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»Seid Ihr Euch eigentlich der Folgen bewusst, die Versiegelung an diesen Türen aufzubrechen?«, fragte Cara.

Zedd betrachtete sie über seine Schulter. »Muss ich Euch daran erinnern, dass ich der Oberste Zauberer bin?«

Cara erwiderte sein zorniges Funkeln. »Also gut, Verzeihung. Seid Ihr Euch der Folgen bewusst, die Versiegelung an diesen Türen aufzubrechen, Oberster Zauberer Zorander?«

Zedd richtete sich auf. »Das meinte ich nicht.«

Sie blickte noch immer wütend. »Ihr habt meine Frage nicht beantwortet.«

Wenn bei den Mord-Sith auf etwas Verlass war, dann darauf, dass sie es nicht mochten, wenn man ausweichend auf ihre Fragen antwortete. Das stimmte sie verdrießlich. Für gewöhnlich hielt Zedd es für unklug, einer Mord-Sith Grund zum Verdrießlich sein zu geben, andererseits konnte er es nicht ausstehen, wenn man ihm auf die Nerven ging, wenn er gerade etwas Wichtiges tat. Das stimmte ihn verdrießlich.

»Wieso gibt sich Richard eigentlich mit Euch ab?« Caras Funkeln wurde nur noch zorniger. »Ich habe Lord Rahl keine Wahl gelassen. Und jetzt beantwortet endlich meine Frage.

Seid Ihr Euch der Folgen bewusst, die Versiegelung an einer solchen Tür aufzubrechen?«

Zedd stemmte die Fäuste in die Hüften. »Solltet Ihr nicht davon ausgehen, dass ich ein, zwei Dinge über Magie weiß?«

»Der Ansicht war ich auch, aber allmählich kommen mir erste Zweifel.«

»Ah, Ihr glaubt also, mehr darüber zu wissen als ich?«

»Ich weiß, dass Magie Ärger bedeutet. Und in diesem Fall könnte es sehr wohl sein, dass ich mehr darüber weiß als Ihr. Jedenfalls bin ich nicht so dumm, einfach durch sein solches Siegel zu platzen. Nicci hätte diese Tür niemals ohne guten Grund versiegelt. Ich halte es also nicht für übermäßig klug, Oberster Zauberer, einfach durch ihren Schild zu platzen, ohne zu wissen, warum er angebracht wurde.«

»Nun, ich weiß eben ein, zwei Dinge über Versiegelungen und Schilde und dergleichen mehr.«

Erstaunt hob Cara eine Braue. »Zedd, Nicci kann mit subtraktiver Magie umgehen.«

Er blickte kurz zur Tür, dann wieder zu Cara. So wie sie sich über ihn beugte, hielt er es für nicht ausgeschlossen, dass sie ihn beim Kragen packte und einfach von der messingverkleideten Tür fortzerrte, wenn sie der Meinung war, dies sei erforderlich.

»Vermutlich habt Ihr recht.« Er hob einen Finger. »Andererseits spüre ich, dass dort drinnen Dinge von schwerwiegender Bedeutung vor sich gehen - Dinge, die durch und durch verdächtig sind.«

Mit einem Seufzer entließ sie ihn zu guter Letzt aus ihrem wütenden Mord-Sith-Blick. Etwas unschlüssig richtete sie sich auf, ließ ihren langen, blonden Zopf durch die Hand gleiten und blickte zu beiden Seiten in den Flur.

Sie warf den Zopf über ihre Schulter. »Ich weiß nicht, Zedd. Wenn ich mich in einem Zimmer befände und die Tür abgeschlossen hätte, dann bestimmt nicht ohne Grund. Und ich würde nicht wollen, dass Ihr einfach das Schloss aufbrecht. Nicci wollte mir nicht erlauben, bei ihr zu bleiben - dabei hat sie mich noch nie gebeten, sie allein zu lassen. Ich wollte sie nicht alleine dort hineingehen lassen, und doch hat sie darauf bestanden. Sie war in einer dieser unheimlichen, nachdenklichen Stimmungen, die sie manchmal überkommen. Wie schon häufiger in letzter Zeit.«

Zedd seufzte. »Ja, das war sie. Aber nie ohne einen guten Grund. Bei den Gütigen Seelen, Cara, wir alle hatten in der letzten Zeit unsere Launen, und immer mit gutem Grund.«

Cara nickte. »Nicci meinte, sie müsse allein sein. Ich sagte, das wäre mir egal, ich sei jedenfalls fest entschlossen, bei ihr zu bleiben. Ich weiß nicht, wie sie es anstellt, aber manchmal, wenn sie sagt, tu dies, ertappt man sich plötzlich dabei, dass man es tatsächlich tut. Mit Richard ist es genauso. Meist schenke ich seinen Anordnungen keine sonderliche Beachtung - schließlich weiß ich besser als er, wie man ihn beschützt -, manchmal aber bittet er einen auf seine ganz eigene Art um etwas, und schon ertappt man sich dabei, wie man es ganz einfach tut. Mir ist nie klar, wie er das macht. Nicci ebenso. Die beiden besitzen das seltsame Geschick, einen Dinge tun zu lassen, die man gar nicht will - und das, ohne auch nur die Stimme zu heben.

Jedenfalls meinte Nicci, es hätte etwas mit Magie zu tun - und die Art, wie sie es sagte, machte deutlich, dass sie dabei allein bleiben wollte. Und ehe ich mich’s versah, hatte ich ihr schon versprochen, hier draußen zu warten, für den Fall, dass sie etwas braucht.«

Zedd neigte den Kopf in ihre Richtung und betrachtete sie unter seinen buschigen Brauen hervor. »Ich denke, es hat etwas mit Richard zu tun.«

Sofort war ihr Mord-Sith-Funkeln wieder da. Zedd konnte die Muskeln unter ihrem roten Lederanzug sich anspannen sehen. »Was wollt Ihr damit sagen?«

»Wie Ihr schon sagtet, ihr Benehmen war ziemlich seltsam. Sie wollte wissen, ob ich Richard das Leben aller anvertrauen würde.«

Cara starrte ihn einen Moment lang an. »Genau dieselbe Frage hat sie mir auch gestellt.«

»Es hat mir keine Ruhe gelassen. Ich frage mich, was sie wohl gemeint haben mag.« Zedd fuchtelte mit seinem langen Finger Richtung Tür. »Sie ist mit diesem Ding da drinnen, Cara - mit diesem Kästchen der Ordnung. Ich kann es spüren.«

Sie nickte. »Nun, da liegt Ihr durchaus richtig. Ich konnte es kurz sehen, ehe sie die Tür zumachte.«

Zedd strich sich eine verirrte Strähne seines weißen Haars aus dem Gesicht. »Nicht zuletzt deswegen glaube ich, dass es etwas mit Ri chard zu tun hat. Ich durchbreche diese Art von Versiegelung nicht leichtfertig, Cara, aber ich denke, es ist unumgänglich.«

Cara seufzte resigniert. »Also schön.« Ihr Widerwillen, seinem Plan zuzustimmen, ließ sie den Mund verziehen. »Sollte sie Euch den Kopf abreißen, kann ich ihn Euch ja wieder annähen.«

Ein Lächeln auf den Lippen, krempelte sich Zedd die Ärmel hoch. Dann holte er einmal tief Luft, beugte sich vor und machte sich erneut an die Arbeit, die Versiegelung zu entwirren, die Nicci mithilfe von Magie um den Griff gesponnen hatte.

Die mächtige, messingbeschlagene Tür war mit geprägten Symbolen bedeckt, wie sie für das Eindämmungsfeld in diesem Teil der Burg typisch waren. Eine solche Stelle war bereits gegen unbefugtes Herumpfuschen geschützt und gegen versehentliches Betreten abgeschirmt, doch er war hier in der Burg aufgewachsen und wusste, wie die verschiedenen Elemente an diesen Stellen funktionierten. Zudem war er mit vielen Tricks vertraut, die man gewöhnlich mit diesen Elementen in Verbindung brachte. Die Tücke dieses bestimmten Feldes lag, da es als Eindämmungsfeld für etwas sich womöglich darin Verbergendes funktionierte, in seiner Doppelseitigkeit.

Behutsam strich er mit den ersten drei Fingern seiner linken Hand über die Konvergenzzone. Mit dem Ergebnis, dass die Nerven seines linken Armes bis hinauf zum Ellbogen zu kribbeln begannen - kein gutes Zeichen. Nicci hatte dem Schild irgendetwas hinzugefügt und die ursprünglich allgemeine Konstruktion dadurch zu einem persönlichen Schild umgestaltet. Ihm drängte sich der Gedanke auf, dass Cara besser Bescheid wusste, als er ihr zugetraut hatte.

Der Schild schien auf einzigartige Weise auf Gewaltanwendung zu reagieren. Er hielt einen Moment inne, um nachzudenken. Also würde er sein Ziel ohne Anwendung von Gewalt erreichen müssen, da sie lediglich besagte Reaktion auslöste. Vorsichtig schob er einen zarten Strang reinen Nichts durch den Knoten und löste mit der Rechten die vertrackte Energiesperre, so dass sich das Ganze letztendlich aufzulösen begänne. Ihm war nur zu bewusst, wie sinnlos der Versuch wäre, die Versiegelung einfach zu durchbrechen, denn das Eindämmungsfeld war so konstruiert, dass es sich bei Gewaltanwendung nur noch fester zusammenzog. Offenbar hatte Nicci diese Funktion noch mit Multiplikatoren verstärkt. Es war, als zurrte man die Knoten eines Seils noch fester. Käme es dazu, würde es sich überhaupt nicht mehr entwirren lassen.

Davon abgesehen hatte Cara recht - Nicci besaß subtraktive Magie, und niemand vermochte zu sagen, welche Elemente dieser unheilvollen Kraft sie in die Matrix eingeflochten hatte, um zu verhindern, dass die innere Versiegelung durchbrochen wurde. Er mochte, sozusagen, seine Hand nicht durch das Schlüsselloch stecken, nur um festzustellen, dass er sie in einen Kessel mit geschmolzenem Blei getaucht hatte. Ein Entwirren des magischen Knotens war weit weniger riskant, als ihn einfach zu zerreißen.

Probleme dieser Art mehrten nur seine Entschlossenheit, sich irgendwie Einlass zu verschaffen. Es war eine jener Charaktereigenschaften, die seinen Vater in ferner Vergangenheit verdrießlich gestimmt hatten – umso mehr, wenn es sich um einen Schild handelte, den sein Vater zu dem ausdrücklichen Zweck entworfen hatte, seinen neugierigen Sohn auszusperren.

Die Zungenspitze im linken Mundwinkel, ging er daran, sich einen Weg durch das Gefüge des Schildes zu bahnen. Bereits jetzt war er weiter vorgedrungen, als er in dieser kurzen Zeit für möglich gehalten hätte. Er schob die unsichtbare Energiesonde durch den innenliegenden Mechanismus, um ihn von innen kontrollieren zu können. Doch dann, trotz seiner jedes vernünftige Maß überschreitenden Vorsicht, zog sich das Gewebe des Schildes zusammen und setzte dem magischen Vorstoß ein abruptes Ende. Es war, als wäre er in einen Hinterhalt gelockt worden.

Überrascht, dass ein Schild auf diese Weise reagieren konnte, kauerte Zedd in gebückter Haltung vor der messingbeschlagenen Tür. Schließlich hatte er es nicht einmal zu durchbrechen versucht, sondern lediglich seinen inneren Mechanismus erkunden wollen - sozusagen einen Blick durchs Schlüsselloch geworfen.

Genau dasselbe hatte er schon unzählige Male probiert, und es hatte stets funktioniert. Dies war der verwirrendste Schild, der ihm je untergekommen war.

Er stand noch immer über den Griff gebeugt und dachte über seinen nächsten Schritt nach, als die Tür von innen aufgerissen wurde. Zedd drehte leicht den Kopf und linste nach oben. Über ihm stand Nicci, eine Hand auf dem inneren Türgriff, die andere auf der Hüfte.

»Schon mal daran gedacht, anzuklopfen?«

Zedd richtete sich auf. Er hoffte, nicht rot zu werden, vermutete aber, dass genau das geschah. »Nun, genau genommen hatte ich mit dem Gedanken gespielt, ihn dann aber verworfen. Ich dachte, Ihr hättet womöglich bis spät an dem Buch gearbeitet und würdet bereits schlafen. Ich wollte Euch nicht stören.«

Ihr blondes Haar fiel über die Schultern ihres schwarzen Kleides, das die Rundungen ihres perfekten Körpers noch betonte. Obwohl sie aussah, als hätte sie die ganze Nacht kein Auge zugetan, waren ihre blauen Augen nicht minder stechend als die all der anderen Hexenmeisterinnen, denen er jemals begegnet war. Die Kombination aus betörender Schönheit, würdevoller Reserviertheit und scharfem Verstand - ganz zu schweigen von ihrer Kraft, so ziemlich jeden in einen Häuflein Asche zu verwandeln - war ebenso entwaffnend wie ehrfurchtgebietend.

»Hätte ich geschlafen«, erklärte sie mit der ihr eigenen, seidenweichen Stimme, »wie hätte mich das Durchbrechen eines mit einem Schild gepufferten Eindämmungsfeldes, das mithilfe von Anleitungen aus einem dreitausend Jahre alten Buch heraufbeschworen und mit subtraktiven Gegenschlössern versehen wurde, dann nicht wecken sollen?«

Zedds Bestürzung wuchs. Kein Mensch konstruierte leichtfertig solche Schilde, und schon gar nicht, wenn er nur ein ungestörtes Nickerchen halten wollte.

Er breitete die Hände aus. »Ich wollte nur einen Blick hineinwerfen und nach Euch sehen.«

Ihr kühler Blick ließ ihn in Schweiß ausbrechen. »Ich habe viel Zeit im Palast der Propheten damit verbracht, jungen Zauberern beizubringen, wie man sich benimmt, und dass sie ihre Kräfte zügeln müssen. Ich weiß, wie man Schilde einrichtet, die nicht geknackt werden können. Als Schwester der Finsternis hatte ich darin jede Menge Übung.«

»Tatsächlich? Ich wäre sehr daran interessiert, mich über solch geheimnisvolle Schilde zu informieren - vom rein professionellen Standpunkt aus betrachtet, versteht sich. Diese Dinge sind eine Art... ein Hobby von mir.«

Ihre Hand ruhte noch immer auf dem Türgriff. »Was wollt Ihr, Zedd?«

Er räusperte sich. »Nun, ganz ehrlich, Nicci, ich war in Sorge, was hier drinnen wohl gerade mit diesem Kästchen passiert.«

Endlich ging ein kaum merkliches Schmunzeln über ihre Züge. »Aha. Irgendwie hatte ich auch nicht recht glauben mögen, Ihr könntet Euch der Hoffnung hingegeben haben, mich nackt herumspringen zu sehen.«

Sie trat einen Schritt zurück in die Bibliothek und erlaubte ihm damit einzutreten.

Der Raum war riesig. Zwei Stockwerke hohe Rundbogenfenster erstreckten sich über die gesamte Breite der gegenüberliegenden Wand. Zwischen jedem dieser Fenster, die aus Hunderten von dicken Glasrechtecken bestanden, hingen schwere grüne, mit goldenen Fransen versehene Samtvorhänge, erhoben sich nicht minder hohe Säulen aus poliertem Mahagoni. Nicht einmal das Licht der Morgendämmerung vermochte dem Raum seine düstere Atmosphäre zu nehmen. Einige dieser feuerfesten Glasscheiben, aus denen die Fenster bestanden und die einen Teil des Eindämmungsfeldes in diesem Teil der Burg bildeten, waren damals, während Richards Besuch, bei einem unerwarteten Zwischenfall zu Bruch gegangen. Nicci hatte Blitze durch das Fenster nach drinnen gelockt, um so die Bestie aus der Unterwelt zu vernichten, die Richard angegriffen hatte. Auf die Frage, wie sie die Blitze ihrem Willen hatte unterwerfen können, hatte sie nur achselzuckend erwidert, sie habe eine Leere geschaffen, welche die Blitze nur zu füllen brauchten, so dass ihnen gar nichts anderes übrig geblieben sei. Das Prinzip als solches war Zedd bekannt, nur konnte er sich nicht recht vorstellen, wie es sich in die Tat umsetzen ließe.

Trotz seiner Dankbarkeit für Richards Rettung war Zedd über die Zerstörung solch wertvollen und unersetzlichen Glases alles andere als erfreut gewesen, denn dadurch war das Eindämmungsfeld unterbrochen worden. Nicci hatte angeboten, bei der Reparatur zu helfen. Er hätte ohnehin nicht gewusst, wie er dies hätte allein bewerkstelligen sollen, zumal er nicht annahm, dass es außer ihm noch jemanden gab, der wusste, wie diese Kräfte zu beherrschen wären, oder selbst über die nötigen Kräfte verfügte. Niemand hätte gedacht, dass jemandimstande wäre, dieses Fensterglas noch einmal zu erschaffen, doch offenbar war es ihr gelungen.

Zedd hatte sich an nichts so sehr erinnert gefühlt wie an eine Königin, die in die königliche Küche hinabsteigt, um vorzuführen, wie man mithilfe eines längst vergessenen Rezepts eine nicht mehr gebräuchliche Brotsorte backt.

Obschon er einige überaus mächtige Hexenmeisterinnen kannte, war er nie einer begegnet, die Nicci ebenbürtig gewesen wäre. Einige Dinge, die ihr scheinbar leicht von der Hand gingen, waren so verblüffend, dass es ihm die Sprache verschlug.

Natürlich war Nicci weit mehr als nur eine Hexenmeisterin. Als ehemalige Schwester der Finsternis beherrschte sie die subtraktive Magie und vermochte einem Zauberer die Kraft zu entziehen, um sie ihrer eigenen hinzuzufügen und so etwas vollkommen Einzigartiges zu schaffen - eine Vorstellung, die er lieber nicht weiter verfolgen mochte. Die Frau machte ihm Angst, denn hätte Richard ihr nicht den Wert ihres eigenen Lebens aufgezeigt, wäre sie noch immer den Zielen der Imperialen Ordnung verschrieben. Große Teile ihres Lebens erschienen ihm so rätselhaft, dass er manchmal nicht recht wusste, wie weit er ihr über den Weg trauen konnte.

Ganz anders Richard - er würde ihr sein Leben anvertrauen. Und dieses Vertrauens hatte sie sich bereits mehrfach würdig erwiesen. Außer sich selbst und Cara kannte er niemanden, der Richard so verbunden war, wie Nicci. Wenn es sein musste, würde sie, um ihn zu retten, ohne Fragen zu stellen oder groß darüber nachzudenken in die Unterwelt hinabsteigen. Richard hatte sie, wie Cara und die anderen Mord-Sith, aus dem Sumpf des Bösen befreit. Wer außer ihm wäre zu so etwas fähig gewesen? Wie er den Jungen vermisste.

Nicci glitt zurück in die Bibliothek, und in diesem Moment sah Zedd, was auf dem Tisch stand. Sein Talent hatte ihm das Vorhandensein bereits angezeigt, ihm allerdings nicht verraten, was es sonst noch damit auf sich hatte.

Cara entfuhr ein leiser Pfiff, eine Einschätzung, die er durchaus teilte.

Ohne die Zierhülle, die es zuvor umschlossen hatte, war das auf einem der massiven Bibliothekstische thronende Kästchen der Ordnung von einem bestrickenden Schwarz, das der Morgendämmerung alles Licht zu entziehen schien, ein Schwarz von solcher Unergründlichkeit, dass das Kästchen selbst nichts weiter als eine Leere in der Welt des Lebendigen zu sein schien.

Was ihn jedoch bestürzte, war der Eindämmungsbann, der um das Kästchen herum gezeichnet worden war - und zwar mit Blut. Es waren auch noch andere Zauber und Banne auf die Tischplatte gemalt worden, auch sie mit Blut.

Einige Elemente in den Diagrammen erkannte er wieder. Er kannte niemanden, der imstande gewesen wäre, solche Zauber zu zeichnen. Diese Dinge waren nicht gänzlich stabil, was sie unfassbar gefährlich machte. Es gab unzählige Banne, die bei unsauberer Ausführung im Nu zu töten vermochten, und diese mit Blut gezeichneten Banne gehörten zu den allergefährlichsten. Ihren erfolgreichen Einsatz würde selbst er, mit seiner lebenslangen Erfahrung, Ausbildung und Praxis, nicht einmal in Erwägung ziehen.

Das letzte Mal war er diesem entsetzlichen Bann begegnet, als Darken Rahl - Richards Vater - den Zauber zum Öffnen der Kästchen der Ordnung vollendet hatte - und der hatte es mit dem Leben bezahlt. Rings um die eigentlichen Kästchen verliefen frei schwebende Linien aus grünem und bernsteinfarbenem Licht, die weitere Banne in den Raum zeichneten. Ein wenig erinnerten sie an die leuchtend grünen Linien des Prüfnetzes für den Feuerkettenbann, das sie in ebendiesem Raum ausgeführt hatten, allerdings unterschied sich dieses Gebilde aus dreidimensionalen Formeln in einigen wesentlichen Punkten. Außerdem pulsierten die leuchtenden Linien, als wären sie lebendig - was in seinen Augen durchaus einen Sinn ergab, immerhin war die Macht der Ordnung die Kraft des Lebens selbst.

Andere Linien, verbunden mit den Kreuzungspunkten des grünen und mitunter bernsteinfarbenen Lichts, waren ebenso schwarz wie das Kästchen. Betrachtete man sie, war es, als blicke man durch einen Spalt in den Tod selbst. Subtraktive und additive Magie waren miteinander vermengt worden, um ein Energiegeflecht zu erzeugen, wie Zedd es zu Lebzeiten niemals zu sehen gehofft hätte.

Das Geflecht aus Licht und Finsternis schwebte frei im Raum.

Und in seiner Mitte thronte wie eine dicke, fette Spinne das Kästchen der Ordnung.

Unmittelbar daneben lag aufgeschlagen Das Buch des Lebens.

»Nicci«, brachte Zedd unter größten Mühen hervor, »was im Namen der Schöpfung habt Ihr da angerichtet?«

»Was ich getan habe, geschah nicht im Namen der Schöpfung, sondern im Namen Richard Rahls.«

Zedd löste seinen Blick von diesem schauderhaften Ding inmitten der leuchtenden Linien und starrte sie an. Er hatte Mühe, Luft zu bekommen.

»Was habt Ihr nur getan, Nicci?«

»Das Einzige, was mir übrig blieb. Das, was getan werden musste -und was nur ich tun konnte.«

Das Zusammenwirken der beiden Seiten der Gabe, die das Kästchen der Ordnung inmitten dieses leuchtenden Geflechts gefangen hielten, sprengte jedes Vorstellungsvermögen. Dies war der Stoff, aus dem man Albträume machte.

Zedd wählte seine Worte mit Bedacht. »Wollt Ihr damit etwa andeuten, Ihr glaubt, das Kästchen ins Spiel bringen zu können?«

Ihre Art, langsam den Kopf zu schütteln, schnürte ihm vor Entsetzen die Brust zusammen. Der Blick aus ihren blauen Augen ließ ihn auf der Stelle erstarren.

»Das habe ich bereits getan.«

Zedd war, als ob sich der Boden unter ihm auftäte und er ins Bodenlose stürzte. Für einen winzigen Augenblick fragte er sich, ob dies alles wirklich war. Der Raum schien sich um ihn zu drehen. Seine Beine drohten nachzugeben.

Cara schob ihm ihre Hand unter die Achsel, um ihn zu stützen.

»Habt Ihr den Verstand verloren?« Kaum hatte er sich wieder gefangen, kochte der Zorn in seiner Stimme hoch.

»Zedd ...« Sie machte einen Schritt auf ihn zu. »Ich musste es tun.«

Er brachte nicht einmal ein fassungsloses Blinzeln zustande. »Ihr musstet es tun?«

»Ja. Es war die einzige Möglichkeit.«

»Die einzige Möglichkeit wozu? Um das Ende der Welt herbeizuführen? Das Leben selbst zu vernichten?«

»Nein. Es war unsere einzige Chance zu überleben. Ihr wisst, was der Welt blüht, was die Imperiale Ordnung tun wird, ja in diesem Augenblick bereits zu tun im Begriff ist. Die Welt steht vor dem Abgrund. Im günstigsten Fall blickt die Menschheit in einen Abgrund aus tausend Jahren Finsternis, und im schlimmsten wird sie nie wieder das Licht erblicken.

Ihr wisst, dass wir uns auf Pfade in den Prophezeiungen zubewegen, hinter denen alles in Finsternis versinkt. Nathan hat Euch von den Verzweigungen erzählt, die in eine große Leere führen, hinter der es nichts mehr gibt. Und vor ebendieser Leere stehen wir.«

»Ist Euch nie der Gedanke gekommen, dass das, was Ihr soeben getan habt, gerade die Ursache dafür sein könnte - ebenjene Tat, die die Menschheit und alles Leben in das Nichts völliger Vernichtung führen wird?«

»Schwester Ulicia hatte die Kästchen der Ordnung bereits ins Spiel gebracht. Glaubt Ihr, sie und die Schwestern der Finsternis scheren sich um das Leben? Es ist ihre erklärte Absicht, den Herrscher der Unterwelt zu befreien. Gelingt ihr das, ist die Welt zum Untergang verdammt. Ihr wisst, was es mit den Kästchen auf sich hat, Ihr kennt ihre Macht und wisst, was geschehen wird, wenn sie über die Macht der Ordnung gebietet.«

»Aber das bedeutet doch nich-«

»Wir haben keine andere Wahl.« Ihr Blick blieb fest. »Ich musste es tun.«

»Habt Ihr überhaupt eine Vorstellung, wie Ihr die Ordnung beschwören und über die Kästchen gebieten könnt? Wie Ihr das richtige Kästchen erkennen könnt?«

»Nein, noch nicht«, musste sie zugeben.

»Ihr habt ja nicht einmal die beiden anderen!«

»Wir haben ein Jahr Zeit, sie zu beschaffen«, erwiderte sie mit ruhiger Entschlossenheit. »Vom ersten Tag des Winters, also von heute an gerechnet.«

In seiner Wut und Verzweiflung warf Zedd die Hände in die Luft. »Selbst wenn es uns gelingen sollte, sie zu finden, glaubt Ihr wirklich, Ihr wärt imstande, über die Macht der Ordnung zu gebieten?«

»Ich selbst nicht«, antwortete sie mit einer Stimme, die kaum mehr als ein Flüstern war.

Zedd neigte den Kopf zur Seite, unsicher, ob er tatsächlich richtig gehört hatte. Sein Verdacht schlug um in siedend heiße Bestürzung.

»Was soll das heißen, Ihr selbst nicht! Eben sagtet Ihr doch, Ihr hättet die Kästchen ins Spiel gebracht.«

Nicci trat näher und legte ihm sachte eine Hand auf den Unterarm.

»Als ich die Pforte öffnete, wurde ich gebeten, den Namen des Spielers zu nennen. Also nannte ich Richard. Ich habe die Kästchen der Ordnung in seinem Namen ins Spiel gebracht.«

Zedd war wie vom Donner gerührt. Am liebsten hätte er sie erschlagen, sie erwürgt, ihr Glied um Glied ausgerissen.

»Ihr habt Richard als Spieler angegeben?«

Sie nickte. »Es war die einzige Möglichkeit.«

Zedd fuhr sich mit den Fingern beider Hände durch seinen widerspenstigen, weißen Lockenschopf und hielt sich dann den Kopf, als befürchtete er, dieser könnte auseinanderplatzen.

»Die einzige Möglichkeit. Verdammt, Frau, habt Ihr den Verstand verloren?«

»So beruhigt Euch doch, Zedd. Ich weiß, das alles kommt ein wenig überraschend, aber ich habe es schließlich nicht aus einer Laune heraus getan. Es ist alles wohldurchdacht. Glaubt mir, ich habe es mir ganz genau zurechtgelegt. Wenn wir, denen viel am Leben gelegen ist, überleben wollen, wenn es eine Chance für den Fortbestand des Lebens, ja überhaupt eine Zukunft geben soll, ist dies die einzige Möglichkeit.«

Zedd ließ sich schwer auf einen der am Tisch stehenden Stühle sacken. Er musste einen kühlen Kopf bewahren, sagte er sich, ehe er etwas nicht Wiedergutzumachendes tat und aus blindwütigem Zorn reagierte. Er versuchte, sich in Erinnerung zu rufen, was er über die Kästchen und die gegenwärtigen Geschehnisse wusste, versuchte sich an alle Verzweiflungstaten in seinem Leben zu erinnern - und es mit ihren Augen zu sehen.

Es gelang ihm nicht.

»Nicci, zurzeit weiß Richard nicht einmal, wie er von seiner Gabe Gebrauch machen kann.«

»Er wird eben eine Möglichkeit finden müssen.«

»Er hat von den Kästchen der Ordnung keine Ahnung.«

»Wir werden es ihm beibringen müssen.«

»Wir wissen doch nicht einmal selbst genug über sie. Wir wissen nicht einmal, welches das korrekte Buch der gezählten Schatten ist. Nur die korrekte Abschrift funktioniert als Schlüssel für die Kästchen.«

»Wir werden es eben herausfinden müssen.«

»Bei den Gütigen Seelen, Nicci, wir kennen ja nicht einmal Richards derzeitigen Aufenthaltsort.«

»Wir wissen, dass die Hexe ihn in der Sliph gefangen zu nehmen versucht hat und dies misslungen ist. Richards Bemerkungen lässt sich entnehmen, dass Sechs ihn vermutlich von seiner Gabe abgeschnitten hat, indem sie die Banne in den heiligen Höhlen von Tamarang zeichnete. Nach Aussage Rachels hat Sechs ihn verloren, als er von der Imperialen Ordnung gefangen genommen wurde. Nach allem, was wir wissen, könnte er ihnen mittlerweile ebenfalls entkommen und bereits auf dem Weg hierher sein. Und wenn nicht, werden wir ihn eben finden müssen.«

Offenbar konnte Zedd ihr nicht begreiflich machen, welchen Hindernissen sie sich gegenübersahen. »Was Ihr da redet, ist ein Ding der Unmöglichkeit!«

Da lächelte sie, es war ein trauriges Lächeln. »Ein mir bekannter und von mir sehr geschätzter Zauberer, der Richard zu dem gemacht hat, der er ist, brachte ihm einmal bei, stets an die Lösung zu denken und nicht an das Problem. Der Rat hat sich stets als sehr nützlich erwiesen.«

Davon wollte Zedd nichts hören. Er sprang auf. »Dazu hattet Ihr kein Recht, Nicci. Ihr habt kein Recht, über sein Leben zu entscheiden und ihn als Spieler zu benennen.«

Ihr Lächeln erlosch und gab den Blick auf die darunterliegende stählerne Härte frei. »Ich kenne Richard, ich weiß, er kämpft um sein Leben. Ich weiß, was dies für ihn bedeutet, und dass er nichts unversucht lassen würde, um den Fortbestand der Welt des Lebendigen zu sichern. Ich weiß auch, dass er, wäre er auf demselben Kenntnisstand wie ich, gewollt hätte, dass ich so handele.«

»Nicci, Ihr könnt unmögli-«

»Zedd«, fiel sie ihm herrisch ins Wort, »ich habe Euch gefragt, ob Ihr Richard Euer Leben, alles Leben, anvertrauen würdet. Das habt Ihr bestätigt. Diese Worte bedeuten etwas. Ihr habt nicht etwa verlegen herumgestottert und Euer Vertrauen zu relativieren versucht. Jemandem sein Leben anzuvertrauen, ist als Vertrauensbeweis so unmissverständlich, wie es nur sein kann.

Richard ist der Einzige, der uns in die entscheidende Schlacht führen kann. Jagang und die Imperiale Ordnung mögen eine Rolle dabei spielen, aber die eigentliche entscheidende Schlacht findet um die Macht der Ordnung statt. Dafür werden die Schwestern der Finsternis, die über die Kästchen gebieten, sorgen. Sie werden es auf die eine oder andere Weise sicherstellen. Richard kann uns nur anführen, wenn er die Kästchen im Spiel hat. Denn so wird er zur wahrhaftigen Erfüllung der Prophezeiung:

fuer grissa ost drauka - der Bringer des Todes.

Aber dies ist mehr als nur eine Prophezeiung. Eine Prophezeiung drückt lediglich aus, was wir bereits wissen, nämlich dass Richard derjenige ist, der uns bei der Verteidigung unserer hochgeschätzten Werte, jener Werte, die das Leben begünstigen, bereits angeführt hat. Richard selbst nannte die Bedingungen für diesen Kampf, als er zu den D’Haranischen Truppen sprach. Als Lord Rahl, Anführer des D’Haranischen Reiches, erklärte er den Männern, wie dieser Krieg von nun an geführt werden würde: alles oder nichts.

Anders können wir auch hier nicht vorgehen. Im Grunde seines Herzens ist Richard vollkommen aufrichtig, er würde von niemandem etwas verlangen, was er nicht auch selbst tun würde. Er ist der Kern dessen, was wir glauben. Er würde uns niemals verraten.

Wir stecken jetzt auf Gedeih und Verderb in dieser Sache drin. Es geht im wahrsten Sinne des Wortes um alles oder nichts.«

Zedd warf die Arme in die Luft. »Aber ihn als Spieler zu benennen ist nicht die einzige Möglichkeit, uns in diesem Kampf anzuführen, nicht seine einzige Erfolgschance - es könnte aber sehr wohl der Grund für sein Scheitern sein. Eure Handlungsweise könnte unser aller Untergang bedeuten.«

Ein Ausdruck von Überzeugtheit, Entschlossenheit und Zorn trat in ihre blauen Augen, der ihm klarmachte, dass sie ihn zu Asche verbrennen würde, wenn er sich dem in den Weg stellte, was sie für nötig hielt. Zum ersten Mal sah er die Herrin des Todes mit den Augen derer, die ihr im Weg gestanden und das ganze Ausmaß ihres Zorns zu spüren bekommen hatten.

»Eure Liebe für Euren Enkelsohn macht Euch blind. Er ist viel mehr als das.«

»Meine Liebe für ihn kann nich-«

Nicci wies abrupt mit gestrecktem Arm nach Osten, nach D’Hara. »Diese Schwestern der Finsternis haben die Feuerkettenreaktion ausgelöst, die sich nun ungehindert durch Euer Erinnerungsvermögen frisst. Diese Reaktion bedeutet weit mehr als nur den Verlust unserer Erinnerung an Kahlan.

Mit jedem Augenblick löst sich unser Wissen darüber auf, wer wir sind, was wir sind und sein werden. Es geht nicht nur darum, dass wir Kahlan vergessen haben. Der Mahlstrom dieses Banns wird täglich mächtiger, der Schaden nimmt exponential zu. Das volle Ausmaß unseres Verlusts ist uns überhaupt nicht bewusst, dabei geht uns mit jedem Tag mehr verloren. Unser Verstand, unsere Denkfähigkeit, ja unsere Fähigkeit zu vernunftgemäßem Handeln wird von diesem heimtückischen Bann untergraben.

Weit schlimmer, der Feuerkettenbann ist verunreinigt, wie Richard selbst uns nachgewiesen hat. Die Verunreinigung der Chimären liegt tief im Innern des Feuerkettenbanns verborgen, der jeden befallen hat, und die Verunreinigung frisst sich durch die Welt des Lebendigen. Sie zerstört nicht nur das Wesen dessen, wer und was wir sind, sondern auch das Gewebe der Magie selbst. Ohne Richard würden wir es nicht mal bemerken.

Die Welt steht nicht nur wegen Jagang und der Imperialen Ordnung am Abgrund, sondern ist im Begriff, durch das lautlose, unsichtbare Werk des Feuerkettenbanns und der darin enthaltenen Verunreinigung vernichtet zu werden.«

Nicci tippte sich mit dem Finger gegen die Schläfe. »Hat diese Verunreinigung Euch vielleicht schon der Fähigkeit beraubt zu erkennen, was auf dem Spiel steht? Eures Denkvermögens?«

»Das einzige Gegenmittel gegen die Feuerkettenreaktion sind die Kästchen der Ordnung. Zu diesem Zweck allein wurden sie erschaffen – für den Fall, dass der Feuerkettenbann jemals ausgelöst werden sollte. Das haben die Schwestern getan. Und um es unumkehrbar zu machen, haben sie die Kästchen, das Gegenmittel, ins Spiel gebracht, und sich selbst als Spielerinnen genannt. Und nun glauben sie, dass niemand sie mehr aufhalten kann. In diesem Punkt mögen sie recht haben. Ich habe Das Buch des Lebens gelesen, die Anleitung für die Funktionsweise der Macht der Ordnung. Dort steht nirgendwo, wie das Spiel, hat es einmal begonnen, noch aufzuhalten wäre. Weder können wir den Feuerkettenbann stilllegen, noch das Spiel der Ordnung aufhalten. Die Welt des Lebens ist auf dem besten Wege, außer Kontrolle zu geraten - genau wie von ihnen beabsichtigt.

Wofür kämpft Richard, wofür kämpfen wir? Sollen wir einfach alles hinschmeißen mit der Begründung, der Versuch, unsere vollkommene Vernichtung aufzuhalten, sei zu schwierig oder zu riskant? Sollen wir vor der einzigen Chance zurückscheuen, die uns bleibt, und alles aufgeben, was wirklich wichtig ist? Sollen wir zulassen, dass Jagang weiterhin jeden abschlachtet, der den Wunsch nach Freiheit verspürt? Dass die Imperiale Ordnung die Welt versklavt, die Feuerkettenreaktion ungehindert um sich greift und unsere Erinnerung an alles Gute tilgt? Dass die in diesem Bann enthaltene Verunreinigung die Magie aus der Welt verbannt? Sollen wir einfach die Hände in den Schoß legen und uns aufgeben? Sollen wir zulassen, dass Leute, deren einziges Ziel Zerstörung ist, das Ende der Welt heraufbeschwören?

Indem sie die Kästchen ins Spiel brachte, hat Schwester Ulicia die Pforte zur Macht der Ordnung aufgestoßen. Was soll Richard denn tun? Er muss die Waffen bekommen, die er braucht, um diese Schlacht zu schlagen, und genau das habe ich soeben getan.

Jetzt ist der Kampf wirklich ausgeglichen. Beide Seiten sind nun voll und ganz in diese Auseinandersetzung verwickelt, in der sich alles entscheiden wird.

In dieser Auseinandersetzung müssen wir Richard vertrauen. Es hat einmal eine Zeit vor einigen Jahren gegeben, da standet Ihr vor ähnlichen Entscheidungen. Ihr kanntet Eure Möglichkeiten, wart Euch Eurer Verantwortung und der Risiken bewusst - und der tödlichen Folgen im Falle Eurer Untätigkeit. Damals ernanntet Ihr Richard zum Sucher.«

Zedd, kaum fähig, seiner Stimme Herr zu werden, nickte. »Ja, das habe ich getan.«

»Und hat er nicht alle in ihn gesetzten Hoffnungen erfüllt und sogar noch übertroffen?«

Er konnte sein Zittern nicht mehr unterdrücken. »Ja, der Junge hat alles getan, was ich von ihm erwartet habe - und mehr.«

»Jetzt verhält es sich nicht anders, Zedd. Der Zugriff auf die Macht der Ordnung ist nicht mehr allein den Schwestern der Finsternis vorbehalten.« Sie ballte die Hand zur Faust. »Ich habe Richard eine Chance gegeben - uns allen. In diesem Sinne habe ich Richard ins Spiel gebracht, denn ich habe ihm an die Hand gegeben, was er braucht, um aus diesem Kampf siegreich hervorzugehen.«

Er sah ihr mit tränengetrübtem Blick in die Augen. Da war noch etwas anderes außer Entschlossenheit, Aufgebrachtheit und Unbeugsamkeit. In ihren blauen Augen erblickte er einen Hauch von Angst.

»Und ...?«

Sich wich zurück. »Was, und?«

»So erschöpfend Eure Argumentation sein mag, da ist noch etwas anderes, etwas, das Ihr mir bislang verschwiegen habt.«

Nicci wandte sich ab, strich mit den Fingern einer Hand über die Tischplatte, über die mit ihrem Blut gezeichneten Banne, für deren Beschwörung sie ihr Leben riskiert hatte.

Ihm den Rücken zugewandt, machte sie eine vage Geste, eine verlegene, knappe Handbewegung, aus der unvorstellbare Seelenqual sprach.

»Ihr habt recht«, sagte sie schließlich mit einer Stimme, deren Beherrschung ihr jeden Moment zu entgleiten drohte. »Ich habe Richard noch etwas anderes gegeben.«

Einen Moment lang stand Zedd da und betrachtete die Frau, die ihm den Rücken zugekehrt hatte. »Und das wäre?«

Sie drehte sich um. Eine Träne rann langsam über ihre Wange.

»Ich habe ihm soeben die einzige Chance gegeben, die Frau zurückzugewinnen, die er liebt. Die Kästchen der Ordnung sind das einzige Gegenmittel gegen den Feuerkettenbann, der ihm Kahlan genommen hat. Wenn er sie wiederhaben will, geht dies nur mithilfe dieser Kästchen. Ich habe ihm die einzige Chance gegeben, die ihm bleibt, um das zurückzubekommen, was er am Leben liebt.«

Zedd sank auf seinen Stuhl zurück und verbarg das Gesicht in seinen Händen.

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