»Und als sie dem Grabmal Nathan Rahls unsere Ehrerbietung erwiesen, stießen meine Stellvertreter auf einige höchst bemerkenswerte Bücher. Vor allem von einem dürftest du, denke ich, schon gehört haben: Dem Buch der gezählten Schatten.«
Richard maß ihn mit durchdringendem Blick, sagte aber nichts.
»Wie dir zweifellos bekannt sein dürfte, existieren von diesem Buch fünf Abschriften, von denen ich drei besitze. Nach Aussage der guten Schwestern hast du eine weitere auswendig gelernt. Wo sich die fünfte befindet, weiß ich nicht genau, aber vermutlich könnte sie sich wer weiß wo befinden.
Die Sache ist die: All das ist im Grunde bedeutungslos. Denn bei der Ausgabe des Buches der gezählten Schatten, die mir zusammen mit deiner hübschen Schwester und ein paar ihrer Freunde in die Hände fiel, handelt es sich nicht etwa um eine Abschrift.«
Richard sah ihn fragend an.
»Es ist das Original.« Jagangs tiefe Stimme troff vor belustigter Selbstzufriedenheit. »Und aus ebendiesem Grunde muss ich mir nicht den Kopf zerbrechen, welche der fünf Abschriften die korrekte, und welche vier anderen die fehlerhaften sind. Diese Frage beschäftigt mich nicht mehr.«
Richard seufzte schwer. »Verstehe.«
»Außerdem bin ich jetzt im Besitz aller drei Kästchen der Ordnung, denn meine Freundin Sechs besaß die Freundlichkeit, mir das dritte zu beschaffen.« Seine dunklen Augen richteten sich auf Nicci. »Sie hat es aus der Burg der Zauberer. Frag einfach Nicci. Zum Glück hat sie sich von der Berührung durch die Hexe wieder erholt. Wäre sie gestorben, wäre mir das gar nicht recht gewesen.«
Richard verschränkte erneut die Arme. »Also gut, Ihr habt Das Buch der gezählten Schatten, ebenso wie alle drei Kästchen. Klingt, als hättet Ihr das Ja’la dh Jin bestens im Griff. Und was wollt Ihr von mir?«
Der Soldat schwenkte tadelnd seinen Finger. »Das weißt du, Richard Rahl. Ich will in den Garten des Lebens.«
»Mag sein, aber wenn ich das zuließe, wäre das für mich wohl kaum von Nutzen.«
»Ich rate dir, denk an all die Menschen dort drinnen und frage dich dann, wie vorteilhaft eine Weigerung deinerseits für sie wäre. Denn hineingelangen werden wir auf jeden Fall, es ist lediglich eine Frage der Zeit und dessen, was geschieht, wenn es so weit ist. Zwingst du mich, mir den Weg dorthin gewaltsam freizukämpfen, werde ich meinen Männern die Erlaubnis geben müssen, sich an jedem Einzelnen, jedem Mann, jeder Frau und jedem Kind dort zu rächen - was vermutlich ihre schlimmsten Phantasien noch übertreffen würde. Ergibst du dich jedo-«
»Ergeben!«, fiel Verna ihm ins Wort. »Habt Ihr den Verstand verloren?«
Richard schob sie zurück und brachte sie dadurch zum Schweigen. Dann wandte er sich wieder herum zu Jagang. »Fahrt fort.«
»Ergibst du dich, werde ich den Palast unbehelligt lassen.«
»Warum in aller Welt solltet Ihr ihn im Falle meiner Aufgabe verschonen? Ich hoffe, Ihr erwartet nicht, dass ich Euch für Manns genug halte, Euch an eine solche Abmachung zu halten.«
»Nun, ursprünglich hatten wir geplant, als Hauptquartier der Imperialen Ordnung einen prachtvollen Palast zu errichten, ein Vorhaben, das Bruder Narev höchstpersönlich beaufsichtigen sollte. Diesen Traum unseres Volkes hast du zerstört.
Wir könnten dieses Vorhaben erneut aufgreifen ...« Er machte eine nachgiebige Handbewegung. »Es wäre jedoch sehr viel angemessener, stattdessen deinen Palast zu übernehmen und von dort aus zu herrschen, um allen Gegnern der Ordensbruderschaft zu zeigen, welche Folgen ein derart törichter Widerstand hat. Der Ordenssitz würde zu einem an alle gerichteten Manifest.
Dich persönlich würde ich selbstverständlich, nachdem du der Öffnung des korrekten Kästchens der Ordnung beigewohnt hättest, hinrichten müssen.«
»Selbstverständlich.«
»Du würdest eines vergleichsweise schnellen, wenngleich nicht zu schnellen Todes sterben. Schließlich möchte ich, dass du wenigstens für einige deiner Verbrechen bezahlst.«
»Wie verlockend.«
»Immerhin, dein Volk würde überleben. Sorgst du dich etwa nicht um diese Menschen? Kennst du kein Mitgefühl? Natürlich würden sie sich zu den Glaubensüberzeugungen des Ordens bekennen müssen, die schließlich den moralischen Gesetzen unseres Schöpfers ent sprechen, aber von meinen Männern würden sie nicht behelligt werden.«
»Klingt noch immer nicht eben verlockend«, gab Richard zurück, die Arme nach wie vor trotzig verschränkt.
Der Soldat zuckte die Achseln, eine ungelenke Bewegung, als hätte man an den Fäden einer Marionette gezogen. »Nun, es sind deine beiden einzigen Alternativen. Entweder, wir gelangen gewaltsam auf einer Woge von Blut in den Palast, und meine Krieger erhalten völlig freie Hand, während die Schwestern und ich im Garten des Lebens alles Erforderliche in die Wege leiten, oder du kommst zur Vernunft und lässt dein Volk in Frieden weiterleben.
Wie auch immer, ich werde mich des Gartens meinen Erfordernissen entsprechend bedienen. Die Frage ist nur, wann und welchen Blutzoll dein Volk dafür bezahlen wird.«
»Vielleicht kommt Ihr ja gar nicht hinein. Ihr glaubt, Ihr schafft es, aber vielleicht schafft Ihr es auch nicht. Ich werde darüber nachdenken müssen.«
»Wohl kaum«, erwiderte Jagang mit einem Stellvertreterlächeln. »Sieh doch, mir bleibt immer noch die Möglichkeit, dass Sechs uns hilft. Sie müsste sich nicht gewaltsam einen Weg durch den Palast bahnen, sie könnte uns sozusagen einfach dort... absetzen. Und sollte mich die Ungeduld überkommen, könnte ich das Buch seiner Bestimmung gemäß benutzen, um das korrekte Kästchen zu öffnen.«
»Dazu benötigt Ihr den Garten des Lebens.«
Der Soldat machte eine wegwerfende Handbewegung. »Die Kästchen sind älter als der Garten. Nirgendwo ist die Rede davon, dass sie an einem solchen Ort geöffnet werden müssen, einem Eindämmungsfeld, wie die Schwestern mir erklärten. Des Weiteren erklärten sie mir, wie übrigens auch Sechs, dass der Garten des Lebens einst zwar als just für diesen Vorgang vorgesehenes Eindämmungsfeld errichtet worden sei, die Kästchen trotzdem sehr wohl eben dort geöffnet werden können, wo sie sich befinden.«
Richard maß den vor ihm stehenden Mann mit durchdringendem Blick.
»Ohne das besondere Eindämmungsfeld, das der Garten des Lebens bietet, wäre das überaus gefährlich. Irgendein ansonsten folgenloser Fehler könnte zur Vernichtung der Welt des Lebens führen.«
Jagang lächelte ein Lächeln von abgrundtiefer Bosheit. »Diese Welt, dieses Leben, ist nichts weiter als ein Übergang. Worauf es ankommt, ist die Welt danach. Mit der Vernichtung dieser gemeinen, widerlichen Welt, dieses erbärmlichen Daseins, würde man dem Schöpfer einen großen Dienst erweisen, einen Dienst, für den man mit dem ewigen Leben nach dem Tode belohnt wird. Wer sich uns jedoch entgegenstellt, wird für alle Zeiten unter die Finsternis des Hüters fallen. Diese schlechte Welt zu vernichten, um sie so zu retten, wäre eine edelmütige, einer großen Belohnung würdige Tat.
Wie du siehst, Richard Rahl, werde ich in dieser Runde des Ja’La dh Jin so oder so einen Sieg auf ganzer Linie davontragen. Ich biete dir lediglich die Chance zu entscheiden, wie du es enden lassen willst.«
Der Wind wehte eine Staubwolke vorüber, während Richard den Mann betrachtete. Aus seinen Studien und Niccis Erklärungen wusste er, dass Jagang nicht bluffte mit seiner Behauptung, die Kästchen auch ohne den Garten des Lebens öffnen zu können. Auch wusste er um die Gefährlichkeit dieses Vorhabens. Leider war er sich ebenso darüber im Klaren, dass man sich im Orden nicht darum scherte, ob dabei alles Leben vernichtet würde. Für diese Leute galt der Tod, nicht das Leben, als das höchste Gut. Selbst wenn es ihnen irgendwie gelänge, Jagang auszuschalten, würde das keinen wirklichen Unterschied bewirken, denn er war nur ein Verfechter dieser Glaubensüberzeugungen, nicht ihr Gestalter.
Die größte Gefahr innerhalb des Ordens ging letztendlich nicht von ihm selbst, sondern von den schändlichen Glaubensüberzeugungen aus, welche die Bruderschaft lehrte. Jagang war lediglich der Rohling, der ihnen Geltung verschaffte.
»Ich denke, eine solche Entscheidung kann ich nicht jetzt sofort treffen.«
»Verstehe. Ich werde dir ein wenig Zeit lassen, um darüber nachzudenken, um durch die Flure des Palasts zu schlendern und all den deiner Obhut anvertrauten Frauen und Kindern in die Augen zu sehen.«
Richard nickte. »Ich werde darüber nachdenken müssen. Es gibt Vieles zu bedenken, und das kostet Zeit.«
Der Soldat lächelte. »Selbstverständlich. Lass dir Zeit, ich gebe dir zwei Wochen, bis zum Neumond.«
Damit wandte er sich zum Gehen, drehte sich dann aber noch einmal um.
»Oh, und noch etwas.« Sein dunkler Blick wanderte zu Nicci. »Als Teil unseres Abkommens wirst du mir Nicci überlassen. Sie gehört mir und muss zurückgegeben werden.«
»Und wenn sie nicht will?«
»Ich habe mich möglicherweise nicht klar ausgedrückt. Was sie will, ist nicht von Belang. Sie muss mir zurückgegeben werden. War das deutlich genug?«
»Ja.«
»Gut.« Er lächelte herablassend. »Damit wäre unsere Unterredung beendet. Du hast für die Übergabe des Palasts - und Niccis - Zeit bis zum Neumond.«
Der Soldat wandte sich herum, als wollte er den Blick über die tief unten lagernde Armee schweifen lassen, ging dann mit steifen Schritten bis zum Rand der Planken und trat ohne ein weiteres Wort hinaus ins Nichts. Er schrie nicht einmal, als er durch die an ihm zerrenden Aufwinde in die Tiefe stürzte.
Jagang wollte, dass Richard begriff, wie wenig er sich um das Leben scherte, und wie leicht es ihm fiel, es zu nehmen.
Sofort begannen Verna und Cara verärgerte Einwände und Gegenargumente vorzubringen, doch Richard hob die Hand. »Nicht jetzt. Ich habe etwas zu erledigen.«
Er machte der Brückenbesatzung ein Zeichen. »Zieht die Brücke wieder hoch«, rief er ihnen zu, als sie ihm, bereits auf dem Weg die Straße hinab, entgegenkamen.
Sie salutierten mit einem Faustschlag auf ihr Herz.