversprechendste Möglichkeit. Ohne länger abzuwarten und ehe es womöglich zu spät wäre, schlug sie hart und schnell wie eine Viper zu, und versuchte ihm das Auge mit dem Daumen auszudrücken. Mit aller Kraft bohrte sie ihn in das weiche Gewebe seines Augapfels. Mit einem erschrockenen Aufschrei riss er das Gesicht zurück, fing sich rasch wieder und schlug ihre Hand mit dem Arm fort. Gleichzeitig ließ er sich mit seinem ganzen Gewicht auf sie fallen und presste ihr dadurch auf einen Schlag alle Luft aus den Lungen.

Ehe sie dazu kam, Luft zu holen, rammte er ihr seinen anderen Unterarm auf die Kehle, drückte so ihren Kopf auf den Boden und verhinderte, dass sie weiteratmen konnte. Mit aller Kraft um sich tretend und sich windend, versuchte Kahlan, sich zu befreien.

Dabei fiel ihr Blick auf seine nicht weit entfernt liegenden Kleider, wo sie das Heft des Schwertes unter seinen Hosen hervorlugen sah. Blinkend spiegelte sich das frühmorgendliche Licht in den güldenen Lettern des Wortes WAHRHEIT im Silberdraht des Hefts.

Sie wusste, es konnte nicht lange dauern, bis er auf den Gedanken kommen würde, sie einfach bewusstlos zu schlagen.

Als hätte er ihre Gedanken gelesen, sah sie ihn plötzlich seinen rechten Arm anwinkeln. Sie konnte sehen, wie er seine kräftige Faust ballte. Und als sie auf ihr Gesicht zuraste, drehte sie ihren Körper mit aller Kraft zur Seite, um seinem Hieb auszuweichen.

Seine Faust bohrte sich unmittelbar neben ihrem Kopf in den Boden. Im selben Moment schlossen sich ihre Finger um den Golddraht, der das Wort WAHRHEIT auf dem Heft des Schwertes bildete. Die Welt schien ruckartig stehen zu bleiben.

Im Nu durchflutete sie die Erkenntnis.

Dinge in ihrem Innern, die längst verloren schienen, waren plötzlich wieder da.

Sie erinnerte sich nicht, wer sie war, aber schlagartig wurde ihr bewusst, was sie war. Eine Konfessorin.

Noch immer weit entfernt von einer Wiedervereinigung mit ihrer Vergangenheit, ging ihr in diesem Moment der Verbindung auf, was es bedeutete, eine Konfessorin zu sein. Lange Zeit war es ihr ein völliges Rätsel gewesen, doch jetzt erinnerte sie sich nicht nur, was sich alles damit verband, sondern sie spürte dieses Vermächtnis in ihrem Innern, seine Bande zu ihr selbst.

Sie wusste noch immer nicht, wer sie war oder was es mit dem Namen Kahlan Amnell auf sich hatte, sie erinnerte sich nicht an ihre Vergangenheit, aber sie wusste, was es hieß, eine Konfessorin zu sein. Samuel zog seinen Arm zurück, um erneut zuzuschlagen. Kahlan presste ihm die Hand gegen die Brust, und plötzlich schien kein kräftiger Mann mehr auf ihr zu hocken, der sie in seiner Gewalt hatte. Auch spürte sie keine Panik oder Wut mehr, hatte sie nicht mehr das Gefühl, kämpfen zu müssen. Sie fühlte sich unbeschwert wie ein Lufthauch - und wusste, dass er keine Gewalt mehr über sie hatte. Das Gefühl von panischer Hast und Verzweiflung war wie verflogen. Die Zeit gehörte ihr.

Sie musste weder nachdenken, noch überlegen oder Entscheidungen treffen. Sie wusste mit absoluter Gewissheit, was sie zu tun hatte. Sie brauchte es nicht einmal mehr zu denken.

Kahlan musste ihr Erbe nicht aufrufen, sie musste lediglich ihre diesbezügliche Zurückhaltung aufgeben.

Sie sah seinen wilden, konzentrierten Blick über ihr erstarren. Seine Faust schien regungslos in einem sich immer weiter dehnenden Bruchteil eines Augenblicks zu verharren, so lange, bis es vorüber war. Es gab für sie weder Hoffnung noch Erwartung, noch die Notwendigkeit zu handeln. Sie wusste, die Zeit gehörte ihr. Sie wusste, was geschehen würde, fast so, als wäre es bereits geschehen.

Samuel hatte sich in das Feldlager der Imperialen Ordnung ge schlichen, nicht etwa um sie zu befreien, sondern - aus Gründen, die sich ihr erschließen würden, noch bevor dies beendet war - um sie ’\ gefangen zu nehmen.

Er war nicht ihr Retter.

Er war ihr Feind.

Die ihrer kalten, angestauten Kraft innewohnende Erbarmungslosigkeit war atemberaubend, als sie ihre Fesseln abstreifte. Sie stieg aus ihrem inneren dunklen Kern empor und ergriff gehorsam von jeder Faser ihres Seins Besitz.

Die Zeit gehörte ihr.

Hätte sie gewollt, sie hätte jedes Barthaar in seinem erstarrten Gesicht zählen können, ohne dass er ihr mit seiner unbesonnenen Attacke auch nur einen Zoll näher gekommen wäre.

Ihre Angst war verflogen und hatte zielgerichteter Ruhe und Besonnenheit Platz gemacht. Auch verspürte sie keinen Hass mehr, denn ein kalt abwägender Sinn für Gerechtigkeit hatte die Oberhand gewonnen.

In diesem Zustand tiefen Friedens, geboren aus der Beherrschung ihres eigenen Talents und dadurch ihres Schicksals, war in ihrem Innern kein Platz mehr für Hass und Zorn, für Schrecken ... oder Kummer. Sie sah die Wahrheit dessen, was war. Dieser Mann hatte selbst das Urteil über sich gesprochen. Er hatte seine Entscheidung getroffen und würde nun die unabänderlichen Konsequenzen seiner Wahl zu gewärtigen haben. In diesem unendlich winzigen Augenblick des Seins befand sich ihr Geist in einer Leere, wo der allumfassende Lauf der Zeit ausgesetzt schien. Er hatte keine Chance. Die Zeit gehörte ihr.

Obwohl sie alle Zeit hatte, die sie sich nur wünschen konnte, bestand für sie kein Zweifel.

Kahlan entfesselte ihre Kraft.

Aus ihrem innersten Wesen kommend, wurde diese Kraft allgegenwärtig. Donner ohne Hall ließ die Luft erzittern - ungeheuerlich, erbarmungslos und für diesen einen Augenblick der Reinheit allgewaltig. Die Erinnerung an diesen Augenblick des Wirkens wurde für sie zu einer Insel geistiger Klarheit im dunklen Strom ihres unbekannten Selbst. Samuels Gesicht war im Hass auf die Person erstarrt, die er zu besitzen gehofft hatte.

Kahlan starrte in seine goldgelben Augen und wusste, er sah nur ihre erbarmungslosen Augen.

In diesem Augenblick hatte sich sein Verstand, der ihn zu dem machte, der er war, der er vordem gewesen war, bereits in nichts aufgelöst. Die Wucht des Aufpralls ließ die Bäume ringsum in der fröstelnd kalten frühmorgendlichen Luft erzittern, kleinere Zweige und trockene Borke rieselten von den Ästen herab. Die ungeheure Schockwelle wirbelte einen Ring aus Staub und Erde auf, der rasch immer weiter um sich griff. Samuels merkwürdige Augen weiteten sich. »Herrin«, hauchte er, »befehligt mich.«

»Geh runter von mir.«

Augenblicklich wälzte er sich zur Seite und landete auf den Knien, die Hände unterwürfig flehend aneinandergepresst, während er es nicht wagte, den Blick von ihr zu lassen.

Als Kahlan sich aufrichtete, merkte sie, dass sie mit ihrer Rechten noch immer das Schwert umklammert hielt. Sie ließ es los. Um mit Samuel fertig zu werden, brauchte sie es nicht mehr.

Samuel schien den Tränen nahe, während er zutiefst unglücklich wartete.

»Bitte ... wie kann ich Euch zu Diensten sein?«

Kahlan warf die Decke zur Seite. »Wer bin ich?«

»Kahlan Amnell, die Mutter Konfessor«, antwortete er prompt. Das wusste sie bereits. Sie überlegte einen Moment.

»Woher hast du dieses Schwert?«

»Gestohlen.«

»Wem gehört es von Rechts wegen?« »Früher oder jetzt?«

Die Antwort verwirrte sie ein wenig. »Früher.«

Ihre Frage stürzte Samuel in tiefe Bedrängnis. Händeringend brach er vollends in Tränen aus.

»Seinen Namen kenne ich nicht, Herrin. Ich schwöre es. Ich hab ihn nie gekannt.« Er begann zu schluchzen. »Ich bin untröstlich, Herrin, ich weiß es nicht, ich schwöre es.«

»Wie hast du es ihm abgenommen?«

»Ich habe mich angeschlichen und ihm im Schlaf die Kehle durchgeschnitten - aber ich schwöre, ich kenne seinen Namen nicht.«

Wer von einer Konfessorin berührt worden war, gestand jede Untat ohne das geringste Zögern - was es auch genau sein mochte. Seine einzige Sorge war die ständige, quälende Angst, dieser Frau, die ihn mit ihrer Kraft berührt hatte, nicht zufriedenzustellen. Der einzige in seinem Verstand noch verbliebene Daseinszweck bestand darin, ihren Befehlen Folge zu leisten.

»Hast du auch noch andere umgebracht?«

Samuel blickte entzückt auf. Das war eine Frage, die er in vollem Umfang beantworten konnte. Ein strahlendes Lächeln hellte seine Miene auf.

»Aber ja, Herrin. Viele. Bitte, darf ich jemanden für Euch töten? Wen auch immer. Nennt mir einfach seinen Namen, sagt mir, wen ich umbringen soll. Ich werde es so schnell wie möglich tun. Bitte, Herrin, nennt ihn mir und ich werde Euren Befehl befolgen und ihn für Euch beseitigen.«

»Wem gehört das Schwert jetzt?«

Der abrupte Themenwechsel ließ ihn zögern. »Es gehört Richard Rahl.«

Kahlan war nicht eben überrascht. »Woher kennt mich dieser Richard Rahl?« »Er ist Euer Gemahl.«

Der Schock der Worte, die sie eben gehört zu haben meinte, ließ Kahlan erstarren. Sie kniff die Augen zusammen, während ihre Gedanken plötzlich in alle Richtungen gleichzeitig davonzueilen schienen.

»Was?«

»Richard Rahl ist Euer Gemahl.«

Lange Zeit stand sie einfach nur da, starren Blickes, außerstande, das alles mit ihren Gedanken in Einklang zu bringen. Einerseits war es ein lähmender Schock, doch gleichzeitig löste es in ihr Empfindungen aus, die sie nicht einmal ansatzweise zu ergründen vermochte. Kahlan hatte es die Sprache verschlagen.

Die Entdeckung, dass sie mit Richard Rahl verheiratet war, war beängstigend, andererseits ließ sie ihr das Herz vor tiefempfundener Freude anschwellen. Sie musste an seine grauen Augen denken, an seine Art sie anzusehen, und alles Beängstigende schien sich einfach in Luft aufzulösen. Es war, als wären all ihre kühnsten Träume plötzlich wahr geworden.

Sie fühlte eine Träne über ihre Wange rinnen und wischte sie mit dem Finger fort, doch schon kurz darauf folgte die nächste. Fast hätte sie vor Freude lauthals gelacht.

»Mein Gemahl?«

Samuel nickte heftig. »Ja, Herrin. Ihr seid die Mutter Konfessor. Er ist der Lord Rahl. Er ist mit Euch verheiratet, also ist er Euer Gemahl.«

Kahlan fühlte sich zittern und versuchte nachzudenken, doch ihr Verstand reagierte einfach nicht, so als ginge ihr so viel gleichzeitig durch den Kopf, dass ihre Gedanken sich einfach zu einem unentwirrbaren Durcheinander verflochten hatten.

Plötzlich erinnerte sie sich, wie Richard im Feldlager der Imperialen Ordnung am Boden gelegen und ihr zugerufen hatte, sie solle fliehen. Demnach war er im günstigsten Fall jetzt ein Gefangener des Ordens, wahrscheinlicher aber tot.

Wieder spürte sie eine Träne über ihre Wange rinnen, doch diesmal nicht aus Freude, sondern aus blankem Entsetzen.

Schließlich riss sie sich zusammen und richtete ihr Augenmerk auf den Mann, der vor ihr auf den Knien lag. »Wohin wolltest du mich bringen?«

»Nach Tamarang, zu meiner ... meiner anderen Herrin.« »Deiner anderen Herrin?« Er nickte beflissen. »Sechs.«

Sie erinnerte sich, dass Jagang die Frau erwähnt hatte, und runzelte die Stirn. »Die Hexe?«

Die Antwort schien Samuel zu ängstigen, er gab sie dennoch. »Ja, Herrin. Man trug mir auf, Euch zu holen und ihr zu übergeben.«

Sie deutete auf ihren Schlafplatz. »Hat sie dir befohlen, das zu tun?«

Das löste noch größeren Widerwillen aus. Samuel benetzte seine Lippen. Einen Mord zu gestehen war eine Sache, aber das hier war ganz etwas anderes.

»Ich hab sie gefragt, ob ich Euch besitzen könnte«, sagte er schließ lieh gewunden. »Darauf meinte sie, ja, als Lohn für meine Dienste, aber ich müsse Euch lebend zu ihr bringen.«

»Und zu welchem Zweck wollte sie mich?«

»Ich glaube, sie wollte Euch als Tauschobjekt.«

»Gegenüber wem?«

»Kaiser Jagang.«

»Aber er hatte mich doch bereits in seiner Gewalt.«

»Jagang ist ganz versessen auf Euch. Sechs weiß, wie wertvoll Ihr für ihn seid. Sie wollte Euch in ihre Gewalt bringen und Euch dann im Gegenzug für gewisse Gefälligkeiten bei Jagang eintauschen.«

»Wie weit ist es noch bis nach Tamarang und zu dieser Hexe?«

»Nicht mehr weit.« Er wies nach Südwesten. »Wir können morgen gegen Ende des Tages dort sein, Herrin.«

Die Nähe zu einer so mächtigen Frau gab Kahlan plötzlich das Gefühl großer Verwundbarkeit. Ihr war jenseits allen Zweifels klar, dass sie diese Gegend verlassen musste, da sie sonst entdeckt werden könnte, auch ohne dass Samuel sie bis unmittelbar vor die Füße dieser Hexe schleifte.

»Und weil du mich morgen abliefern solltest, wusstest du, dass unsere gemeinsame Zeit sich dem Ende zuneigte, und wolltest mich vergewaltigen.«

Es war keine Frage, sondern eine Feststellung.

Samuel rang seine Hände, während ihm die Tränen über das Gesicht liefen. »Ja, Herrin.« Seine Bestürzung nahm noch zu, als sie ihn in der entsetzlichen Stille von oben herab anstarrte. Kahlan wusste, eine berührte Person war nicht mehr sie selbst, verfügte nicht mehr über ihren früheren Verstand. Einmal überwältigt, war sie der Konfessorin bedingungslos ergeben.

Ihr kam der Gedanke, dass man mit ihr etwas ganz Ähnliches gemacht hatte, und sie überlegte, ob ihr Gedächtnisverlust gleichbedeutend mit Samuels Verlust seiner Vergangenheit war. Die Vorstellung war erschreckend.

»Bitte, Herrin ... Vergebt Ihr mir?«

Je länger sich die Stille dahinzog, desto unerträglicher wurde für ihn die Schuld, die er mit seinem schändlichen Plan auf sich geladen hatte. Außerstande, ihren strafenden Blick länger zu ertragen, begann er hysterisch zu greinen.

»Ich bitte Euch, Herrin, habt Erbarmen mit mir in Eurem Herzen.«

»Erbarmen ist eine Möglichkeit, ersonnen von den Schuldigen für den unwahrscheinlichen Fall, dass sie letztendlich doch gefasst werden. Gerechtigkeit ist das Reich der Gerechten, und darum geht es hier.«

»Bitte, Herrin, würdet Ihr mir dann verzeihen?«

Kahlan sah ihm in die Augen, um sicherzugehen, dass er weder ihre Worte noch die dahinter verborgene Absicht missverstand.

»Nein. Das hieße, jeglicher Vorstellung von Gerechtigkeit Hohn sprechen. Ich werde dir nicht vergeben, weder jetzt, noch irgendwann später - und zwar nicht, weil ich dich verabscheue, sondern weil du dich noch anderer Verbrechen als der gegen mich schuldig gemacht hast.«

»Ich weiß, aber könntet Ihr mir nicht die an Euch begangenen Verbrechen verzeihen. Bitte, Herrin, nur diese. Vergebt mir nur, was ich Euch angetan habe, und was ich Euch antun wollte.«

»Nein.«

Die Endgültigkeit ihrer Antwort schlug sich in seinem Blick nieder, und er gab ein entsetztes Keuchen von sich, als ihm bewusst wurde, dass all sein Tun, all seine jemals getroffenen Entscheidungen niemals wiedergutzumachen sein würden. Seine anderen Vergehen bedeuteten ihm nichts, aber nun bekam er das volle Gewicht der Verantwortung für die an ihr begangenen Verbrechen zu spüren.

Vielleicht zum allerersten Mal in seinem Leben sah er sich, wie er wirklich war - mit ihren Augen.

Mit einem neuerlichen Keuchen fasste er sich an die Brust, dann kippte er zur Seite und brach tot zusammen.

Unverzüglich begann Kahlan, ihre Sachen zusammenzusuchen. Jetzt, da die Hexe ihr so nahe war, musste sie so schnell wie möglich von hier fort. Wohin, wusste sie nicht, sie wusste nur, wohin sie sich nicht wenden konnte.

Plötzlich dämmerte ihr, dass sie hätte sorgfältiger überlegen und Samuel noch jede Menge Fragen stellen sollen. All diese Antworten hatte sie sich einfach entgehen lassen.

Die Neuigkeiten über Richard - dass er ihr Ehemann war - hatten sie derart durcheinandergebracht, dass sie einfach nicht auf den Gedanken gekommen war, Samuel ausführlicher auszufragen. Plötzlich kam sie sich wie eine riesengroße Närrin vor, dass sie sich eine so unschätzbare Gelegenheit hatte entgehen lassen.

Nun, geschehen war geschehen. Jetzt galt es, sich ganz auf ihre nächsten Schritte zu konzentrieren. Im trüben Licht des frühen Morgens begab sie sich mit hastigen Schritten hinüber zum Pferd, um es zu satteln. Sie fand es am Boden liegend, tot. Jemand hatte ihm die Kehle durchgeschnitten. Vermutlich hatte Samuel befürchtet, sie könnte mit seiner Hilfe fliehen, ehe er sich mit ihr vergnügen konnte, und hatte dem armen Tier einfach die Kehle aufgeschlitzt.

Unverzüglich rollte sie, was sie tragen konnte, in ihre Decke und stopfte sie in ihre Satteltaschen. Dann warf sie diese über ihre Schulter und nahm das Schwert der Wahrheit mitsamt Scheide vom Boden auf. Mit der Waffe in der Hand brach sie auf, in die Richtung, die Tamarang genau entgegengesetzt war.

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