46

Kahlan war so erschöpft, dass sie jeden Moment vom Rücken des mächtigen Pferdes zu kippen drohte. An seinen ungleichmäßigen Schritten erkannte sie, dass das mit einer dicken Schweißschicht bedeckte Pferd ebenfalls kurz vor dem Zusammenbruch stand. Aber offenbar war ihr Retter fest entschlossen, es zu Tode zu reiten.

»Das Pferd wird dieses Tempo nicht durchhalten. Meinst du nicht, wir sollten Halt machen?«

»Nein«, antwortete er über seine Schulter knapp.

Wenigstens konnte Kahlan im fahlen Licht der falschen Dämmerung die ersten schwarzen Umrisse einiger Bäume auftauchen sehen. Es war beruhigend zu wissen, dass sie schon bald die weite Offenheit der Az-rithEbene hinter sich lassen würden. In der Ebene waren sie, stand die Sonne erst am Himmel, aus jeder Richtung meilenweit zu sehen. Sie wusste nicht, ob sie verfolgt wurden, aber selbst wenn nicht, gab es wahrscheinlich Patrouillen, denen sie leicht auffallen konnten. Allerdings glaubte sie nicht so recht daran, dass Jagang sie einfach entkommen lassen würde, ohne ein paar ihrer Sonderbewacher auf ihre Spur zu setzen, um sie wieder einzufangen. Er verfolgte einen Racheplan, und den würde er nicht einfach aufgeben. Hatten die Schwestern ihn erst wieder geheilt, würde er zweifellos bei übelster Laune sein und entschlossen, sie mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln zurückzuholen. Jagang war kein Mann, der sich irgendetwas abschlagen ließ, was er unbedingt wollte.

Und auch die Schwestern würden ohne Zweifel Jagd auf sie machen. Womöglich waren sie ihr schon dicht auf den Fersen. Auch wenn sie sie nicht direkt sehen konnten, mithilfe ihrer Kräfte würden sie ihrer Fährte folgen können.

Wahrscheinlich tat Samuel gut daran, nicht anzuhalten. Hetzten sie allerdings das Pferd zu Tode, würden sie in noch größere Gefahr geraten.

Wenn sie sich wenigstens noch ein zweites Tier beschafft hätten. Kahlan wäre das nicht einmal sonderlich schwergefallen, schließlich war sie für die meisten Männer im Lager unsichtbar. Sobald sie in die Nähe einiger Tiere gekommen wären, hätte sie sich einfach herunter gleiten lassen und eins mitnehmen können. Und da Samuel ebenso gekleidet war wie die Soldaten - nur so hatte er das Lager schließlich überhaupt durchqueren können -, wäre kein Mensch erstaunt gewesen, wenn er kurz angehalten hätte. Ja, sie hätten sich ein weiteres Pferd beschaffen sollen, um die Tiere wechseln zu können und rascher voranzukommen.

Doch Samuel hatte sich hartnäckig gegen jeden Vorstoß in diese Richtung gesträubt, da er das Risiko für zu groß hielt und befürchtete, sie könnten ihre beste Fluchtgelegenheit zunichtemachen.

In Anbetracht des ungeheuren Risikos konnte sie es ihm nicht einmal verdenken, dass er sich so schnell wie möglich hatte aus dem Staub machen wollen.

Sie fragte sich, wieso sie für ihn nicht unsichtbar war. Wie Richard, schien auch er in der ausdrücklichen Absicht in das Feldlager gekommen zu sein, ihr zur Flucht zu verhelfen.

Ihr wurde ganz übel bei der Vorstellung, dass Richard nicht ebenfalls hatte fliehen können. Das Bild, wie er dort am Boden gelegen hatte, ging ihr nicht mehr aus dem Kopf, brach ihr schier das Herz. Sie brauchte nur an ihn zu denken, und schon kamen ihr die Tränen, ohne dass sie etwas dagegen machen konnte.

Noch unerträglicher wurde das Ganze, weil sie so kurz davor gewesen war, Antworten zu erhalten. Richard hätte bestimmt viele ihrer Erinnerungslücken füllen können, immerhin schien er über sie bestens im Bilde zu sein. Sogar Samuel und das prachtvolle Schwert, das dieser bei sich trug, schien er zu kennen. Sie hörte Richard ihn noch immer anschreien:

»Samuel, du Idiot! Benutz das Schwert, um ihr den Ring vom Hals zu schneiden!«

Die Worte hallten noch immer in ihrer Erinnerung wider. Kein Schwert vermochte Metall zu schneiden, und doch hatte Richard gewusst, dass Samuels Schwert dazu imstande war.

Darüber hinaus verriet es ihr, was Richard von Samuel hielt, und dass er, trotz seiner geringen Meinung von diesem Fiesling, sie so sehr in Sicherheit zu sehen wünschte, dass er sogar bereit war, ihr von Samuel zur Flucht verhelfen zu lassen.

»Was weißt du über Richard?«, wandte sie sich an ihren Begleiter. Einen Moment lang ritt Samuel schweigend weiter.

»Er ist ein Dieb, jemand, dem man auf keinen Fall trauen darf. Er tut Menschen weh.«

»Woher kanntest du ihn?«, fragte sie den Mann, um den sie ihre Arme geschlungen hatte.

Er blickte halb über seine Schulter. »Jetzt ist nicht der richtige Augenblick, das zu besprechen, hübsche Dame.«

Richard, flankiert von einigen Mord-Sith, von Ulic und Egan sowie einigen Soldaten der Ersten Rotte, begab sich mit hastigen Schritten zu jener Grabkammer, in der sich der Durchbruch von den darunterliegenden Katakomben zum Palast befunden hatte.

Nicci begleitete ihn. Obwohl alles andere als wiederhergestellt, hatte sie darauf bestanden, nicht von seiner Seite zu weichen. Sie befürchtete, die Bestie könnte zurückkehren, und dass er sie ohne ihre Hilfe beim nächsten Mal nicht würde aufhalten können. Sie wollte in seiner Nähe bleiben, um ihm diese Hilfe, wenn nötig, bieten zu können - ein Argument, das sogar Cara überzeugt hatte. Nicci hatte versprochen sich auszuruhen, sobald Richard ihrem Wunsch entsprochen hätte. Er dagegen fand, dass ihre diesbezüglichen Versprechungen bald gegenstandslos sein würden, da er fest mit ihrem Zusammenbruch rechnete.

Auf ihrem Weg durch die breiten Flure passierten sie zahllose verbrannte und in grotesker Körperhaltung erstarrte Leichen. Die weißen Marmorwände waren übersät mit Brandmalen, wo in Flammen stehende Soldaten blindlings gegen sie gerannt und ihren Abdruck hinterlassen hatten. Ein wenig wirkten diese rußgeschwärzten Umrisse wie gespenstische Hinterlassenschaften, hätten die blutigen Schlieren nicht davon gezeugt, dass sie von Menschen - nicht irgendwelchen Geistern – dort zurückgelassen worden waren.

In den seitlich abgehenden Räumen und Gängen erblickte Richard weitere tote Ordenssoldaten. Offenbar hatten sie die abgeriegelten Gänge als Bereitstellungsraum genutzt.

»Du hast dein Versprechen gehalten«, bemerkte Nicci mit müder Stimme, aus der nicht nur schlichte Dankbarkeit, sondern auch ein gewisses Staunen sprach.

»Mein Versprechen?«

Sie lächelte trotz ihrer lähmenden Müdigkeit. »Du hast versprochen, mir dieses Ding vom Hals zu schneiden. Erst mochte ich dir nicht recht glauben. Ich konnte dir nicht antworten, aber geglaubt habe ich dir nicht.«

»Lord Rahl hält immer, was er verspricht«, sagte Berdine. Nicci versuchte nach Kräften zu lächeln. »Vermutlich.«

Nathan hatte sie durch den Flur marschieren sehen und war an einer Einmündung stehen geblieben, um zu warten, bis sie zu ihm aufgeschlossen hatten. Er war aus einem Gang rechter Hand gekommen und wirkte äußerst überrascht. »Nicci! Was ist passiert?«

»Richards Gabe ist zurückgekehrt. Er hat mir den Halsring abnehmen können.«

»Und sofort ist diese Bestie wieder aufgetaucht«, setzte Cara hinzu. Nathans Stirn furchte sich noch tiefer, während er Richard musterte.

»Und was ist aus der Bestie geworden, die es auf dich abgesehen hatte?«

»Lord Rahl hat sie erschossen«, antwortete Berdine. »Die von Euch entdeckten Spezialbolzen für die Armbrüste funktionieren offenbar.«

»Dieses eine Mal jedenfalls«, bemerkte Nicci mit leiser Stimme.

»Ich bin froh, dass sie endlich einmal zum Einsatz gekommen sind«, gab er zurück und legte ihr eine Hand auf den Kopf. »So was hatte ich mir fast gedacht«, fügte er abwesend hinzu, während er vorsichtig Niccis Lid anhob. Dann besah er sich ganz genau ihre Augen. Dabei entrang sich seiner Kehle ein Geräusch, das verriet, dass er mit dem dort Gesehenen alles andere als zufrieden war. »Ihr braucht dringend Ruhe«, verkündete er schließlich.

»Ich weiß. Bald.«

»Was ist mit den Fluren hier unten?«, wandte sich Richard an ihn.

»Wir haben ihre Säuberung gerade abgeschlossen. Haben noch eine ganze Reihe von Ordenssoldaten gefunden, die sich dort zu verstecken versuchten. Zum Glück gab es von dem mit Steinplatten abgeriegelten Bereich keinen weiteren Zugang hinauf in den Palast. Es war eine Sackgasse.«

»Mir fällt ein Stein vom Herzen«, sagte Richard.

Einer der Offiziere der Ersten Rotte beugte sich vor und meinte zu Nathan: »Wir haben sie alle ausgeschaltet. Zum Glück waren sie noch nicht in großen Mengen in den Palast eingedrungen. Es ist alles gesäubert, bis hin zu der Grabkammer, durch die sie eingedrungen sind. Dort haben wir ein paar Männer postiert, die auf uns warten.«

»Ich wollte gerade Euren Vorschlag aufgreifen«, meinte Nathan, »die Katakomben von etwaigen Restbeständen zu säubern.«

»Wir werden einige der Gänge zum Einsturz bringen müssen, um sicherzugehen, dass dort niemand mehr eindringen kann.«

Ihre größte Sorge waren gar nicht mal die feindlichen Soldaten, weit gefährlicher wäre es, wenn Schwestern der Finsternis bis in den Palast eindringen würden.

»Ich bin nicht sicher, ob das möglich ist«, meinte Nicci. Richard sah zu ihr. »Wieso nicht?«

»Weil wir nicht wissen, wie weitläufig diese Katakomben tatsächlich sind. Wir können zwar die Stelle, wo sie eingedrungen sind, wieder verschließen, aber es ist gut möglich, dass sie einen anderen, uns unbekannten Eingang an einer völlig anderen Stelle finden. Möglicherweise erstrecken sich die Gänge dort unten über viele Meilen, schließlich ist das Netz aus Gängen nicht nur sehr weitläufig, sondern auch gänzlich unerforscht.«

Dem mochte niemand widersprechen.

Während sie den weißen Marmorflur entlanggingen, warf Nicci Richard einen Blick zu, den diese nur zu gut kannte - den tadelnden Blick einer unzufriedenen Lehrerin.

»Wir müssen über diese roten Farbsymbole sprechen, mit denen du dich bemalt hast.«

»Genau«, meinte Nathan mit düsterer Miene. »Bei dem Gespräch wäre ich auch gern zugegen.«

Richard blickte zu Nicci. »Na schön. Und wo wir schon dabei sind: Ich wüsste gerne ganz genau, wie Ihr die Kästchen der Ordnung in meinem Namen ins Spiel gebracht habt.«

Nicci zuckte leicht zusammen. »Ach, das.«

Richard beugte sich zu ihr. »Ja, das.«

»Nun, wie du bereits sagtest, werden wir uns darüber unterhalten müssen. Es ist nämlich eine Tatsache, dass einige dieser Symbole in einer unmittelbaren Beziehung zu den Kästchen stehen.«

Das überraschte Richard nicht. Er wusste, dass einige dieser Symbole mit der Macht der Ordnung in Zusammenhang standen, sogar, was sie bedeuteten. Nur deswegen hatte er ja sich und seine Mitspieler überhaupt damit bemalt.

Nicci wies nach vorn. »Wir sind da. Dies ist die Stelle, wo sie eingedrungen sind, in dieser Grabkammer hier.«

Als sie den ziemlich schmucklosen Raum betraten, sah Richard sich um. Auf den Steinwänden befanden sich Inschriften auf Hoch-D’Haran, Grabinschriften, die sich auf die hier vor langer Zeit Beigesetzten bezogen. Der Sarg war zur Seite geschoben worden und hatte eine nach unten führende Treppe freigegeben. Bei ihrem überhasteten Aufstieg zurück in den Palast war es stockfinster gewesen, weshalb Richard von der Umgebung nichts mitbekommen hatte. Als sie unter Adies Führung endlich wieder im Palast waren, hatte er nicht einmal gewusst, wo sie sich befanden.

Nicci deutete hinab in das Dunkel. »Dies ist die Stelle, wo die Schwestern zuerst eingedrungen sind.«

»Demnach befindet sich Ann immer noch in ihrer Gewalt«, stellte Nathan nach einem Blick hinunter in das Dunkel fest. Nicci war verunsichert. »Tut mir leid, Nathan. Ich dachte, Ihr wüsstet Bescheid.«

Seine Miene wurde noch finsterer. »Bescheid worüber?«

Sie verschränkte die Hände leicht vor dem Körper und schlug die Augen nieder. »Ann ist umgebracht worden.«

»Wie?« Mehr brachte Nathan nicht hervor.

»Als ich das letzte Mal hier war - als Ann und ich hier herunterkamen. Wir wurden von drei Schwestern überrascht. Sie hatten ihre Gabe gebündelt, um ihre Kräfte selbst hier einsetzen zu können. Ann war tot, ehe wir ihre Anwesenheit richtig bemerkt hatten. Mich wollte Jagang lebend, sonst hätten sie mich wohl nur zu gerne gleich mit umgebracht.«

Behutsam legte sie dem Propheten die Hand auf den Arm. »Sie hat nicht gelitten, Nathan. Ich glaube, sie hat gar nicht richtig mitbekommen, was passiert ist. Sie war sofort tot.«

Nathan, den Blick auf ferne Erinnerungen gerichtet, nickte nur. Richard legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Es tut mir so leid.«

Offenkundig finstere Gedanken verdüsterten Nathans Miene. An hand der eisernen Härte in seinem zornigen Blick hatte Richard wenig Mühe sich vorzustellen, was dem Propheten durch den Kopf ging. Vermutlich waren es die gleichen Gedanken, die auch ihn so oft beschäftigten.

Richard brach das beklommene Schweigen, indem er in den freigelegten Schacht hinunterzeigte. »Ich denke, wir sollten sicherstellen, dass sich dort unten keiner mehr von ihnen versteckt.«

»Es wird mir eine Freude sein«, erwiderte Nathan.

Zwischen seinen nach innen gedrehten Handtellern entzündete sich Zaubererfeuer, ein zorniger Ball aus flüssigem Feuer, der, langsam rotierend, die Kammer mit gleißender Helligkeit erfüllte und seiner Befehle zu harren schien.

Nathan beugte sich über den dunklen Treppenschacht und entfesselte ein tödliches Inferno, das unter zornigem Heulen in das Dunkel stürzte und auf seinem rasanten Fall die behauenen Steinwände erhellte.

»Sobald es seine Arbeit getan hat, werde ich hinabsteigen und den Gang, dort, wo sie eingestiegen sind, zum Einsturz bringen. Dann können sie wenigstens kein zweites Mal an derselben Stelle eindringen«, erklärte Nathan.

»Ich werde Euch bei der Errichtung einiger Schilde aus subtraktiver Magie helfen, damit sie ihn nicht einfach wieder freilegen«, erbot sich Nicci.

Nathan, der seinen eigenen Gedanken nachhing, nickte abwesend.

»Lord Rahl«, fragte Cara mit gesenkter Stimme, »was macht eigentlich Benjamin hier?«

Richard warf einen Blick hinaus auf den Gang, wo der General geduldig wartete. »Keine Ahnung. Er hatte noch keine Gelegenheit, es mir zu verraten.«

Dann überließ er den in die Katakomben hinabstarrenden Nathan seinen Gedanken und trat, begleitet von Cara und Nicci, aus der Kammer zu dem wartenden General Meiffert.

»Was tust du hier, Benjamin?«, erkundigte sich Cara, ehe Richard ihr zuvorkommen konnte. »Solltest du nicht in der Alten Welt sein und die Imperiale Ordnung in Schutt und Asche legen?«

»Richtig«, warf Richard ein. »Nicht, dass ich Eure Hilfe nicht zu schätzen wüsste, aber wieso seid Ihr hier? Vorhin meintet Ihr, Ihr hättet mich aufsuchen müssen, um mir über gewisse Schwierigkeiten zu berichten, auf die Ihr gestoßen seid.«

Einen Moment lang presste er verlegen die Lippen aufeinander. »So ist es, Lord Rahl. Wir sind auf ein großes Problem gestoßen.«

»Ein großes Problem? Und das wäre?«

»Es ist rot, hat Flügel und wird geritten von einer Hexe.«

Загрузка...