Nicci sah, dass sie einen Rada’Han um den Hals trug. Ihr Blick verriet, dass ihr Niccis Halsring ebenfalls nicht verborgen geblieben war. Nicci vermutete, dass diesem Blick nicht viel entging.
Während sie einander anstarrten, bemächtigte sich eine gewisse Zögerlichkeit Kahlans Augen, der Geist einer verhaltenen Ermutigung, geboren aus der Erkenntnis, dass Nicci sie tatsächlich sehen konnte. Sofort wurden sie auf mehr als eine Art zu Schwestern, zu Frauen, die mehr gemein hatten als nur einen Ring um ihren Hals. Wie einsam und verloren musste man sich fühlen, wenn man unsichtbar und vergessen im Mittelpunkt eines solch bösartigen Bannes vor sich hin vegetierte.
Unsichtbar jedenfalls für alle außer den Schwestern der Finsternis und offenbar Jagang. Es musste ihr Hoffnung machen, dass noch jemand anderes sie sehen konnte, selbst wenn es eine Fremde war. Auch ohne ihre erlesene Schönheit war dieser Frau eine Präsenz eigen, eine wache Bewusstheit, die Nicci augenblicklich an die von Richard in Stein gehauene Statue erinnerte. Diese Statue, mit Namen Seele, hatte Kahlan nicht ähnlich sehen, sondern ihren unbeugsamen Willen, ihren Mut wiedergeben sollen. Und genau das hatte sie getan, auf eine Weise, die Nicci jetzt, angesichts des lebendigen Vorbilds, fast den Atem raubte.
Jetzt begann sie auch zu verstehen, warum Kahlan in vergleichsweise jungen Jahren zur Mutter Konfessor ernannt worden war. Mittlerweile gab es keine Konfessorinnen mehr, sie war die Letzte ihrer Art. War sie zunächst überrascht, Kahlan hier zu sehen, so wurde ihr schnell klar, dass ihr Hiersein durchaus schlüssig war. Schwester Armina hatte zu den Schwestern gehört, die sie gefangen genommen und den Feuerkettenbann ausgelöst hatten. Schwester Tovi hatte ihr gestanden, dass sie Jagang mithilfe der Bande zu Richard hatten entgehen können. Auch wenn Jagang diese Bande vermutlich irgendwie hätte umgehen können, so schien es wahrscheinlicher, dass die Bande sie in Wahrheit zu keinem Zeitpunkt geschützt hatten, denn mit der Gefangennahme von Schwester Armina wären ihm auch Schwester Ulicia und Cecilia in die Hände gefallen. Das musste der Grund für Kahlans Anwesenheit hier sein. Die Schwestern hatten sie gefangen gehalten, damit auch sie Jagang ins Netz ginge.
Dann sah sie, dass auch Jillian hier war. Die kupferfarbenen Augen des Mädchens blinzelten überrascht, als sie Nicci vor sich stehen sah. So nachvollziehbar Kahlans Anwesenheit hier sein mochte, Julians war gänzlich unerklärlich.
Jillian beugte sich zu Kahlan hinüber und flüsterte ihr hinter vorgehaltener Hand leise etwas ins Ohr - zweifellos Niccis Namen. Kahlans einzige Reaktion war ein kaum merkliches Nicken, ihre Augen jedoch verrieten sehr viel mehr. Sie hatte den Namen schon einmal gehört. Als Jagang das Buch, in dem er gelesen hatte, auf den Nachttisch schleuderte, wies Nicci rasch mit zwei Fingern erst auf Kahlans, dann auf ihre Augen, ehe sie einen mit der Bitte um Stillschweigen an ihre Lippen legte. Jagang sollte nicht wissen, dass sie Kahlan sehen konnte, und erst recht nicht, dass sie Jillian kannte. Je weniger er wusste, desto sicherer würden die beiden sein - wenn sich so etwas überhaupt von Gefangenen Kaiser Jagangs sagen ließ. Ohne eine Bestätigung ab zuwarten, löste Nicci den Blick von den beiden und wandte sich herum zu Jagang.
Als er sie mit seinem düsteren Blick fixierte, glaubte Nicci in Ohnmacht zu fallen. Sich seiner zu erinnern war eine Sache, etwas ganz anderes aber war es, leibhaftig vor ihm zu stehen.
Sich wieder dem prüfenden Blick dieser albtraumhaften Augen ausgesetzt zu sehen, machte all ihren Mut zunichte. Sie wusste, was sie erwartete.
»Sieh an.« Den Blick auf sie geheftet, kam Jagang um das Bett herum.
»Sieh an, wer endlich wieder zurückgefunden hat.« Ein breites Grinsen ging über sein Gesicht. »Du bist noch schöner als all die Träume, die ich von dir hatte, seit du das letzte Mal hier bei mir warst.«
Sie fand sein Verhalten weder überraschend, noch hatte es irgendetwas zu bedeuten. Seine Reaktion niemals wirklich einschätzen zu können, hielt alle in seiner Umgebung in einem Zustand beständiger Angst. Sein Zorn konnte sich jederzeit an der geringsten Kleinigkeit entzünden, oder auch an gar nichts. Nicci hatte ihn einen Sklaven mit bloßen Händen erwürgen sehen, nur weil dieser ein Brotschneidebrett hatte fallen lassen, während er bei einer anderen Gelegenheit einen Teller mit Lammbraten aufgehoben und seinem Diener beiläufig zurückgegeben hatte, ohne auch nur seine Unterhaltung zu unterbrechen.
Diese Launenhaftigkeit spiegelte in nicht geringem Maße das irrationale, unvorhersehbare und unverständliche Gebaren der Imperialen Ordnung selbst wider. Die Tugendhaftigkeit - ja die Zweckdienlichkeit - der Selbstaufopferung für die Sache wurde an unmerklichen, unergründlichen, ja nicht einmal nachvollziehbaren Anforderungen gemessen. Glück oder Unglück schienen stets nur von einer Laune abzuhängen. Dieser ständig bohrende Zweifel raubte der Bevölkerung jede Kraft. Die Last unablässiger Anspannung bewirkte, dass ein jeder jeden des Aufruhrs zu bezichtigen bereit war, sogar die eigenen Familienangehörigen - solange das Schicksal sich dadurch in Schach halten ließe.
Wie viele Männer glaubte auch Jagang, Niccis Gunst mit ein wenig hohler Schmeichelei gewinnen zu können. Sich selber sah er gerne als charmant. Die Form, die seine Hudeleien annahmen, offenbarten allerdings mehr über seine Wertvorstellungen als über ihre.
Nicci verzichtete darauf, sich zu verbeugen. Sie war sich des Rings um ihren Hals nur zu deutlich bewusst, der sie daran hinderte, von ihrer Gabe Gebrauch zu machen. Auch wenn sie sich gegen diesen Mann nicht wehren konnte, würde sie weder durch eine Verbeugung Respekt heucheln, noch war sie gewillt, vor seiner elegant formulierten Lüsternheit zu kriechen.
Auch früher schon hatte sie einzig ihre Gleichgültigkeit, nicht ihre Gabe vor dem zu schützen vermocht, was er ihr antun konnte. Damals war es ihr schlicht egal gewesen, ob er ihr wehtat oder sich irgendwann entschied, sie umzubringen. Sie glaubte, jedes Leid, das er ihr zufügen könnte, zu verdienen, und scherte sich nicht darum, ob sie starb. Es hatte sie gleichgültig gegen die allgegenwärtige Möglichkeit gemacht, dass ihn die Lust zu morden überkommen könnte. Auch wenn sich das dank Richard nun geändert hatte - ihm durfte sie es nicht zeigen! Ihre einzige Chance, ihre einzige Verteidigung, bestand darin, ihn im Glauben zu lassen, ihre Haltung wäre unverändert, und es wäre ihr ebenso egal wie damals, was ihr widerfuhr. Die Herrin des Todes kümmerte es nicht, ob sie von ihrer Kraft Gebrauch machen konnte oder nicht. Der Halsring war für sie bedeutungslos. Sachte ließ Jagang den langen unter seiner Unterlippe wachsenden Haarzopf durch seine Finger gleiten. Er maß sie mit seinem Blick, dann stieß er einen tiefen Seufzer aus, so als dächte er darüber nach, was er mit ihr zuerst anstellen sollte.
Sie musste nicht lange warten.
Völlig unvermittelt schlug er ihr den Handrücken so hart ins Gesicht, dass es sie von den Füßen riss. Bei der Landung schlug sie mit dem Kopf auf den Boden, doch zum Glück wurde der Aufprall durch die dicken Teppiche gedämpft. Es fühlte sich an, als wären ihre Kiefernmuskeln gerissen und der Knochen zertrümmert. Die Wucht des Schlages raubte ihr jedes Gefühl.
Obwohl der Raum sich zu drehen und zu kippen schien, war sie fest entschlossen, unter allen Umständen wieder auf die Beine zu kommen. Eine Herrin des Todes verkroch sich nicht, sie blickte dem Tod gleichgültig ins Angesicht.
Wieder auf den Knien, wischte sie sich mit der Innenseite ihres Handgelenks das Blut aus dem Mundwinkel und bemühte sich, ihr Gleichgewicht wiederzuerlangen. Trotz der Schmerzen schien ihr Kiefer unversehrt. Sie mühte sich, die Beine unter ihren Körper zu bekommen. Sie hatte es noch nicht ganz geschafft, als Julian sich zwischen sie und Jagang warf. »Lasst sie in Ruhe!«
Während Jagang das Mädchen, die Hände in die Hüften gestemmt, mit einem zornigen Blick bedachte, warf Nicci einen verstohlenen Seitenblick auf Kahlan und erkannte am Glanz in ihren Augen, dass sie Schmerzen litt. Das Zittern ihrer Finger verriet ihr auch, welche Art Qualen Jagang ihr über den Halsring bereitete. Solche vorsorglich zugefügten Schmerzen sollten jeden Versuch, sich einzumischen, im Keim ersticken und dafür sorgen, dass sie sich nicht von der Stelle rührte.
Nach Niccis Einschätzung war das aus Jagangs Sicht eine weise Entscheidung.
So weit sie zurückdenken konnte, hatte Nicci Menschen einzuschätzen vermocht, und das in kürzester Zeit. Eine wertvolle Eigenschaft, denn nicht selten hing das Uberleben in einer gewalttätigen Auseinandersetzung von der genauen Bewertung ihres Gegenübers ab. Ein Blick auf Kahlan sagte ihr, dass sie eine überaus gefährliche Frau war, eine Frau, die es gewohnt war, sich einzumischen. Jagang packte Julian im Nacken, hob sie wie ein lästiges Katzenjunges in die Höhe und trug sie quer durch das Gemach, wobei sie, wohl eher aus Furcht denn aus Schmerz, spitze Schreie ausstieß und wirkungslos an seinen übergroßen Pranken zerrte. Ihre strampelnden Füße traten ins Leere. Jagang schlug den schweren Vorhang aus wattierter Wolle zur Seite, der die Öffnung zu seinem Schlafgemach verdeckte, und schmiss Julian hinaus.
»Armina! Pass auf das Kind auf. Ich will mit meiner Königin allein sein!«
Nicci bekam gerade noch mit, wie Schwester Armina Julian in ihre Arme nahm und sie wegzerrte. Ein kurzer Blick ergab, dass Kahlan, am ganzen Körper leicht zitternd, noch immer auf derselben Stelle auf dem Teppich kauerte. Eine Schmerzensträne lief über ihre Wange. Nicci fragte sich, ob Jagang überhaupt ahnte, welche Qualen er ihr bereitete. Manchmal war er sich seiner ungeheuren Kräfte gar nicht bewusst, und das in mehr als einer Weise. Sein ungehemmter Zorn war allumfassend und wirkte sich nicht nur auf seine Muskelkraft, sondern auch auf seine geistigen Fähigkeiten aus.
Nicht selten hatte er Nicci in der Vergangenheit sehr viel härter geschlagen, als beabsichtigt, hatte er ihr als Traumwandler eine Schmerzensdosis verabreicht, die leicht hätte tödlich sein können, nur um sich später mit der lapidaren Bemerkung zu rechtfertigen, sie sei selbst schuld daran, weil sie ihn so wütend gemacht habe.
Als er jetzt den schweren Vorhang, der sein Schlafgemach verschloss, wieder fallen ließ, erschlafften Kahlans angespannte Muskeln schlagartig. Mit einem Seufzer der Erleichterung sackte sie in sich zusammen und schien sich nach ihrer stummen Qual kaum noch von der Stelle rühren zu können.
»Also«, wandte Jagang sich wieder Nicci zu. »Liebst du ihn?«
Nicci machte ein verständnisloses Gesicht. »Was?«
Das Gesicht zornesrot, ging er auf sie los. »Was soll das heißen, was? Du hast mich schon verstanden!« Er krallte ihr die Faust ins Haar und beugte sich bis auf wenige Zoll über sie. »Versuch nicht, so zu tun, als hättest du mich nicht verstanden, sonst reiße ich dir den Kopf ab!«
Nicci reckte ihr Kinn vor, so gut es eben ging, bot ihm ihre entblößte Kehle dar und lächelte. »Bitte, nur zu. Das wird uns beiden eine Menge Ärger ersparen.«
Einen Moment lang musterte er sie wütend, dann ließ er ihr Haar los und strich es glatt. Schließlich machte er kehrt und entfernte sich einige Schritte.
»Ist es das, was du willst? Sterben?« Er wandte sich wieder herum. »Um dich deiner Pflicht gegenüber dem Hüter und der Imperialen Ordnung zu entziehen? Deiner Pflicht mir gegenüber?«
Gleichgültig zuckte Nicci die Achseln. »Was ich will, spielt doch wohl keine Rolle, oder?«
»Was soll das heißen?«
»Ihr wisst sehr gut, was das heißt. Wann hat es Euch je im Mindesten geschert, was ich möchte? Ihr werdet tun, was immer Euch beliebt, ganz gleich, was ich dazu zu sagen habe. Schließlich bin ich nichts weiter als ein Untertan der Imperialen Ordnung, oder? Ich würde sagen, Ihr wollt, was Ihr immer schon wolltet - mich letztendlich töten.«
»Dich töten?« Er breitete die Arme aus. »Wie kommst du darauf?«
»Durch Eure Zügellosigkeit.«
»Zügellosigkeit?« Er funkelte sie von der Seite an. »Ich bin wohl alles andere als zügellos. Ich bin Jagang, der Gerechte.«
»Vergesst Ihr etwa, dass ich es war, die Euch diesen Titel gegeben hat? Und zwar nicht etwa, weil er die Wahrheit widerspiegelte, sondern ganz im Gegenteil, um ein Bild zu entwerfen, das den Zwecken der Imperialen Ordnung diente. Und dieses Bild habe ich Euretwillen entworfen, weil ich wusste, die gedankenlosen Menschen würden es allein schon deswegen glauben, weil wir es in die Welt gesetzt haben. Ihr wüsstet diese Rolle nicht einmal dann auszufüllen, wenn Euer Leben davon abhinge!«
Die wolkigen Schatten in seinen Augen trieben durch ein tiefschwarzes Dunkel, das sie an das jenseitige Schwarz des Kästchens der Ordnung erinnerte, das sie in Richards Namen ins Spiel gebracht hatte.
»Ich weiß nicht, wie du so etwas behaupten kannst, Nicci. Ich war stets mehr als gerecht zu dir, habe dir Dinge zugestanden, wie sonst keinem. Warum sollte ich das tun, wenn ich die Absicht hätte, dich zu töten?«
Nicci seufzte ungeduldig. »Sagt einfach, was Ihr sagen wollt, schlagt mir den Schädel ein oder schickt mich in die Folterzelte. Ich bin nicht sonderlich interessiert an diesem Spiel. Ihr glaubt, was immer Ihr glauben wollt, ohne Rücksicht auf die Wirklichkeit. Ihr wisst ebenso gut wie ich, dass nichts, was ich zu welchem Thema auch immer sagen könnte, irgendwas bewirken wird.«
»Was du sagst, hat stets etwas bewirkt.« Als die Erregung in seiner Stimme wuchs, erhob er die Hand gegen sie. »Sieh doch, was du gerade über meinen Titel Jagang, der Gerechte, gesagt hast. Das war deine Idee. Ich habe auf dich gehört und sie mir zu eigen gemacht, denn sie war gut. Sie war unseren Zwecken dienlich. Gute Arbeit. Ich habe es dir schon einmal gesagt: Ist dieser Krieg erst gewonnen, wirst du an meiner Seite sitzen.«
Nicci verzichtete darauf, ihm zu antworten.
Er verschränkte die Hände hinter dem Rücken und entfernte sich einige Schritte.
»Liebst du ihn?«
Nicci warf einen verstohlenen Blick zur Seite. Kahlan hockte auf dem Teppich und beobachtete sie - mit sorgenzerfurchtem Gesicht, weil sie die Gefahr spürte, die in der Luft lag. Es war, als wollte sie Nicci auffordern, den Mann nicht länger aufzustacheln. Doch ob-schon sie Jagangs mögliche Reaktion sichtlich besorgte, schien sie gleichzeitig neugierig, wie Nicci auf die Frage des Kaisers antworten würde. Nicci drehte sich der Kopf, als sie sich ihre Antwort überlegte -nicht etwa aus Sorge, wie Jagang, sondern wie Kahlan darüber denken würde. Immerhin galt es den Feuerkettenbann zu bedenken, die Notwendigkeit eines sterilen Feldes. Nach Lage der Dinge würde sie bis dahin vermutlich tot sein, doch sollte es Richard irgendwie gelingen, der Feuerkettenreaktion mithilfe der Kraft der Ordnung entgegenzuwirken, musste Kahlan ein steriles Feld bleiben, wenn er eine Chance haben wollte, ihre frühere Persönlichkeit wiederherzustellen.
»Liebst du ihn?«, wiederholte er, ohne sich zu ihr umzudrehen. Nicci kam zu dem Schluss, dass es für die Aufrechterhaltung des sterilen Feldes egal war, was sie auf die Frage antwortete. Kahlan würde gefühlsmäßig unvorbelastet bleiben. Was zählte, war Kahlans emotionale Bindung zu Richard, nicht zu ihr.
»Bislang habt Ihr Euch noch nie mit meinen Gefühlen belastet«, sagte sie schließlich leicht gereizt. »Welchen Unterschied könnte das für Euch bedeuten?«
Er wandte sich herum und starrte sie an. »Welchen Unterschied? Wie kannst du so was fragen? Ich habe dich praktisch zu meiner Königin gemacht. Du hast mich gebeten, dir zu vertrauen und dich gehen zu lassen, um Lord Rahl zu vernichten. Ich wollte, dass du bleibst, und doch habe ich dich gehen lassen. Ich habe dir vertraut.«
»Das sagt Ihr jetzt. Hättet Ihr mir damals tatsächlich vertraut, würdet Ihr es jetzt wieder tun, anstatt mich zu verhören. Offenbar habt Ihr Schwierigkeiten, die in dem Wort enthaltene Bedeutung zu erfassen.«
»Das war vor anderthalb Jahren. Seitdem habe ich dich weder gesehen, noch Nachricht von dir erhalten.« »Ihr habt mich bei Tovi gesehen.«
Er nickte. »Ich habe durch Tovis Augen - durch die Augen aller vier Frauen - eine Menge Dinge gesehen.«
»Sie hielten sich für gerissen, als sie sich der Bande zu Lord Rahl bedienten.« Ein zaghaftes Lächeln ging über Niccis Gesicht. »Nur hattet Ihr sie die ganze Zeit beobachtet. Ihr wart über alles informiert.«
Er schloss sich ihrem Lächeln an. »Du warst schon immer gerissener als Ulicia und die anderen.« Er hob eine Braue. »Als du sagtest, du würdest gehen, um Richard umzubringen, habe ich dir vertraut. Stattdessen hat es dir nicht das Geringste ausgemacht, die Bande zu deinem eigenen Vorteil zu benutzen. Wie ist das möglich, Schätzchen? Diese Bande funktionieren nur über deine Ergebenheit zu ihm. Möchtest du mir das vielleicht erklären?«
Nicci verschränkte die Arme. »Mir leuchtet nicht ein, wieso das so schwer zu begreifen sein sollte. Ihr vernichtet, er schafft. Ihr bietet ein dem Tode gewidmetes Dasein, er bietet das Leben. Das sind keine leeren Worte – von keinem von Euch beiden. Er hat mich nie blutig geprügelt oder vergewaltigt.«
Jagangs Gesicht und sein kahlrasierter Schädel wurden puterrot vor Zorn. »Vergewaltigt? Wollte ich dich vergewaltigen, würde ich es tun – und zwar legitim -, aber das war keine Vergewaltigung. Du wolltest es selbst, nur bist du zu verstockt, um es auch zuzugeben. Deine gespielte Empörung diente nur dazu, deine lustvollen Begierden vor mir zu verbergen.«
Nicci ließ ihre Arme sinken, beugte sich vor, und erwiderte, jetzt selber wütend: »Biegt Euch die Dinge zurecht, so viel Ihr wollt, um Euer Tun zu rechtfertigen, aber dadurch werden sie nicht wahr.«
Einen mörderischen Ausdruck im Gesicht, wandte er sich von ihrem Anblick ab.
»Also«, fuhr er schließlich, noch immer mit dem Rücken zu ihr, fort, »beantworte endlich meine Frage. Liebst du ihn?«
Matt fuhr sich Nicci mit der Hand über die Stirn. »Seit wann interessiert Ihr Euch für meine Gefühle? Bisher haben sie Euch noch nie daran gehindert, mich zu vergewaltigen.«
»Was soll plötzlich dieser Unfug über Vergewaltigung!«, explodierte er und machte einen großen Schritt auf sie zu. »Du weißt, ich bin dir zugetan! Und ich weiß, dass es sich andersherum ebenso verhält.«
Nicci machte sich nicht die Mühe, darauf zu antworten. Er hatte sogar recht, insofern, als sie derartige Einwände ihm gegenüber noch nie geäußert hatte - sie hätte gar nicht gewusst, wie. Früher hatte sie geglaubt, ihr Leben gehöre gar nicht ihr. Wie hätte sie sich da beschweren können, der Orden missbrauche sie für seine Zwecke? Oder dessen Anführer?
Erst durch Richard hatte sie begriffen, dass ihr Leben ihr gehörte, und damit auch ihr Körper, und dass sie beides niemandem gegen ihren Willen überlassen musste.
»Ich weiß, was du vorhast, Nicci.« Er ballte erneut eine Faust. »Du benutzt ihn, um mich eifersüchtig zu machen. Du bedienst dich deiner weiblichen Schliche, damit ich dich auf das Bett dort werfe und dir die Kleider vom Leib reiße - darauf hast du es in Wahrheit abgesehen, und wir beide wissen das. Du benutzt ihn, um mich in einen Zustand erhitzter Leidenschaft zu versetzen. Aber in Wahrheit verzehrst du dich nach mir und verbirgst deine wahren Gefühle für mich hinter deinen Vergewaltigungsvorwürfen.«
Nicci betrachtete seine aufgebrachte Miene. »Eure Hoden sind ein schlechter Ratgeber.«
Er zog seine Faust zurück. Sie ließ sich nicht von ihrer Meinung abbringen und blickte wütend in die wolkigen Schatten, die durch die mitternachtsschwarze Landschaft seiner Augen trieben. Zu guter Letzt ließ er seine Hand vollends sinken. »Ich habe dir angeboten, was ich noch keiner anderen jemals angeboten habe - in allen praktischen Belangen meine Königin zu sein und über allen anderen zu stehen. Richard Rahl hat dir nichts zu bieten. Ich allein kann dir bieten, was dir nur ein Kaiser bieten kann - einen Teil jener Macht, die die Welt regieren wird.«
Mit einer Armbewegung erfasste Nicci das Innere des königlichen Zeltes.
»Verstehe, den Zauber, das Böse mit offenen Armen zu umschlingen. Und das alles gehört mir, wenn ich nur meinen denkenden Verstand aufgebe und absolute Ungerechtigkeit zur Tugend erkläre.«
»Ich habe dir die Macht angeboten, an meiner Seite zu herrschen!«
Nicci ließ den Arm sinken und bedachte ihn mit einem kalten, zornigen Funkeln. »Nein, Ihr habt mir angeboten, mich als Eure Hure zu verdingen, und als Mörderin all derer, die sich nicht Eurer Herrschaft beugen.«
»Es ist die Herrschaft der Imperialen Ordnung! Dieser Krieg wird nicht um meines persönlichen Ruhms willen geführt, wie du sehr wohl weißt! Diese Auseinandersetzung wird geführt für die Ziele des Schöpfers - für die Erlösung der Menschheit. Wir bringen den Heiden den wahren Willen des Schöpfers, wir bringen all denen die Lehren des Ordens, die sich nach Bedeutung und Sinn in ihrem Leben sehnen.«
Nicci verstummte. Er hatte recht. So sehr er die äußeren Insignien der Macht genießen mochte, in Wahrheit war er aufrichtig überzeugt, ein Kämpfer für das höhere Wohl zu sein, ein Krieger, der dem wahren Willen des Schöpfers diente, indem er den Lehren des Ordens in diesem Leben Geltung verschaffte, auf dass die Menschheit im nächsten zu Ruhm gelangen konnte.
Sie wusste nur zu gut, was es hieß, gläubig zu sein. Und Jagang war ein Gläubiger.
Fast erschien es ihr lächerlich, dass diese Ideologie, die sie einst selbst vertreten hatte, jetzt so abgrundtief albern wirkte. Im Gegensatz zu Jagang und den meisten anderen, die sich den Überzeugungen des Ordens bereitwillig verschrieben hatten, hatte sie sie nur akzeptiert, weil sie glaubte, es zu müssen, ihr nur so ein tugendhaftes Leben erreichbar schien. Sie hatte das Joch der Knechtschaft für andere akzeptiert und sich gleichzeitig dafür gehasst, dass sie nicht glücklich dabei wurde. Im Grunde waren die Schwestern des Lichts nicht besser gewesen, hatten sie ihr doch nur eine andere Spielart desselben selbstaufopfernden Pflichtgefühls geboten. Deshalb hatte sie sich der ausweglosen Herrschaft der Ordensbruderschaft nie entzogen. Als deren abgestumpfte Dienerin war ihr der Missbrauch durch Jagang nur als notwendiges Opfer auf dem Weg zu einem guten und tugendhaften Dasein erschienen. Und dann hatte sich alles verändert.
Oh, wie sie Richard vermisste.
»Alles, was Ihr der Menschheit bringen werdet, sind tausend Jahre Finsternis.« Sie war es leid, mit einem wahren Gläubigen, dessen theologisches Konstrukt auf den Predigten des Ordens und nicht auf der Wirklichkeit beruhte, über die Wahrheit zu streiten. »Ihr werdet die Welt nur in ein langes düsteres und unzivilisiertes Zeitalter stoßen.« Einen Moment lang musterte er sie aufgebracht. »Das bist nicht du, die da spricht, Nicci. Das weiß ich genau. Das sagst du nur, weil dieser Lord Rahl einen solchen Hass gegen seine Mitmenschen predigt. Und du plapperst es nach, damit ich glaube, dass du ihn liebst.«
»Vielleicht tue ich es ja.«
Er grinste und schüttelte den Kopf. »Nein. Du willst ihn nur benutzen, um mich um deinen kleinen Finger zu wickeln. So sind die Frauen - stets versuchen sie, die Männer zu manipulieren und auszunutzen.«
Statt sich von ihm eine Diskussion über ihre wahren Gefühle für Richard aufzwingen zu lassen, wechselte sie das Thema.
»Eure Herrschaftspläne, denen zufolge der Orden seine Ideen in die ganze Welt tragen soll, werden nicht funktionieren. Ihr benötigt alle drei Kästchen der Ordnung. Ich war bei Schwester Tovis Tod zugegen. Sie hatte das dritte Kästchen, allerdings ist es ihr gestohlen worden.«
»Ja, richtig, der tapfere Sucher, der das Schwert der Wahrheit schwingt«
- er äffte einen Schwertstoß nach - »tritt auf den Plan, um das Kästchen der Ordnung aus den Händen einer boshaften Schwester der Finsternis zu befreien.« Er bedachte sie mit einem säuerlichen Blick. »Ich war schließlich dabei und habe alles mit ihren Augen mitverfolgt.«
Nicci hatte er ebenfalls mit Tovis Augen beobachtet.
»Bleibt die Tatsache, dass die Schwestern im Besitz aller drei Kästchen waren. Ihr mögt sie jetzt in Eurer Gewalt haben, aber von den Kästchen habt Ihr nur zwei.«
Seine Gereiztheit wich einem verschlagenen Feixen. »Oh, ich denke, das wird kein so großes Problem werden, wie du glaubst. Noch wird es eine Rolle spielen, dass du das Kästchen ins Spiel gebracht hast. Ich verfüge über Möglichkeiten, solch unbedeutende Schwierigkeiten zu umgehen.«
Sie war ein wenig schockiert, zu hören, dass er davon wusste, versuchte es sich aber nicht anmerken zu lassen.
»Und die wären?«
Das Feixen wurde noch breiter. »Was wäre ich für ein Herrscher, besäße ich nicht für jede Möglichkeit einen Plan. Sei unbesorgt, Schätzchen, ich habe alles gut im Griff. Am Ende zählt allein, dass ich für die Vereinigung aller drei Kästchen sorgen werde. Dann endlich werde ich die Kraft der Ordnung dazu verwenden, jedweden Widerstand gegen die Herrschaft der Imperialen Ordnung zu beenden.«
»Vorausgesetzt, Ihr überlebt bis dahin.«
Seine Gereiztheit kehrte zurück, während er prüfend ihren leeren Gesichtsausdruck musterte. »Was soll das denn heißen?«
Sie wies in die Ferne. »Richard Rahl hat die Wölfe auf Eure geliebte Herde losgelassen.«
»Und das bedeutet?«
Sie zog keck eine Braue hoch. »Die Armee, die Ihr bis hier herauf verfolgt habt, ist abgetaucht. Ihr habt sie nicht vernichten können, hab ich recht? Ratet mal, wo sie sich jetzt befindet.«
»Sie hat sich in Todesangst in alle Winde zerstreut.«
Sein verärgerter Gesichtsausdruck entlockte ihr ein Lächeln. »Nicht ganz. Die D’Haranische Armee erhielt den Befehl, den Krieg in die Alte Welt zu tragen, zu all denen, die diesen Krieg unterstützen und die mit ihren Lehren diese Aggression erst provoziert und Unschuldige damit überzogen haben. Diese Leute werden sich den Konsequenzen der Entsendung Eurer mörderischen Stellvertreter in den Norden stellen müssen. An ihren Händen, wie an Euren, klebt das Blut unschuldiger Menschen. Aufgrund der großen Entfernung glauben sie, ihre Hände in Unschuld waschen zu können, aber das wird sie nicht von ihren unmittelbar mitverschuldeten Verbrechen freisprechen. Sie werden den Preis dafür bezahlen.«
»Ich bin über die jüngsten Sünden des Lord Rahl im Bilde.« Jagangs Kiefermuskeln spannten sich, als er mit den Zähnen knirschte. »Richard Rahl ist ein Feigling, der Jagd auf unschuldige Frauen und Kinder macht, weil er es nicht erträgt, wahren Männern ins Gesicht zu sehen.«
»Wenn Ihr das wirklich glaubt, wäre das die übelste Art bewussten Leugnens, aber dem ist nicht so. Vielmehr sollen andere dies glauben, also reißt Ihr sorgfältig ausgewählte Halbwahrheiten aus dem Zusammenhang, um Eurer Sache einen scheinbar moralischen Anstrich zu geben. Ihr versucht eine Entschuldigung für das Unentschuldbare zu finden. Ihr verkriecht Euch sozusagen hinter den Röcken einer Frau und schießt mit Pfeilen, um Euch, erwidert man den Beschuss, über diese Abscheulichkeit empören zu können.
In Wahrheit wollt Ihr denen, die Ihr vernichten wollt, das unveräußerliche Recht auf Selbstverteidigung nehmen.
Richard hat die durch den Glauben des Ordens verkörperte Gefahr erkannt. Er lässt sich nicht durch aufgebauschte Probleme kaltstellen, deren Zweck es ist, die Wahrheit zu verschleiern. Er weiß, um zu überleben, muss er stark genug sein, diese Gefahr auszuschalten, in welcher Form sie sich auch zeigt - selbst wenn das bedeutet, die Felder zu zerstören, auf denen die Nahrungsmittel wachsen, die Euren Männern die Kraft geben, friedlich ihr Dasein fristenden Menschen die Kehlen durchzuschneiden. Jeder, der diese Felder verteidigt, macht sich der Mithilfe an dem Morden schuldig.
Er weiß um die schlichte Wahrheit, dass es ohne einen Sieg kein Überleben für sein Volk gibt.«
»Diese Leute haben ihr Leid doch selbst verschuldet, indem sie sich den rechtschaffenen Lehren des Ordens widersetzen«, warf Jagang ein. Die Muskeln seiner Arme angespannt, die Fäuste geballt, lief er auf und ab, offenbar kurz vor einem Gewaltausbruch. Er mochte es nicht, wenn man seine Behauptungen in Zweifel zog, also fuhr er Nicci an und wiederholte sie mit größerem Nachdruck, so als könnte seine erhobene Stimme und die darin enthaltene Drohung die Angelegenheit klären.
»Richard Rahl liefert selbst den Beweis für seine Verdorbenheit und die Korruption derer, die er anführt, indem er seine Männer losschickt, um unschuldige Frauen und Kinder aus der Alten Welt zu töten, statt sich unseren Soldaten im Kampf zu stellen. Seine an ihnen begangenen Abscheulichkeiten zeigen, was für ein feiger Verbrecher er in Wahrheit ist. Es ist unsere Pflicht, die Welt von solchen Sündern zu befreien.«
Nicci verschränkte die Arme und bedachte ihn mit einem Funkeln, wie es früher denen vorbehalten war, die sich dem Willen des Ordens nicht beugen wollten, ein Blick, der oftmals den Taten vorausging, die ihr den Namen Herrin des Todes eingetragen hatten. Und der Jagang zu denken gab.
»Die Menschen in der Neuen Welt sind unschuldig«, erklärte sie schließlich. »Nicht sie haben den Krieg zur Imperialen Ordnung getragen, sondern umgekehrt. Es stimmt, durch die Kämpfe werden Menschen in der Alten Welt - darunter auch Kinder - zu Schaden kommen oder gar getötet werden. Aber was haben sie denn für eine Wahl? Sollen sie sich weiter abschlachten und als Sklaven verschleppen lassen, nur weil sie befürchten, einem Unschuldigen Schaden zuzufügen? Sie sind unschuldig, ebenso wie ihre Kinder. Sie sind es, denen Leid geschieht.
Dank Eures Eindringens in Schwester Ulicias Verstand wart Ihr über ihre Pläne informiert und wusstet, dass Richards höchstes Gut das Leben ist. Schwester Ulicia ersann einen Plan, der ihr, sobald sie mithilfe der Macht der Ordnung den Hüter aus der Unterwelt befreit hätte, die Möglichkeit geben würde, Richard ewiges Leben zu gewähren. Dass Richard dies weder für möglich halten, noch jemals akzeptieren würde, war in ihren Augen bedeutungslos. Sie glaubte, allein aufgrund ihrer Absicht immun gegen Eure Talente als Traumwandler zu sein.
Doch da Ihr bereits in ihren Verstand eingedrungen wart, kanntet Ihr Richards höchstes Gut bereits - das Leben.
Dieser Gedanke ist Euch vollkommen fremd, für den Orden ist dies kein Gut. Dort lehrt man, unser Leben sei nichts weiter als ein Übergangszustand auf unserem Weg ins Leben nach dem Tode, eine Hülle, die unsere Seele bis zum Erreichen eines höheren Seinszustandes in sich birgt. Den Ordenslehren entsprechend ist das Leben nach dem Tod unser höchstes Gut, eine Herrlichkeit, die man sich durch die Aufopferung des hiesigen Lebens verdient. Demzufolge ist für den Orden der Tod das höchste Gut.
Wer hingegen das Leben achtet, den betrachtet Ihr als minderwertig. Euch ist unbegreiflich, was das Leben für jemanden wie Richard bedeutet, trotzdem wisst Ihr, wie Ihr das Gelernte nutzen könnt -indem Ihr Richard einzuschüchtern versucht, sich der größeren Herausforderung zu stellen, das Leben in seiner Gesamtheit zu beschützen. Indem Ihr ihn als Mörder von Frauen und Kindern hinstellt, um ihm seinen Mut zu rauben, indem Ihr ihn unter moralischen Druck setzt, damit er aus Angst, es könnten Zivilisten getötet werden, von seinem Angriff absieht. Indem Ihr ihn also darauf beschränkt, sich selbst zu verteidigen.
Als erfahrener Krieger wisst Ihr, dass Kriege nicht aus der Defensive gewonnen werden. Ohne die absolute Entschlossenheit, alle er forderlichen Kräfte aufzubieten, um das verworfene Gedankengut eines Aggressors zu zerschmettern, kann man einen Krieg nicht zu gewinnen hoffen, denn dieses Gedankengut hat den Krieg ja überhaupt erst ausgelöst.
Das weiß auch Richard. Deshalb ist er überzeugt, den Krieg nur gewinnen zu können, wenn er dem Aggressor die Möglichkeit nimmt, ihm Schaden zuzufügen, wenn er seine Hingabe an ebenjene Überzeugungen untergräbt, die ihn überhaupt erst zu dem Angriff bewogen haben. Also habt Ihr es Euch zum Ziel gemacht, diesen Mann mit völlig überzogenen Vorwürfen so weit zu verleumden und entehren, bis er Angst hat, so zu handeln, wie es für seinen Sieg vonnöten wäre. All dies soll von den wahren Folgen Eurer Glaubensüberzeugungen ablenken und Konvertiten zur verdrehten Ideologie des Ordens bekehren. Ihr beschuldigt andere genau jener Dinge, derer Ihr selbst schuldig seid, weil Ihr sehr gut wisst, dass Ihr dadurch Emotionen weckt. Letztendlich sind diese übertriebenen Vorwürfe nichts als ein Vorwand – der Versuch, Eure gewohnheitsmäßige Ermordung unvorstellbarer Menschenmassen zu rechtfertigen.
Wir beide wissen um die Wahrheit der zahllosen Frauen- und Kinderleichen, die der Orden hinterlässt, doch die werden angesichts Eurer moralischen Empörung einfach übersehen. In der Brutalität, Rohheit und Grausamkeit, mit der Ihr gegen Menschen vorgeht, die dem Volk der Alten Welt nichts angetan haben, zeigt sich das wahre Gesicht Eures Glaubens. Die Ungeheuerlichkeit Eurer Verdorbenheit wird allein dadurch kompensiert, dass Ihr dem Opfer die Schuld an den Verbrechen gebt, mit denen Ihr sein Volk überzieht, so wie Ihr mir die Schuld an meiner eigenen Vergewaltigung gebt.
Ich war zugegen, als Richard diesen Truppen seine Befehle gab, ich kenne die Wahrheit. Und die lautet, dass der Verstand der meisten Menschen in der Alten Welt unwiderruflich umnachtet ist - durch ihre fanatische Hingabe an Ideen, die nichts als Leid und Tod zur Folge haben. Diese Menschen sind für eine Erlösung mit Mitteln der Vernunft rettungslos verloren. Richard weiß, die einzige Möglichkeit, mit dem Bösen zu verfahren, und den Hang der Menschen zu ihm zu brechen, besteht darin, diese Neigung für sie unerträglich zu machen. Der Orden hat dies zu einem Krieg bis zum bitteren Ende gemacht. Richard weiß, dass der Versuch einer Koexistenz mit dem Bösen oder eine Rechtfertigung derer, die es nähren, sein Volk zum Untergang verdammen würde. Er weiß, dass er den Ursprung dieser Überzeugungen vernichten muss, da sonst alle freidenkenden Menschen überall zu Tode kommen werden, hingemetzelt von Kriegern, die von den Menschen aus der Alten Welt ermutigt und unterstützt werden.
Krieg ist ein grausames Geschäft. Je rascher er beendet wird, desto weniger Leid und Tod wird es geben. Genau das ist Richards Ziel. In Wahrheit besagen seine Befehle Folgendes: Wann immer möglich, sollen seine Soldaten verhindern, dass Menschen zu Schaden kommen, aber vorrangiges Ziel bleibt die Beendigung des Krieges -und dafür müssen sie dem Orden die Möglichkeit zur Kriegsführung nehmen. Sie verteidigen das Existenzrecht ihres Volkes. Alles andere wäre nichts weiter als ein Pfeifen auf dem Weg ins eigene Grab. Dieser Krieg ist nur eine Fortführung jenes Großen Krieges, der lange Zeit tobte, aber nie wirklich beendet worden ist.
Das letzte Mal hatten die Verteidiger der Freiheit nicht den Mut, sie zu einem Häuflein kalter Asche zu vernichten, infolgedessen wurde dieser uralte Krieg durch die Ordensbruderschaft erneut entflammt. Wie damals hat er sich an den gleichen sinnleeren Ideen entzündet, dass jeder des gleichen Glaubens sein oder eben sterben muss.
Richard ist sich absolut bewusst, dass diesmal die Welt vom Gift des Ordens befreit werden muss. Er besitzt den nötigen Mut dafür und wird sich von Euren Schmähungen nicht davon abbringen lassen. Es schert ihn nicht, was andere über ihn denken. Das Einzige, was ihn kümmert, ist, dass sie ihm oder seinen Angehörigen keinen Schaden mehr zufügen können.
Zu diesem Zweck werden alle Hassprediger des Ordens verfolgt und getötet werden.
Zahlenmäßig mag die D’Haranische Armee der Imperialen Ordnung weit unterlegen sein, und doch wird sie Euch die Luft zum Atmen nehmen. Sie wird Ernten und Obstgärten niederbrennen, Mühlen und Ställe zerstören, Dämme und Kanäle brechen. Wer immer sich ihr dabei in den Weg stellt, wird vernichtet werden.
Vor allem aber werden diese Soldaten die nach Norden ziehenden Nachschubtransporte unterbinden. Richard hat nur ein einziges Ziel:
Euch die Fähigkeit zu nehmen, die Menschen hier zu töten. Im Gegensatz zu Euch hat er nicht die Absicht, ihnen eine Lektion in Willkürherrschaft zu erteilen - vielmehr wird er die Eure beenden.
Es wird zu keiner letzten Schlacht kommen, in der, wie es Euer Plan war, alles entschieden wird. Richard interessiert es nicht, wie Eure Krieger aufgehalten werden, nur dass es geschieht - ein für alle Mal. Ohne Nachschub wird Eure Armee hier draußen in dieser öden Ebene zugrunde gehen und elendig krepieren. Das ist ihm Sieg genug.«
Ein Lächeln ging über Jagangs Gesicht, das Nicci stutzig machte.
»Schätzchen, die Alte Welt ist riesig. Diese Truppen vergeuden ihre Kräfte, wenn sie über Ernten herfallen. Sie können nicht überall sein.«
»Das müssen sie auch nicht.«
Er zuckte die Achseln. »Sie mögen vielleicht in der Lage sein, den einen oder anderen Nachschubtransport anzugreifen, doch das ist schlicht das Opfer, das unser Volk für den Fortschritt unserer Sache bringen muss. Verluste, wie groß auch immer, sind der Preis für das Erreichen eines moralischen Ziels.
Und da ich mir dessen bewusst bin, habe ich längst eine dramatische Ausweitung der Versorgung unserer tapferen Truppen hier im Norden angeordnet. Wir sind imstande, mehr Menschen und Material auf den Weg zu bringen, als Richard jemals aufzuhalten hoffen kann. Der Preis mag gestiegen sein, doch unser Volk ist nur zu bereit, ihn zu bezahlen.«
Niccis Eingeweide schnürten sich zusammen. »Eine gewagte Behauptung.«
»Wenn du mir nicht glaubst, bilde dir doch selbst ein Urteil. Schon in Kürze wird ein weiterer Transport eintreffen, ein Nachschubzug, so lang, dass man zwei volle Tage an einem Punkt ausharren müsste, um ihn in voller Länge vorüberziehen zu sehen. Sei unbesorgt, unsere tapferen Krieger werden über genügend Nachschub verfügen, um diesen Krieg bis zur Entscheidung durchzustehen.«
Nicci schüttelte den Kopf. »Ihr seht nicht das ganze Bild. Solange Ihr die D’Haranischen Truppen nicht stellen und besiegen könnt, ist dieser Krieg für Euch nicht zu gewinnen. Wie überall, gibt es auch in der Alten Welt Menschen, die ein selbstbestimmtes Leben führen wollen, und die sich gegen den Orden kehren werden.
Betrachtet doch nur Altur’Rang. Ich war dort, als die Stadt fiel, die unter der Herrschaft der Imperialen Ordnung ein Ort weitverbreiteten Elends war. Jetzt, nachdem sie diese Fesseln abgeworfen hat, erleben die Menschen dort einen Aufschwung. Andere werden Wind davon bekommen und sich ermutigt fühlen, auch nach einem selbstbestimmten Leben und nach Erfolg zu trachten.«
Diese Worte schienen Jagang zu empören. »Aufschwung. Diese Leute sind nichts als Heiden, die auf dem Boden tanzen, der einst ihr Grab sein wird. Sie werden zermalmt werden. Das ist das Bild, das sich den Menschen einprägen wird: dass der Orden alle jene bestrafen wird, die der Pflicht gegenüber ihren Mitmenschen den Rücken kehren, eine Strafe, derer man sich noch in tausend Jahren erinnern wird.«
»Und die D’Haranischen Streitkräfte, die Wölfe, die man auf Eure Fährte angesetzt hat? Sie werden sich nicht so ohne weiteres ausmerzen lassen. Sie werden auch weiterhin die Macht des Ordens brechen, sich an die Fersen derer heften, die den Krieg in den Norden getragen haben, und so den Orden seines Kerns berauben.«
Jagang grinste. »Oh, Schätzchen, wie irrst du diesbezüglich doch. Du vergisst die Kästchen der Ordnung.«
»Ihr seid nur im Besitz von zweien.«
»Im Augenblick vielleicht, aber ich werde alle drei besitzen. Und wenn es so weit ist, werde ich die Macht der Ordnung entfesseln und unseren Befehlen unterwerfen. Unterliegt die Macht der Ordnung erst meiner Kontrolle, wird der Feuersturm unserer rechtmäßigen Sache jeden Widerstand hinwegfegen. Ich werde sie dazu benutzen, jedem dieser D’Haranischen Soldaten das Fleisch von den Knochen zu sengen und sie alle eines langen, qualvollen Todes krepieren lassen. Ihre Schreie werden unserem Volk, das derzeit unter ihrer Brutalität leidet, wie die Laute süßer Gerechtigkeit in den Ohren klingen.
Ich werde Richards Knochen zu Staub zermalmen. Er ist ein toter Mann, er weiß es nur noch nicht.«
Sein grimmiges Grinsen machte Nicci eine Gänsehaut. »Aber vorher«, setzte er mit sichtlichem Entzücken hinzu, »werde ich ihn lange genug am Leben lassen, damit er alles mitbekommt und lernt, was wahres Leiden ist.«
Er senkte die Stimme zu einem tiefen Knurren. »Zu diesem Zweck habe ich etwas, das Richard überaus teuer ist. Ich werde in der Lage sein, ihm Schmerzen zu bereiten, die er sich nicht einmal ansatzweise vorzustellen vermag, eine Seelenqual, die ihn bis auf den Grund seiner Seele brechen wird, ehe ich seinen irdischen Körper breche.«
Sie ahnte, dass er von Kahlan sprach, wagte aber nicht, ihm zu sagen, was sie darüber wusste. Sie musste ihre gesamte Willensstärke aufbieten, nicht zu ihr hinüberzusehen und sich zu verraten.
»Wir werden obsiegen«, fuhr Jagang fort. »Ich biete dir die Chance, auf meine Seite - und die des Ordens - zurückzukehren. Letztendlich wird dir ohnehin nichts anderes übrigbleiben, als den Willen des Schöpfers zu akzeptieren. Es ist an der Zeit, dass du deine moralische Verantwortung für deine Mitmenschen anerkennst.«
Vom Augenblick, da sie das Feldlager betreten hatte, war ihr klar gewesen, dass sie dem Unvermeidlichen nicht würde entgehen können. Sie würde Richard niemals wiedersehen, nie wieder frei sein. Jagang machte eine abfällige Handbewegung. »Mit deiner kindischen Schwärmerei für diesen Richard Rahl wirst du nichts erreichen.«
Sie wusste, wenn sie sich seiner Autorität nicht fügte, und sein Angebot nicht annahm, würde er alles nur umso quälender für sie machen. Aber noch war dies ihr Leben, und freiwillig würde sie es nicht wegwerfen.
»Wenn Ihr Richard Rahl zu Staub zermalmen wollt«, erwiderte sie so herablassend wie möglich, »wenn er nichts weiter als ein minderes Problem für Euch ist, wieso seid Ihr dann seinetwegen so besorgt?« Sie hob keck eine Braue. »Oder, treffender, warum seid Ihr eifersüchtig auf ihn?«
Während ihm die Zornesröte ins Gesicht schoss, packte Jagang sie bei der Kehle und wuchtete sie mit einem Aufschrei auf das Bett. Sie sog noch einmal scharf den Atem ein, ehe er sich auf sie warf. Dann setzte er sich breitbeinig über sie, beugte sich zur Seite und nahm irgendeinen Gegenstand zur Hand. Wegen seines ungeheuren Gewichts konnte sie sich kaum bewegen.
Obwohl sie keinerlei Anstalten machte, Widerstand zu leisten, drückte er ihr seine fleischige Hand ins Gesicht, um ihren Kopf ruhig zu halten, zog dann mit Daumen und Zeigefinger ihre Unterlippe vor. Als er ihr Gesicht losließ, konnte sie sehen, dass er eine spitze Ahle in der Hand hielt.
Damit durchbohrte er ihr die Unterlippe und drehte sie herum. Vor Schmerz traten ihr die Tränen in die Augen. Sie wagte nicht, sich zu bewegen, um ihre Lippe nicht vollends aufzureißen.
Nachdem er die Ahle wieder herausgezogen hatte, drückte er einen geteilten Goldring durch ihre durchstochene Lippe, beugte sich über sie und schloss ihn mit den Zähnen.
Seine Bartstoppeln kratzten über ihre Wange, als er, über sie gebeugt, mit leiser Stimme sagte: »Jetzt gehörst du mir. Bis zu dem Tag, da ich entscheide, dass du sterben musst, gehört dein Leben mir. Deine Träumereien über Richard Rahl kannst du vergessen. Und wenn ich mit dir fertig bin, wird dich für den Verrat an mir der Hüter holen.«
Er richtete sich auf und schlug sie kräftig ins Gesicht. »Dein Herumhuren mit Richard Rahl hat ein Ende. Schon bald wirst du darum betteln, gestehen zu dürfen, dass du mich nur eifersüchtig machen, von Anfang an nur in mein Bett wolltest. Oder etwa nicht?«
Nicci starrte zu ihm hoch, ohne eine Regung zu zeigen, ohne ein einziges Wort.
Dann schlug er ihr wiederholt ins Gesicht. »Gib es zu!«
Unter Aufbietung all ihrer Kräfte nahm Nicci ihre Stimme zusammen.
»Durch Schläge könnt Ihr niemanden dazu bringen, Euch zu mögen.«
»Du zwingst mich doch dazu. Es ist allein deine Schuld! Du sagst Dinge, von denen du weißt, dass sie meinen Zorn erregen. Sonst würde ich dich doch niemals schlagen. Das hast du dir selbst zuzuschreiben.«
Wie um seine Worte zu unterstreichen, verpasste er ihr zwei weitere Schläge ins Gesicht. Sie gab sich größte Mühe, die Schmerzen zu ignorieren, denn sie wusste, dies war erst der Anfang. Schweigend starrte Nicci zu ihm hoch. Sie hatte schon oft genug unter ihm gelegen, um sehr genau zu wissen, was nun folgte. Schon war sie im Begriff, sich an einen entlegenen Winkel ihres Verstandes zurückzuziehen. Der Mann, der über ihr hockte und auf sie eindrosch, war nicht mehr das Zentrum ihrer Aufmerksamkeit. Ihr Blick wanderte zum Zeltdach.
Sie spürte seine trommelnden Fäuste kaum noch. Was da schmerzte, war nur ihr Körper, irgendwo weit weg.
Beim Atmen erzeugte ihr Blut ein gurgelndes Geräusch. Sie spürte, wie er ihr das Kleid herunterriss und sie mit seinen mächtigen Pranken begrapschte, ignorierte aber auch das.
Stattdessen dachte sie, während er sie misshandelte, sie betatschte und ihre Beine auseinanderzwang, an Richard, der sie stets mit Respekt behandelt hatte.
Dann nahm der Albtraum seinen Lauf, und sie gab sich anderen Träumen hin.