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In nahezu völliger Dunkelheit kauerte Nicci auf der aus dem gleichen Stein wie die Wände gemeißelten Bank. Der Vorraum, eine zweite, aus dem soliden Fels gehauene Schutzzone, war mit einem Schild gesichert. Der einzige Weg hinein oder hinaus führte durch die beiden Eisentüren, zwischen denen sich der abgeschirmte Vorraum befand. Hier waren die allergefährlichsten Gefangenen untergebracht, Gefangene, die Magie zu wirken wussten.

Niemand vermochte zu sagen, wie viele Menschen in ebendieser Zelle bereits eingesessen und auf ihre Verabredung mit dem Tod oder Schlimmerem gewartet hatten.

Auf dem Gang draußen vor den beiden Eisentüren hörte Nicci Schritte. Es kam jemand.

Es war nur eine Frage der Zeit gewesen, bis er kommen würde. Nicci war vollkommen ruhig und gefasst. Sie wusste, weshalb sie hier war, und warum Richard Nathan gebeten hatte, sie in diese Zelle sperren zu lassen.

Sie hörte, wie das Schloss des Vorraums mit metallischem Klingen aufschnappte, ein Laut, der durch das Labyrinth aus niedrigen Gängen hallte. Sie hörte jemanden ächzen, als dieser mehrmals hintereinander kräftig zog, um die in ihren rostigen Angeln klemmende Tür weit genug aufzubekommen, um sich hindurchzuzwängen. Als sie einen Schatten durch das winzige Spundloch ihrer Zellentür sah, blies sie die Flamme der Laterne neben ihr auf der Steinbank aus, dem Bett der Zelle und deren einziges Mobiliar.

Ein Schlüssel klirrte, und kurz darauf federte der Riegel ihrer Zellentür zurück. Nach dem langen Ausharren in völliger Stille erschien ihr dieses durchdringende Geräusch ungewöhnlich laut. Dann öffnete sich knarrend die Tür, und der Schein einer Laterne fiel in die Zelle, in deren gelblichem Licht der aufgewirbelte Staub der rostigen Tür zu erkennen war.

Er hatte seine ärmellose Weste angezogen, um seine muskulösen Oberarme zur Schau zu stellen. Auf seinem glattrasierten Schädel spiegelte sich die einzelne Flamme seiner mitgebrachten Laterne. Seine schwarzen Augen schienen sich in den Tiefen dieses dunklen Lochs absolut heimisch zu fühlen. Sie funkelten leicht, als er sie von Kopf bis Fuß musterte. Sie hatte es sich nicht nehmen lassen, ihr Kleid am Halsansatz zu öffnen, um seinem Interesse ein lohnendes Ziel zu bieten. Es funktionierte.

»Ich habe von dir geträumt, Schätzchen«, sagte er, als glaubte er, damit Eindruck bei ihr schinden zu können.

Er war schon immer der Überzeugung gewesen, seine Begierde müsse eine Art Beweis für sie sein, so als beweise sein Mangel an Benehmen oder Zurückhaltung lediglich, welch ungeheure Verlockung sie für ihn darstellte. Für Nicci war er lediglich der Beweis dafür, dass sie es mit einem charakterlosen Wilden zu tun hatte.

Aufrecht, ohne ein Wort zu sagen, dachte sie nicht daran, zurückzuweichen, als Jagang ihr immer näher rückte. Er legte ihr seinen muskulösen Arm um die Hüfte und zog sie fest an seinen massigen Körper, wie zum Beweis seiner Herrschaft über sie, seiner Männlichkeit, seiner uneingeschränkten Macht.

Nicci verspürte kein Bedürfnis, es länger hinauszuzögern. Wie nebenbei legte sie die Arme um seinen Hals und ließ den Rada’Han um seinen Stiernacken einrasten.

Verwirrt taumelte er einen Schritt zurück.

Sie wusste, er spürte die Kraft des Halsrings bis in die letzte Faser seines Seins.

»Was hast du getan?«, fragte er in verärgertem, aber auch leicht verunsichertem Ton, wie sie ihn aus seinem Mund noch nie vernommen hatte.

Doch da sie keine Lust hatte, diese Frage zu diskutieren, übte sie einfach ihre Kontrolle über den Halsring aus, und beraubte ihn der Fähigkeit zu sprechen. Wenn sie ihn kannte, und das tat sie, dann war Schwester Ulicia genau in diesem Moment oben im Garten des Lebens mit dem Öffnen der Kästchen der Ordnung beschäftigt. Sie wollte nicht, dass sie von dem Vorfall hier unten etwas mitbekam.

Bestimmt hatte Jagang es kaum erwarten können, Nicci in die Finger zu bekommen. Die Albträume, die Richard ihm geschickt hatte, plagten ihn, aber die Träume von Nicci, die er ihm bereitet hatte, hatten seine Besessenheit von ihr in eine Leidenschaft, ja Manie umschlagen lassen, die nach und nach an einen Punkt gelangt war, da sie vollends unerträglich wurde. Jagang hatte sie stets begehrt, aber nach den von Richard geschaffenen Träumen war nahezu sein ganzes Denken von dieser Begierde erfüllt.

So sehr, dass er sogar bereit war, Schwester Ulicia ihrer Arbeit zu überlassen, um in die Verliese hinabzusteigen und sie persönlich abzuholen.

Es war Richards bescheidenes Geschenk an sie, wie Nathan ihr im Schutz der Schilde, die keines seiner Worte an ein feindliches Ohr dringen ließen, beim Einschließen in ihre Zelle erläutert hatte. Richard war sich darüber im Klaren, dass sie den Palast würden ausliefern müssen, dass sie alle umkommen würden. Das Einzige, was er Nicci noch geben konnte, war Jagang.

Der Rada’Han, ebenjener Halsring, den Ann dort zurückgelassen hatte, nachdem sie einige Zeit von Nathan dort eingesperrt worden war, hatte bereits in der Zelle gelegen. Das war es wohl auch, was Ann ihr vor ihrem Tod noch mitzuteilen versucht hatte.

Nathan hatte davon gewusst, er hatte gewusst, dass er hinter den Schilden der Zelle verborgen lag. Richard hatte ihn Nicci überlassen wollen, um so Jagang, dem Gerechten, endlich Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.

Er gab sich keinerlei Illusionen hin, dass die Imperiale Ordnung damit besiegt sein würde. Die ruchlosen Glaubensüberzeugungen des Ordens hatten bereits Millionen den Verstand vernebelt, und Jagang war keineswegs deren Architekt. Der allgemeine Hass würde auch ohne diesen einen Mann weiterlodern.

Dessen war sich auch Nicci bewusst. Sie war mit diesen Lehren aufgewachsen und wusste um das Bestreben dieser Fanatiker, das Unmögliche zu vollbringen und das Leiden in eine Tugend umzumünzen, die Sünde in Rechtschaffenheit, und den Tod in endgültige Erlösung. Jagangs Tod würde die Menschheit nicht von solch vernunftwidrigem Glaubenseifer befreien. Die Glaubensüberzeugungen des Ordens wurden nicht von einem Einzelnen getragen, er würde auch ohne Jagang fortbestehen.

Noch würde seine Tötung jenen Einhalt gebieten, die die Kästchen der Ordnung ins Spiel gebracht, den Feuerkettenbann ausgelöst, die Verunreinigung durch die Chimären verursacht oder die gewaltige Armee hatten aufmarschieren lassen, die in ihrer Blut- und Beutegier den Palast umlagerte. Nichts von alledem würde sich dadurch verändern. Aber Richard hatte ihr ein letztes Geschenk machen wollen, das Geschenk, Zeugin von ein wenig Gerechtigkeit zu werden, ehe ihr Leben, wie das der anderen auch, ausgelöscht würde - durch die Hand ebenjener Schwestern, die im Begriff waren, die Macht der Ordnung im Dienste einer Armee heraufzubeschwören, die sich voll und ganz den Glaubensüberzeugungen des Ordens verschrieben hatte. Es war seine einzige Möglichkeit, ihr für alles zu danken, was sie getan hatte - ihr dieses kleine Stück Erlösung von ebenjenem Mann zuzugestehen, der sie so grauenhaft misshandelt hatte. Nicci trat über die hohe Schwelle. Ihr Gefangener, unfähig zu protestieren, folgte. Obwohl ihre Gabe im Innern des Palasts des Volkes eingeschränkt war, reichte sie vollkommen aus, um sich mühelos der einzigartigen Eigenschaften des Rada’Han zu bedienen. Sie hätte Jagang schmerzgequält zu Boden werfen können, benutzte jedoch nur das nötige Maß an Kraft, um seinen Widerwillen zu brechen, seiner schweigsamen Führerin zu folgen.

Vor der zweiten Tür warteten mehrere Offiziere der Ersten Rotte, Männer, die Jagang zu seinem gefangenen Opfer hinuntergeführt hatten. Der Gang war so niedrig und eng, dass sich die Männer mit eingezogenen Köpfen unter der niedrigen Decke in einer Reihe hintereinander hatten aufstellen müssen, da sie nebeneinander keinen Platz hatten. Sie waren überrascht zu sehen, dass Nicci den Kaiser in ihrer Gewalt hatte.

Bei ihnen stand ein großer Mann in Uniform, der Kapitän der Wachmannschaft. Er war stets freundlich zu ihr gewesen, hatte ihr gebracht, was immer sie verlangte. Jetzt hatte sich ihr sehnlichster Wunsch erfüllt.

»Kapitän Lerner«, wandte sie sich an ihn. »Würdet Ihr die Freundlichkeit besitzen, uns den Weg aus diesem Irrgarten zu zeigen?«

Er betrachtete den muskulösen Mann, der hinter ihr im Halsring ging, lächelte sie dann an. »Es wäre mir ein großes Vergnügen.«

Wieder in den endlosen Hallen des Palasts, ließ sie Jagang vorausgehen. Sie folgte ihm dicht auf den Fersen, darauf bedacht, dass er immer weiterging, mit niemandem sprach, niemanden grüßte. Obwohl er nach Kräften versuchte, sich der Macht des Halsrings zu entziehen, war es für sie lächerlich einfach, seinen Widerstand, seine Macht und seinen Zorn zu brechen. Er war hilflos wie eine Marionette.

Im ganzen Palast verneigten sich Soldaten der Imperialen Ordnung vor ihm, als er sie passierte, doch Nicci gestattete ihm nicht, ihre Respektsbekundungen zu erwidern. An seine überhebliche Arroganz, seine Gleichgültigkeit ihnen gegenüber gewöhnt, dachten die Ordenssoldaten sich nichts dabei, ihn vorbeimarschieren zu sehen, ohne sie auch nur eines Blickes zu würdigen.

Einen direkten Weg in den Garten des Lebens gab es nicht. Um den in Gestalt einer Bannform angelegten Palast zu durchqueren, der gleichzeitig eine ganze Stadt war, musste man einen wahren Irrgarten aus Gängen und säulengestützten Hallen aus prachtvoll gestaltetem Stein durchqueren, und so die zu verschlungenen Mustern verwobenen Linien ebendieser Bannform. Das machte jeden Weg zeitraubend, und der Weg von den Verliesen bis hinauf in den Garten des Lebens war lang. Als sie die mit Oberlichtern versehenen Stellen passierten, sah Nicci, dass sich bereits ein erster Hauch von Blau am Himmel abzuzeichnen begann. Ursprünglich hatte Nicci vorgehabt, den Garten zusammen mit Jagang aufzusuchen, um Richard ein letztes Mal zu sehen. Einige knappe Fragen hatten jedoch ergeben, dass dieser es irgendwie zurückgeschafft hatte, wie, wusste Jagang nicht. Nicci vermutete, dass es jetzt auch keine Rolle mehr spielte, er war wieder da, sie wollte ihn vor dem Ende ein letztes Mal sehen, wollte, dass er Jagang sah, damit er wusste, dass der Kaiser die grausamen Früchte seines endlosen Krieges, den er in die Neue Welt getragen hatte, ernten würde. Nach allem, was er getan hatte, hatte er diesen kleinen Triumph verdient.

Kaum hatte sie den Garten des Lebens durch die Flügeltüren betreten, konnte sie durch die Bäume hindurch erkennen, dass die Sonne bereits den Altar streifte. Ein halbes Dutzend Schwestern der Finsternis hatte sich um Schwester Ulicia versammelt, die vor den Kästchen stand. Selbst im prallen Sonnenlicht schienen die Kästchen eine Leere in der Welt. Das Sonnenlicht vermochte sie nicht zu erhellen, vielmehr schienen sie es in sich hineinzusaugen und an einen Ort hinabzuziehen, wo es auf Nimmerwiedersehen verschwand.

Jagang versuchte mit aller Kraft, sich der Kontrolle des Rada’Han zu entziehen, um in ihre Nähe zu gelangen, doch er war machtlos. Nicci hielt ihn im Hintergrund, so dass seine Leibwache annehmen musste, er wolle lediglich zuschauen und nicht gestört werden.

Sie war sich des Umstandes bewusst, dass sie seinem Leben jeden Augenblick ein Ende bereiten konnte, und genau das würde sie auch tun, sobald der rechte Augenblick gekommen war. Keiner von ihnen hatte eine Chance, den Kaiser jetzt noch zu retten, selbst wenn sie gewusst hätten, dass er in Lebensgefahr schwebte. Jetzt gehörte er ihr. Dann bemerkte sie Richard in seinem prachtvollen Kriegszaubereranzug. Der Anblick ließ ihr das Herz schwer werden.

Neben ihm stand ganz ruhig Kahlan. Hätte er das sterile Feld aufrechterhalten, um wenigstens eine Chance zu bekommen, dem Feuerkettenbann entgegenzuwirken, wüsste sie nicht einmal, wie er in Wahrheit für sie empfand. Jetzt sah es ganz so aus, als würde ihm diese Gelegenheit für immer verwehrt bleiben, und sie würde in den Tod gehen, ohne jemals die Wahrheit zu erfahren.

Richard bemerkte Nicci, dann sah er neben ihr Jagang und wusste, dass sie sein Geschenk hatte nutzen können. Er bedachte sie mit einem heimlichen, dünnen Lächeln.

Schwester Ulicia tippte auf das rechte Kästchen. »Dieses.«

Ihr Erfolg ließ die anderen Schwestern strahlen. Jetzt endlich konnten sie die Macht der Ordnung ihrem Kaiser übergeben. Noch ahnten sie nicht, dass es keine Gelegenheit mehr geben würde, ihren Sieg zu feiern.

Schwester Ulicia hob den Deckel des rechten Kästchens an. Goldenes Licht strömte aus dem Innern hervor, fast so als wäre es flüssig. Es umfing die vor dem steinernen Altar stehenden Schwestern. Ihre Leistung entlockte ihnen allen ein gelöstes Strahlen, auch wenn ihr Erfolg allein der Imperialen Ordnung und nicht ihnen persönlich zugutekommen würde. Natürlich würden sie ihn in den Dienst der Imperialen Ordnung stellen, ohne auch nur zu bemerken, dass Jagang längst nicht mehr ihren Verstand beherrschte.

Machte Nicci sie jedoch darauf aufmerksam, würden sie diese Pforte nur dazu benutzen, den Hüter aus der Unterwelt zu befreien. Nicci musste sich entscheiden - entweder sie ließ zu, dass sie die Welt der Imperialen Ordnung auslieferten - oder dem Hüter.

Sie wusste selbst, dass dies keine echte Alternative war, doch zumindest wäre ein Leben unter dem Orden noch so etwas wie ein Leben. Ließe sie den Schwestern der Finsternis jedoch völlig freie Hand, gäbe es selbst das nicht mehr.

Nicci wollte nicht miterleben müssen, was aus dieser aus Hass geborenen Welt entstehen würde. Aber vermutlich brauchte sie sich darüber nicht den Kopf zu zerbrechen, denn jetzt hatte sie vermutlich nur noch wenige Augenblicke zu leben.

Auf jeden Fall aber würde Jagang vor ihr sterben. Dafür würde sie sorgen.

Endlich würde Jagang, dem Gerechten, Gerechtigkeit widerfahren. Das Einzige, was ihr beim besten Willen völlig unbegreiflich blieb, war das Lächeln auf Richards Gesicht.

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