Mit einem panischen Keuchen riss Nicci die Augen auf. Trübe Schatten trieben durch ihr Gesichtsfeld, unbestimmbare Schatten, auf die sie sich keinen Reim zu machen wusste. In einem verzweifelten Orientierungsversuch klammerte sich ihr Verstand an Erinnerungen jeder Art, erkundete in wilder Panik ihr sich unablässig wandelndes Wesen, bemüht, irgendetwas zu finden, das bedeutsam war und zu passen schien. Doch ihr gewaltiger Vorrat an Erinnerungen schien ebenso verworren wie eine Bibliothek voller Bücher, durch die ein stürmischer Wind gefahren war. Nichts ergab in ihren Augen einen Sinn. Sie begriff nicht, wo sie sich befand.
»Nicci, ich bin’s, Cara. Beruhigt Euch doch.«
Wie aus trüber, undeutlicher Ferne sagte eine zweite Stimme: »Ich werde Zedd holen gehen.« Nicci sah den dunklen Schatten sich bewegen und anschließend in noch tieferem Dunkel verschwinden.
Ihr dämmerte, dass sich die Person, die gesprochen hatte, durch eine Tür entfernt haben musste. Es war die einzige Möglichkeit, die einen Sinn ergab. Sie hätte vor Erleichterung schreien mögen, dass sie endlich imstande war, unter all den Schatten und Formen die simple Idee einer Tür zu begreifen, und überdies die weitaus komplexere Idee einer Person.
»So beruhigt Euch doch, Nicci«, wiederholte Cara.
Erst jetzt bemerkte Nicci, dass es ihr ungeheure Mühe bereitete, ihre Arme zu bewegen, und dass sie festgehalten wurde. Es war, als wären ihr Körper und Geist verwirrt, als versuchten beide, trotz des Wirrsals und der Unruhe zu funktionieren und sich an irgendeine Gewissheit zu klammern.
Trotz allem begann sie allmählich, ihre Umgebung zu erfassen.
»Sechs«, stieß sie unter größten Mühen hervor. »Sechs.«
Die Erinnerung an einen schwarzen Schatten schob sich bedrohlich in ihre Gedanken, so als hätte sie ihn selbst heraufbeschworen, und er wäre zurückgekehrt, um ihr den Rest zu geben.
Sie klammerte sich an die Bedeutung dieses Wortes, an den Namen und die dunkle Gestalt, die durch ihren Verstand geisterte, nahm nach Gutdünken Einzelheiten auf und versuchte sie darum herumzugruppieren. Sobald ein Erinnerungsfetzen passte - an den Flur, an Rikka, Zedd oder Cara, die weiter vorn an der Treppe wie erstarrt stehen geblieben waren -, ging sie weiter zum nächsten und versuchte, dem Puzzle ein weiteres Stück hinzuzufügen.
Allein kraft ihrer Willensstärke stellte sich wieder so etwas wie Ordnung ein, bündelten sich ihre Gedanken zu einem Zusammenhang. Ihre Erinnerung begann sich zu einem Ganzen zu fügen.
»Ihr seid in Sicherheit«, redete die immer noch ihre Arme festhaltende Cara beschwichtigend auf sie ein. »Seid jetzt still.«
Nicci war alles andere als in Sicherheit. Keiner von ihnen war in Sicherheit. Sie musste irgendetwas tun.
»Sechs ist hier«, presste sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hindurch, während sie Cara aus dem Weg zu schieben versuchte. »Ich muss sie aufhalten. Sie hat das Kästchen.«
»Sie ist fort, Nicci. So beruhigt Euch doch.«
Nicci blinzelte, immer noch bemüht, wieder einen klaren Blick zu bekommen, wieder zu Atem zu kommen. »Fort?«
»Ja. Fürs Erste sind wir in Sicherheit.«
»Fort?« Sie krallte eine Hand in das rote Leder und zog die Mord-Sith näher zu sich heran. »Fort? Sie ist wirklich fort? Wie lange schon?« »Seit gestern.«
Die Erinnerung an die dunkle Gestalt schien sich in der Ferne zu verlieren, ihrem Zugriff zu entziehen.
»Seit gestern«, hauchte sie und ließ sich auf das Kissen zurücksinken.
»Bei den Gütigen Seelen.«
Zu guter Letzt richtete sich Cara auf. Nicci kümmerte es nicht mehr, ob sie aufstand oder nicht.
Alles war umsonst gewesen.
Ihr war, als würde sie vielleicht nie wieder den Wunsch verspüren, sich zu erheben.
Ihr Blick war ins Leere gerichtet. »Ist außerdem noch jemand verletzt worden?« »Nein. Nur Ihr.«
»Nur ich«, wiederholte sie tonlos. »Es wäre besser gewesen, sie hätte mich getötet.«
Cara runzelte die Stirn. »Was redet Ihr da?«
»Ich bin sicher, sie hätte es gern getan, nur ist es ihr eben nicht gelungen. Ihr seid in Sicherheit.«
Cara hatte nicht verstanden, was sie meinte.
»Alles umsonst«, murmelte Nicci bei sich.
Alles war verloren, alle Arbeit umsonst gewesen. Alles, was sie erreicht und aufgedeckt hatte, hatte sich im hallenden Gelächter dieses dunklen Schattens verflüchtigt. All die Untersuchungen, das mühsame Zusammenfügen, die ungeheure Anstrengung endlich zu begreifen, wie dies alles ineinandergriff, die Mühen, solche Kräfte heraufzubeschwören, zu beherrschen und zu lenken - alles vergeblich.
Es war eine der schwierigsten Aufgaben, die sie je bewältigt hatte ... und nun lag alles in Schutt und Asche.
Cara tauchte einen Lappen in ein Wasserbecken auf dem Nachttisch. Beim Auswringen war das Geräusch des zurücktröpfelnden Wassers, jedes einzelnen Tropfens, überdeutlich und durchdringend und klang ihr schmerzhaft in den Ohren.
Cara drückte ihr den feuchten Lappen auf die Stirn. Es war, als würde ein Dornengestrüpp auf ihr zartes Fleisch gepresst.
»Es gibt noch anderen Ärger«, bemerkte Cara in ruhigem, vertraulichem Ton.
Nicci schlug die Augen auf. »Anderen Ärger?«
Nickend tupfte sie Niccis Hals an den Seiten ab.
»Ja. Mit der Burg.«
Nicci blickte am Fußende ihres Bettes vorbei zu den schweren dunkelblauen und goldenen Vorhängen vor der schmalen Fensteröffnung. Sie waren zugezogen, doch da nicht das geringste Licht hereindrang, vermutete sie, dass es wohl Nacht sein müsse.
Dann sah sie wieder zu Cara und zog, obwohl das schmerzte, die Stirn in Falten. »Was wollt Ihr damit sagen, Ärger mit der Burg? Was denn für Ärger?«
Cara hatte den Mund bereits geöffnet, um zu antworten, als ein Geräusch hinter ihrem Rücken sie bewog, sich herumzudrehen.
Ohne anzuklopfen rauschte Zedd mit langen Schritten und wehendem Gewand herein, so als wäre er der Herrscher dieses Gemäuers und gekommen, um sich königlicher Geschäfte anzunehmen. Vermutlich traf das in gewisser Weise sogar zu.
»Ist sie wach?«, fuhr er Cara an, ehe er überhaupt an der Bettstatt angekommen war. Sein welliges weißes Haar wirkte noch zerzauster als sonst.
»Bin ich«, beantwortete Nicci selbst die Frage.
Unvermittelt blieb er stehen und beugte sich mit finsterer Miene über sie, so als traue er ihren Worten nicht und müsse sich selbst überzeugen. Er legte ihr die Spitzen seiner langen Finger an die Stirn. »Euer Fieber hat den Höhepunkt überschritten«, verkündete er. »Ich hatte Fieber?«
»So was Ähnliches.«
»Was soll das heißen, so was Ähnliches? Fieber ist Fieber.«
»Nicht unbedingt. Euer Fieber wurde durch eine Verausgabung von Kräften und nicht durch eine Krankheit verursacht, in diesem Fall Eurer eigenen Kräfte, um genau zu sein. Das Fieber war die Reaktion Eures Körpers auf die Überanstrengung. Etwa so, wie ein Metallstück sich erhitzt, wenn man es immerzu hin und her biegt.«
Nicci stützte sich auf die Ellbogen. »Ihr meint, was Sechs mir angetan hat, hat bei mir ein Fieber ausgelöst?«
Zedd strich sich das Gewand über seinen kantigen Schultern glatt.
»Gewissermaßen. Die Überanstrengung durch den Einsatz Eurer Kräfte gegen ihre Hexerei hat Euren Körper in diesen Fieberzustand versetzt.«
Nicci sah vom einen zum anderen. »Wieso seid Ihr nicht davon angegriffen worden? Oder Cara?«
Zedd tippte sich ungeduldig gegen die Schläfen. »Weil ich klug genug war, ein Netz zu wirken, das mich und Cara schützte. Ihr dagegen wart zu weit weg. Auf diese Entfernung haben die schützenden Eigenschaften nicht ausgereicht, um Euch vor Schaden zu bewahren, allerdings erschien mir der Einsatz größerer Kräfte zu riskant. Aber auch wenn es Euch nicht gänzlich vor Schaden bewahrt hat, so hat es Euch immerhin das Leben gerettet.«
»Euer Bann hat mich geschützt?«
Zedd drohte ihr mit dem Finger, als hätte sie sich ungebührlich benommen. »Selbst habt Ihr jedenfalls nichts zu Eurem Schutz getan.«
Nicci blinzelte verwundert. »Aber versucht habe ich es, Zedd. Ich glaube, ich habe mich noch nie so sehr bemüht, mein Han einzusetzen. Ich schwöre, ich habe mich bemüht, meine Kraft einzusetzen, nur hat es einfach nicht funktioniert.«
»Selbstverständlich nicht.« In einer aufgebrachten Geste warf er seine Arme in die Luft. »Genau das war ja Euer Problem.«
»Was war mein Problem?«
»Dass Ihr Euch zu sehr bemüht habt.«
Nicci richtete sich vollends auf. Schlagartig begann sich die Welt um sie herum zu drehen, so dass sie sich die Hand vor Augen halten musste. Ihr wurde ganz übel von der Dreherei.
»Wovon redet Ihr da?« Sie hob ihre Hand gerade so weit an, dass sie ihn im Schein der Kerzen anblinzeln konnte.
Ihr war, als müsste sie sich übergeben. So als fühlte er sich durch die Ablenkung gestört, schob Zedd seine Ärmel hoch und legte ihr einen Finger jeder Hand an die gegenüberliegenden Seiten ihrer Stirn. Sofort erkannte Nicci das feine Kribbeln additiver Magie, als diese unter ihre Haut kroch. Es war ein wenig seltsam, keine subtraktive Seite seiner Kraft zu spüren, doch subtraktive Magie besaß er nicht. Das Übelkeitsgefühl ebbte ab.
»Besser?«, erkundigte er sich in einem Tonfall, der durchblicken ließ, dass er die Schuld an allem bei ihr selbst vermutete. Nicci bewegte ihren Kopf hin und her, spannte ihre Nackenmuskeln und überprüfte ihren Gleichgewichtssinn. Als sie die Übelkeit zu spüren versuchte, befürchtete sie, sie könnte erneut hochkommen, doch dem war nicht so.
»Schätze ja.«
Der kleine Triumph ließ Zedd lächeln. »Gut.«
»Und was meintet Ihr damit, ich hätte mich zu sehr bemüht?«
»So wie Ihr es versucht habt, lässt sich eine Hexe nicht bekämpfen – schon gar nicht eine so mächtige wie diese. Ihr habt Euch zu sehr bemüht.«
»Zu sehr bemüht?« Ihr war so unbehaglich zumute wie damals als Novizin, wenn sie das Gefühl hatte, den Unterrichtsstoff einer ungeduldigen Schwester einfach nicht zu begreifen. »Aber was meint Ihr damit?«
Zedd machte eine vage Handbewegung. »Benutzt man seine Kraft, um sich gegen etwas zu stemmen, was eine Hexe zu tun versucht, kehrt sie diese einfach gegen einen. Ihr konntet mit Eurer Kraft gar nicht bis zu ihr durchdringen, weil die von Euch eingesetzte Kraft noch keine grundlegende Bindung zwischen Euch hergestellt hatte, zwischen dem Prinzipal und dem Zielobjekt. Sie befand sich noch in ihrem Entwicklungsstadium.«
Theoretisch war Nicci klar, was er meinte, nur wusste sie nicht, ob es in diesem Fall zutraf.
»Wollt Ihr etwa behaupten, es verhält sich etwa so wie ein Blitz, der einen Baum oder eine andere Erhebung zu finden versucht, eine feste Verankerung im Boden, um sich entladen zu können? Und dass er, gibt es in Reichweite keine solche Verankerung, einfach zurückspringt und sich in der Wolke entlädt? Sich also gegen sich selbst kehrt?«
»So habe ich es nie gesehen, aber vermutlich könnte man sagen, der Vorgang ist vergleichbar. Eine Hexe gehört zu den wenigen Menschen, die über ein instinktives Verständnis für das genaue Wesen der Ausübung von Kräften verfügen. Sie kennen sich mit den Bedingungen solcher Verbindungen bestens aus und wissen, wie gewisse Banne diese Verbindung an beiden Enden aufbauen.«
»Mit anderen Worten, sie weiß, wie Blitze funktionieren«, warf Cara ein, »und dann hat sie Nicci den Teppich unter den Füßen weggezogen.«
Zedd warf ihr einen verblüfften Blick zu. »Von Magie versteht Ihr wirklich überhaupt nichts, oder? Oder vom verqueren Gebrauch einer gängigen Redewendung?«
Caras Miene verfinsterte sich. »Ich denke, wenn ich Euch den Teppich unter den Füßen wegziehe, werdet Ihr das schon verstehen.«
Zedd verdrehte die Augen. »Nun ja, es ist eine unzulässige Vereinfachung, aber ich schätze, man könnte es so formulieren ... in etwa«, fügte er kaum hörbar hinzu.
Nicci, in Gedanken ganz woanders, hatte eigentlich kaum zugehört. Ihr war eingefallen, dass sie selbst ganz ähnlich vorgegangen war, als die Bestie Richard im geschützten Bereich der Burg angefallen hatte. Sie hatte einen Verbindungsknoten geschaffen, dieser Verbindung jedoch die nötige Kraft verwehrt, sich vollständig aufzubauen. Durch diese unerfüllte Erwartung wurde die nächstliegende Kraft auf die Bestie gelockt - in diesem Fall ein Blitz -, der diese vorübergehend ausschaltete. Da die Bestie jedoch nicht wirklich lebendig war, konnte sie auch nicht wirklich vernichtet werden- ebenso wenig, wie ein Leichnam, der ja bereits tot ist, nicht mehr getötet oder in einen Zustand gesteigerten Totseins versetzt werden kann.
In diesem Fall jedoch lagen die Dinge anders. Dies ging weit über das hinaus, was sie mit der Bestie gemacht hatte. Es war fast das genaue Gegenteil.
»Also ich verstehe nicht, wie so etwas möglich sein sollte, Zedd. Es ist wie bei einem Steinwurf: einmal geworfen, steht seine Flugbahn fest, der er bis zu ihrem Endpunkt folgen muss.«
»Sie hat Euch Euren eigenen Stein auf den Kopf gehauen, ehe Ihr ihn überhaupt geworfen habt«, warf Cara ein.
Zedd fixierte sie mit mörderischem Blick, so als wäre sie eine vorlaute Schülerin, die außer der Reihe gesprochen hatte.
Nicci überging die Unterbrechung und führte ihren Gedanken weiter aus.
»Sie hätte mithilfe einer besonderen Kraft im Moment ihrer Entstehung agieren müssen - also noch ehe sie vollständig ausgeformt war. Das ist der Moment, in dem besagte Basisbindung entsteht. An diesem Punkt konnte der Bann bezüglich des Wesens seiner Kraft noch gar nicht vollständig entwickelt sein.«
Zedd bedachte Cara mit einem Seitenblick, um sicherzustellen, dass sie den Mund hielt. Als sie daraufhin trotzig die Arme verschränkte und schwieg, wandte er sich wieder herum zu Nicci.
»Das beschreibt genau ihr Vorgehen«, sagte er.
Da sie noch nie zuvor einer Hexe begegnet war, waren ihr die von ihnen verwendeten Mechanismen nicht in aller Deutlichkeit vertraut.
»Inwiefern?«
»Eine Hexe bewegt sich im Strom der Zeit. Sie überschaut den Fluss der Ereignisse bis in die Zukunft. In vieler Hinsicht ist ihre Gabe eine ergänzende Funktion der Prophezeiungen, was bedeutet, dass sie auf den Bann vorbereitet ist, ehe Ihr ihn überhaupt wirkt. Ihr Talent, ihre Gabe, befähigt sie, gegen Euch vorzugehen, ehe Ihr die gegen sie gerichtete Handlung abgeschlossen habt.
Für sie ist das alles vollkommen natürlich - etwa so, wie man schützend den Arm hebt, wenn einen jemand zu schlagen versucht. Im Moment der Entstehung Eures Netzes, wenn Ihr gewissermaßen zu Eurem Schlag ausholt, ist ihre Abwehr bereits vorhanden. Sie verwehrt Euch die Basisbindung, so dass Euer Netz nicht einmal anfangen kann, sich zu bilden. Wie gesagt, sie besitzt die Fähigkeit, es gegen Euch zu kehren, ehe die Verbindung zwischen Prinzipal und Zielobjekt hergestellt ist. Eure Kraft fällt in sich zusammen und damit auf Euch selbst zurück. Dafür sind nicht einmal übergroße Kräfte erforderlich, da sie sich Eurer Kraft bedient. Je angestrengter Ihr etwas versucht, desto schwieriger wird es. Sie muss sich dann nicht etwa mehr anstrengen, sondern verweigert Euch einfach einen Verbindungsknoten. Je mehr Ihr Euch bemüht, desto größer ist der Anteil Eurer eigenen Kraft, die von ihrer Abwehr auf Euch zurückschlägt, bis Ihr schließlich wie ein zu oft gebogenes Stück Metall überhitzt und Fieber bekommt.«
»Das ist völlig ausgeschlossen, Zedd. Ihr habt doch Magie benutzt. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie Ihr ein Netz gewirkt habt, ohne dass es Euch geschadet hätte. Es ist einfach wirkungslos verpufft.«
Der alte Zauberer lächelte. »Nein, das ist es keineswegs. Es war von Beginn an wirkungslos. Ich hatte eine so geringe Magiemenge benutzt, dass sie ihr keine Kraft entziehen konnte. Aus demselben Grund konnte sie sie auch nicht blockieren und gegen mich kehren. Es war einfach zu wenig vorhanden, als dass sie hätte darauf zugreifen können.«
»Was für ein Bann vermag so etwas zu bewirken?«
»Ich wirkte ein Schutznetz, in das ich einen Ruhebann eingeflochten hatte. Genau das hättet Ihr auch tun sollen.«
Nicci fuhr sich mit der Hand durchs Gesicht. »Zedd, ich bin schon lange Hexenmeisterin, aber von einem Ruhebann habe ich noch nie gehört.«
Er zuckte die Achseln. »Na ja, vermutlich wisst Ihr eben auch nicht alles, oder? Ich habe einen Ruhebann für die Ummantelung benutzt, weil sie mich, hätte ich ihn im Falle einer Fehleinschätzung etwas zu stark ausgelegt, und sie ihn gegen mich gekehrt, nun ja, dadurch eben einfach nur ruhiger gemacht hätte. Das wäre wiederum mir zugute gekommen. Denn dann hätte ich gewusst, dass die Schwelle überschritten worden wäre, so dass ich dank meiner größeren Ruhe bei meinem nächsten Versuch größere Erfolgsaussichten gehabt hätte.«
Nicci schüttelte staunend den Kopf. »Also eins steht fest, meine Kenntnisse reichen einfach nicht aus, um es mit Sechs und ihresgleichen aufzunehmen. Was Ihr getan habt, mag vielleicht nicht ganz bis zu mir durchgedrungen sein, aber immerhin hat es mir das Leben gerettet.«
Zedd lächelte nur.
Sie blickte zu ihm auf. »Wo habt Ihr diesen Trick gelernt?«
Er hob die Schultern. »Durch leidvolle Erfahrungen. Ich hatte schon früher mit Hexen zu tun, daher wusste ich, dass es nur eine Möglichkeit gab.«
»Ihr sprecht von Shota?«
»Zum Teil. Als ich ihr das Schwert der Wahrheit wieder abnahm, steckte ich plötzlich in jeder Menge Schwierigkeiten. Die Frau ist gerissen, nicht auf den Kopf gefallen, und hinter ihren funkelnden Augen und ihrem durchtriebenen Lächeln verbirgt sich nichts als Ärger. Ich kam zu der Erkenntnis, dass mit den üblichen Methoden nichts auszurichten war. Sie dagegen hatte für meine Bemühungen nur ein müdes Lächeln. Je mehr ich mich anstrengte, desto mehr verschlimmerte sich meine Situation – und desto breiter wurde ihr Lächeln.«
Dann beugte er sich ein wenig vor, nun selbst ein Lächeln auf den Lippen.
»Genau das war ihr Fehler - dieses Lächeln.« Zur Unterstreichung seiner Worte hob er einen Finger. »Denn es verriet mir, dass ich im Begriff war, mir mein eigenes Grab zu schaufeln. Schlagartig wurde mir klar, dass ich ihr durch die Benutzung meiner Stärke ebenjene Kraft verlieh, die sie benötigte.«
»Also habt Ihr auf Gewaltanwendung verzichtet.«
Er breitete die Hände aus, als hätte sie endlich kapiert. »Zu tun, was man am liebsten täte, kann manchmal das Allerschlimmste sein. Manchmal muss man sich zu Beginn zurückhalten, um am Ende sein Ziel zu erreichen.«
Als seine Ausführungen schließlich Wirkung zu zeigen begannen, fielen immer mehr ihrer wirren Erinnerungen - verstörende Teile eines gewaltigen Puzzles, die zuvor nirgendwo gepasst hatten - aus den dunklen Winkeln ihres Verstandes, in denen sie brach gelegen hatten, befreit, endlich an ihren Platz. Es war, als sehe sie alles in neuem Licht. Die plötzliche Erkenntnis war ein Schock.
Nicci klappte der Unterkiefer runter, und ihre Augen weiteten sich.
»Jetzt begreife ich. Ich weiß, was es bedeutet. Bei den Gütigen Seelen, jetzt verstehe ich. Endlich ist mir der Zweck des sterilen Feldes klar geworden.«