Mit schwerem Herzen beobachtete Kahlan, wie Richard neben seinem gestürzten rechten Flügelstürmer auf die Knie ging. Das Horn erschallte. Die Spieler der Mannschaft Jagangs entfernten sich rasch von ihrem zusammengebrochenen Opfer und kehrten zu ihrem Spielfeldende zurück, um für die Verteidigung bereit zu sein. »Ist er tot?«, fragte Jillian. Kahlan legte der Kleinen, die sich an ihre linke Seite schmiegte, einen Arm um die Schultern. »Ich fürchte ja.«
»Warum sollten sie absichtlich so was tun?«
»So wird Ja’La eben bei der Imperialen Ordnung gespielt. Das Töten ist ein Mittel, zu bekommen, was man will.«
Kahlan konnte die Tränen in Richards Augen sehen, als seine Mitspieler sich bei ihm einhakten und ihn von dem Toten fortzerrten. Wenn er sich nicht auf der Stelle zurückbegab und weiterspielte, würde man ihn wegen Spielverzögerung vom Platz stellen. Rasch machten sich einige Helfer des Schiedsrichters ans Werk, den leblosen Körper des Hünen vom Spielfeld zu schleifen.
Kahlan hörte den ein halbes Dutzend Schritte vor ihr stehenden Jagang amüsiert in sich hineinlachen.
Nicci, die neben ihm stand, warf einen raschen Blick über ihre Schulter. Kahlan wusste nicht recht, was sie von dem feuchten Ausdruck ihrer blauen Augen halten sollte; teils schien es Trauer wegen Richard, teils unterdrückter Zorn und teils irgendwie auch eine an Kahlan gerichtete Warnung zu sein.
Seit jenem Abend, als Nicci so übel zugerichtet worden war, hatte Kahlan nicht mehr mit ihr sprechen können. Und Jagang hatte sich seit seiner Wette mit Kommandant Karg launisch und aufbrausend gezeigt. Gestern Abend, während Nicci im Schlafgemach und Kahlan im Vorraum seines Zeltes wartete, hatte er sich draußen mit einigen Spielern seiner Mannschaft getroffen. Alles hatte Kahlan nicht mitbekommen, doch es hatte geklungen, als erteile er ihnen den Befehl, dafür zu sorgen, dass ihnen die Angriffsspitze von Kargs Mannschaft keine Schwierigkeiten machen würde.
Vor lauter Sorge, Richard könnte den nächsten Morgen nicht erleben, hatte Kahlan in jener Nacht keinen Schlaf gefunden. Was immer Jagang im Schilde führte, in Bezug auf Nicci hatte es ihn in eine lüsterne Stimmung versetzt. Kahlan und Julian hatten die Anweisung erhalten, sich nicht von der Stelle auf dem Fußboden im Vorraum zu entfernen, da er mit seiner Sklavenkönigin, wie er sie nannte, allein zu sein wünschte. Kahlan hatte keine Ahnung gehabt, was er mit ihr anstellte, doch was immer es war, Nicci hatte kein einziges Mal geschrien. Bei ihm im Bett schien sie, den Blick furchtlos auf nichts Weltliches gerichtet, während er sich mit ihr vergnügte, jedes Mal vollkommen abzustumpfen. Kahlan verstand Niccis Verhalten, es war ihre einzige Möglichkeit, sich zu schützen. Sobald sie sich in sich selbst zurückzog, wurde ihre äußerlich zur Schau gestellte Gleichgültigkeit zum Schutz für ihre geistige Gesundheit. Es wäre vollkommen unsinnig, dem, was dieser Rohling ihr antat, auch nur die geringste Beachtung zu schenken. Andererseits machte ihre Gleichgültigkeit Jagang oftmals so rasend, dass er sie zum Vorwand für äußerst brutale Gewaltausbrüche nahm.
Kahlan wusste nicht, ob sie, sobald er sich mit ihr zu befassen begänne, die gleiche Kraft besitzen würde.
An jenem Morgen hatte sie noch überlegt, ob man wieder einmal die Schwestern würde rufen müssen, um Nicci zu retten oder doch wenigstens zu heilen. Doch als Jagang schließlich aus seinem Schlaf gemach hervorkam, hielt er Nicci bei den Haaren gepackt und schleuderte sie, sichtlich zufrieden mit sich selbst und ihrer Hilflosigkeit, vor sich auf den Boden. Zu Kahlans großer Erleichterung hatte sie trotz einiger Blessuren und blauer Flecken nicht ernstlich verletzt gewirkt. Draußen auf dem Spielfeld sammelte sich Richards Mannschaft und machte sich für den nächsten Spielzug bereit. Noch immer schrien Unmengen von Männern ihre Genugtuung über den Tod des Spielers heraus, während andere voller Wut die Fäuste in Richtung der kaiserlichen Mannschaft schwangen. Die Luft knisterte regelrecht vor Spannung. Als die Partie zügig wiederaufgenommen wurde, beruhigte sich die Menge allmählich wieder, zumindest halbwegs. Aber Kahlan konnte deutlich spüren, dass die Stimmung der Zu schauer umgeschlagen war. Die anfängliche Begeisterung über die Wiederaufnahme des Spiels war einer gewissen Unruhe gewichen, die beinahe schon den Anschein von Unmut hatte. Begonnen hatte es, als Jagang wegen Richards letztem Treffer interveniert und die Schiedsrichter überstimmt hatte. Und obwohl diese sich gefügt und ihn für nichtig erklärt hatten, wusste jeder, dass der Treffer regulär erzielt worden war.
Aber all das zählte nicht. Der Kaiser hatte sein Veto eingelegt. Unterdessen schien die rote Mannschaft entschlossen, so weiterzuspielen, als hätte sie nicht soeben ihren größten Mann verloren, und bahnte sich draußen auf dem Spielfeld mit purer Körperkraft einen Weg durch eine Linie aus Blockern. Geschickt wich Richard einigen Versuchen aus, ihn in die Enge zu treiben, doch eine Gruppe weiterer Gegner kam ihm bedenklich nahe.
Unvermittelt blieb er auf dem Sicherheitsquadrat stehen, einem selten benutzten Spielfeld, auf dem es seinem Angreifer verboten war, seine Attacke fortzusetzen. Es war ebenjener Spieler, der Richards Flügelstürmer das Genick gebrochen hatte.
Kahlan hatte keine Ahnung, was Richard damit bezweckte. Zwar konnte er, solange er sich auf diesem Quadrat aufhielt, nicht angegriffen werden, gleichzeitig saß er dort wie auf einer rasch von Gegnern eingekreisten Insel in der Falle, aus deren Sicherheit ihm das Punkten verwehrt war. Irgendwann würde er sie wieder verlassen müssen, während seine Umgebung gleichzeitig mit jedem Moment unwirtlicher wurde. Als der Kerl sich kurz wegdrehte, um nach seinen rasch den Kreis schließenden Mitspielern zu sehen, rief Richard etwas, um seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Der Mann wandte sich herum. Richard, der den Broc mit beiden Händen fest vor seine Brust gepresst hielt, schleuderte ihn urplötzlich mit einem explosiven Wurf von sich. Er landete mit solcher Wucht mitten im Gesicht des Mannes, dass er zu ihm zurückprallte.
Der ungeheure Aufprall drückte das Gesicht des Mannes teilweise ein. Der Mann brach mit vollständig in den Schädel gedrückter Nase kraftlos zusammen und ging auf der Stelle zu Boden.
Die völlig unerwartete Entwicklung ließ die Menge aufstöhnen. Voller Wut warf sich ein weiterer Spieler von rechts auf ihn, obwohl er sich auf dem Sicherheitsquadrat befand. Da der Schiedsrichter nicht geneigt schien, einzuschreiten und das Foul zu ahnden, klemmte sich Richard den Broc unter den linken Arm und wich ein Stück in diese Richtung aus. Das Gesicht dem Angreifer zugewandt, holte er mit seiner Rechten aus und traf den Spieler mit seinem mächtigen Unterarmknochen am Hals. Der griff sich verzweifelt nach Luft ringend an die Kehle. Offenbar war seine Luftröhre zertrümmert. Seine Gesichtsfarbe wechselte von rot zu blau.
Ohne Zögern griff ein weiterer hochaufgeschossener Kerl mit erhobener Faust von der linken Seite an. Richard drehte sich in seine Richtung, wich dem Hieb auf der Innenseite aus und öffnete dadurch dessen Deckung, ehe er ihm, seinen Schwung ausnutzend, eine blitzschnelle Gerade verpasste. Der gewaltige Hieb, dessen ganze Kraft sich in dem Ballen seiner Hand konzentrierte, traf den Mann unmittelbar über dem Herzen und reichte aus, ihn zurücktorkeln zu lassen. Der kräftige Kerl, in den Augen einen benommenen, wirren Blick, fasste sich an die Brust, dann brach er am Boden zusammen.
Ohne jede Unterstützung hatte Richard drei Männer getötet, die alle beträchtlich größer waren als er. Jetzt dämmerte Kahlan auch, warum rings um das Spielfeld ständig so viele Pfeile auf ihn gerichtet waren. Nicht einmal ansatzweise vermochte sie sich vorzustellen, was geschehen würde, wenn er eine Klinge in die Finger bekäme.
Ohne weitere Zeit zu vergeuden, schoss Richard durch die soeben geschaffene Bresche und hielt auf die Tore zu. Seine Mitspieler schienen auf diesen Spielzug vorbereitet zu sein, denn sie hatten sich bereits längs seines Laufweges positioniert, um seine Angreifer abzublocken. Überall auf dem gesamten Spielfeld kam es zu Zusammenstößen. Drüben, auf der anderen Spielfeldseite, sah Kahlan die Gesichter der Menge in einer einheitlichen Bewegung herumschwenken, als sie Richards Sturmlauf zu den gegnerischen Toren verfolgten, wo er einigen Spielern auswich, während seine Blocker andere aus dem Weg räumten. Da niemand nahe genug war, der ihn hätte zu Fall bringen können, ereichte er die Wurfzone, wo er den Broc ungehindert ins Netz wuchtete und einen weiteren Punkt erzielte. Jetzt lag seine Mannschaft abermals in Führung.
Das rasante Spielgeschehen hatte die Menge mitgerissen. Selbst Ja-ang war einen Schritt näher an den Spielfeldrand getreten, um das piel, die Hände vor Aufregung geballt, zu verfolgen. Sogar seine Gardisten beugten sich vor, um zu sehen, wie Richards Mannschaft, deren Angriffsphase immer noch nicht abgelaufen war, vom Schiedsrichter den Broc zugeworfen bekam und zu einem weiteren Sturmlauf ansetzte. In der gegnerischen Hälfte angekommen, wechselte Richard nach links hinüber, wo sich ihm sofort ein Gegner in die Beine warf. Kahlan hatte den Eindruck, dass es beinahe Absicht war - so wie damals, als er sich in den Morast geworfen hatte, um sich unkenntlich zu machen. Beim Aufprall auf den Boden entglitt der Broc seiner Umklammerung. Auch das erschien ihr nicht ganz echt. Vielmehr schien es ihr, als wäre es Teil eines Plans. Sein linker Flügelstürmer, der an der Seitenlinie entlangrannte, befand sich zufällig genau zum richtigen Zeitpunkt am rechten Ort und nahm den Broc mit einer bückenden Bewegung auf, als er vorübersprang. Augenblicke später hatte er die Wurfzone erreicht und warf. Solange Richard am Boden lag, war es zulässig, dass ein Flügelstürmer einen Wurfversuch unternahm.
Der Broc landete im Netz und löste damit tosenden Beifall aus. Im Jubel über seinen erzielten Treffer warf der Flügelstürmer seine Arme in die Luft. Ein Flügelstürmer erhielt nur selten Gelegenheit zu einem solchen Versuch, und noch viel seltener war dieser von Erfolg gekrönt. Kahlan wusste zwar, dass es erlaubt war, aber gesehen hatte sie es noch nie.
Als das Horn erklang und das Ende des Angriffsrechts verkündete, schloss Richard zu seinem linken Flügelstürmer auf und gab ihm, ein stolzes Lächeln im Gesicht, einen Klaps auf den Rücken. Nach seiner Miene zu urteilen, bedeutete ihm Richards Anerkennung mindestens genauso viel wie der Treffer selbst.
Der Flügelstürmer war ein Ordenssoldat, und nicht etwa ein Gefangener, wie so manch anderer aus Richards Mannschaft. Kahlan wunderte sich, dass er zu einem Soldaten der Imperialen Ordnung so freundlich war. Jedes Mal, wenn so etwas wie hoffnungsvolles Vertrauen in diesen Mann aufkeimte, passierte etwas, das von Neuem ihren Argwohn weckte.
Seit dem Besuch ihres letzten Spiels, als Nicci den Rüben genannten Mann erblickt und ihn Richard genannt hatte, wusste sie, dass dies sein richtiger Name war. Seitdem hatte sie kein einziges Wort mit Nicci wechseln und sie also auch nicht fragen können, gleichwohl vermutete sie, dass Richard in Wahrheit Richard Rahl war -Lord Rahl. Ob es stimmte, wusste sie nicht, zumindest aber würde es eine Menge erklären.
Nur schien es vollkommen unmöglich, dass Lord Rahl höchstselbst ein Gefangener der Imperialen Ordnung war und in einer Ja’La-Mannschaft gegen die Mannschaft des Kaisers spielte.
Was sie dagegen wirklich besorgte, war, dass er sie zu kennen schien. Gleich am ersten Tag, als er in einem Käfig auf dem Nachschubwagen ins Lager gerollt war, hatte er ihren Namen gerufen. Möglicherweise hatte man ihn gefangen genommen, ohne zu wissen, wen man vor sich hatte, dennoch schien ihr ein solcher Zufall ziemlich weit hergeholt. Und doch, vielleicht steckte mehr dahinter, als sie ahnte. Vielleicht hatte er sich gefangen nehmen lassen, um in ihre Nähe zu gelangen - und sie zu befreien.
Nein, schalt sie sich, sie benahm sich einfach nur albern. Trotzdem wunderte sie sich, warum sie sich immer wieder im Mittelpunkt des Geschehens wiederfand.
Gern hätte sie noch einmal Gelegenheit gehabt, mit Nicci zu sprechen, um sie zu fragen, ob er tatsächlich Richard Rahl war. Andererseits machte Niccis Reaktion, ihre Tränen beim Wiedersehen mit ihm, die Frage überflüssig. Es stand ihr deutlich ins Gesicht geschrieben. Dies war der Mann, dem Niccis Liebe galt.
Aus den Augenwinkeln behielt Kahlan ihre Sonderbewacher im Blick, deren Blicke zwischen ihr und dem Spielfeld hin und her wechselten. Während die johlende Menge in erwartungsvoller Anspannung die Fäuste in den Himmel reckte, beugten sie sich mal hierhin, mal dorthin, um zwischen den kaiserlichen Gardisten hindurch einen Blick auf das Spielfeld zu erhaschen, als die Mannschaft des Kaisers den Broc für ihre Angriffsphase entgegennahm. Die drei Spieler, die man wenige Augenblicke zuvor zur Seitenlinie geschleift hatte, waren gegen Ersatzspieler ausgewechselt worden. Die Art, wie man sie an der Seite hatte liegen lassen, ließ vermuten, dass alle drei tot waren. In der Spanne eines Herzschlags hatte Richard ohne jede Hilfe drei Männer getötet.
Und sie hatte nicht das Gefühl, dass dies schon das Ende wäre. Zu Beginn ihres Ansturms schien die kaiserliche Mannschaft von blinder Wut erfüllt. Zu einer Traube zusammengerottet, hielten sie sich genau in der Mitte, offenbar entschlossen, jeden niederzumachen, der sich ihnen in den Weg zu stellen wagte. Richards Mannschaft teilte sich, nur um blitzschnell von beiden Seiten hinter sie zu gelangen und sich von hinten in ihre Beine zu werfen. Auf diese Weise schlugen sie mit dem Gesicht voran in Laufrichtung auf den Boden, was den Aufprall nur noch heftiger machte.
Eine der Attacken geriet so stürmisch, dass sich ein Spieler der kaiserlichen Mannschaft den Knöchel brach. Er schrie vor Schmerzen. Als seine Angriffsspitze den Schrei vernahm, war er für einen Sekundenbruchteil abgelenkt, gerade lange genug, dass ihn zwei Gegenspieler von der Seite her rammen konnten. Er wurde so heftig zu Boden gerissen, dass es ihm den Atem verschlug und seine Zähne klapperten. Sofort kam es zu einem Handgemenge um den Brocbesitz.
Kaum hatte sich die kaiserliche Mannschaft erholt, drängte sie ihre Gegenspieler gewaltsam zur Seite und konnte so den Broc in ihrem Besitz behalten. Wieder auf den Beinen, mühten sie sich ab, an den Verteidigern vorbeizukommen, während mehrere Spieler aus Richards Mannschaft sich noch immer vor Schmerzen am Boden wälzten. Völlig außer Rand und Band feuerte die Menge die kaiserliche Mannschaft an, deren Angriffsspitze mal hierhin, mal dorthin abtauchte, Spieler umging und andere zur Seite stieß.
Als sie den frenetischen Jubel hörten, schoben sich Kahlans Sonderbewacher Zoll um Zoll weiter nach vorn, um das Geschehen zu verfolgen, wodurch hinter der Seitenlinie, wo Kahlan stand, etwas mehr Platz entstand. Durch den Andrang der Zuschauer weiter oben am Hang, die mit ihrem ganzen Gewicht nach vorne zum Spielfeld drängten, wurde der für den Kaiser abgesperrte Bereich von beiden Seiten in die Zange genommen. Vorn, wo Jagang stand, hielten die kaiserlichen Gardisten die aufgeregte Menge auf beiden Seiten noch zurück, doch selbst sie wurden jetzt von dem verbissenen Kampf auf dem Spielfeld mitgerissen, so dass sie dem Geschehen weiter hinten, wo der Raum langsam zusammenschrumpfte, kaum noch Beachtung schenkten.
Während die Sonderbewacher sich Zoll um Zoll näher an das Geschehen heranzuschieben begannen, wo es mehr Platz gab, nahm Kahlan Jillian fester in ihre schützenden Arme, um nicht von ihr getrennt zu werden. Die hinter ihr Stehenden versuchten sich an ihr vorbeizuzwängen und drängten unaufhaltsam vorwärts.
Nicci, von dem völlig vom Spielgeschehen in den Bann gezogenen Kaiser vergessen, trat einen Schritt zurück, was Kahlans Bewachern zusätzlichen Raum verschaffte, nach vorn zu schieben. Es wirkte ganz natürlich, so als wollte sie ihrer Absicht nicht im Wege stehen.
Jagang, wie alle anderen auch, jubelte, stöhnte und fluchte und feuerte die Mannschaften auf dem Spielfeld an. Längst hatte die Dunkelheit eingesetzt, was dem Ereignis eine jenseitige Stimmung verlieh. Die Fackeln am Spielfeldrand warfen ihren flackernden Schein auf das freie, von einem Meer aus Schwarz umsäumte Fleckchen Erde, dazwischen beobachteten Bogenschützen mit eingelegten Pfeilen das Geschehen. Aber selbst sie wurden von der Erregung des Spiels erfasst und achteten mehr auf das Spielgeschehen als auf die Gefangenen. Kahlan kam sich vor wie inmitten eines brodelnden, siedenden, außer Kontrolle geratenen und brutaler Gewalt geweihten Rituals. Die Menge brüllte und jubelte nicht nur, sondern begann, da ihre Mannschaft nun über das Spielfeld stürmte, auch noch einen Gesang anzustimmen und in dessen Rhythmus mit den Füßen zu stampfen, so dass der Boden unter den hunderttausend gleichzeitig stampfenden Stiefeln erzitterte. Die dunkle, wolkenverhangene Nacht schien erfüllt von anhaltendem, krachenden Donnergrollen.
Die Stimmung war behexend, so sehr, dass sogar Kahlan von ihr mitgerissen wurde.
Wie alle anderen Zuschauer hatte sie das Gefühl, selbst dort draußen auf dem Feld zu stehen und an der Seite dieser Spieler zu rennen. Klopfenden Herzens verfolgte sie, wie Richard Angriffen auswich, unter ausgestreckten Armen wegtauchte, und zwischen sich ihm entgegenwerfenden Gegenspielern hindurchschlüpfte. Wurde jemand getroffen, zuckte sie zusammen und wandte sich halb ab. Viele Zuschauer stöhnten auf, beinahe so, als hätten sie selbst den Hieb abbekommen. Mit jeder Drehung des Stundenglases wechselte die Führung, dennoch konnte sich Kahlan des Eindrucks nicht erwehren, dass Richard bisweilen auf Punkte verzichtete, die er eigentlich hätte erzielen müssen, dass er unmerklich langsamer wurde, um einem Gegenspieler Gelegenheit zu geben, ihn zu packen und zu Boden zu reißen. Einmal warf er sogar daneben.
Er ließ sich sozusagen abermals in den Morast fallen. Doch diesmal war ihr der Grund schleierhaft.
Je länger sich die Partie hinzog, desto klarer wurde ihr, dass er den Spielstand manipulierte, das Ergebnis absichtlich knapp hielt. Punktete die kaiserliche Mannschaft, dauerte es nicht lange, bis er den Spielstand wieder egalisiert hatte, anschließend aber verzichtete er darauf, nachzusetzen - so dass die Gegner erneut in Führung gehen konnten. Mehrfach wechselte das Angriffsrecht, ohne dass ein Treffer erzielt wurde. Mittlerweile stand es sieben zu sieben.
An seiner Art, sich zu bewegen, konnte sie erkennen, dass er sich nicht nur aus irgendeinem Grund zurückhielt, sondern dass er sich darüber hinaus seine Kräfte aufsparte. Die andere Mannschaft verausgabte sich völlig, Richard dagegen tat, was nötig war, mehr nicht. Der knappe Spielstand hatte zur Folge, dass die Emotionen auf den Rängen der Zuschauer sich zu fieberhafter Erwartung steigerten. Viele jubelten, klatschten, pfiffen und feuerten die von ihnen bevorzugte Mannschaft an, während andere der gegnerischen Mannschaft mit erhobenen Fäusten drohten und sie mit Verwünschungen überhäuften. Da und dort kam es unter den Zuschauern zu Handgreiflichkeiten, die sich jedoch rasch wieder legten, da alle die Partie verfolgen wollten. Kahlan hatte Nicci beobachtet und sah, dass sie sich ein Dutzend Schritte hinter Jagang hatte schieben können. Kein Mensch achtete auf sie. Jagang hatte sich zweimal zu ihr herumgedreht, aber, zufrieden, dass sie nah genug war, nur halb hingesehen.
Vorne, in der Nähe des Spielfeldrandes, entblößten die ersten Schlachtengängerinnen, ebenso erregt wie die gewaltige Menge, ihre Brüste, sobald die Spieler vorübergerannt kamen. Der Bereich unmittelbar an den Seitenlinien war strategisch günstig und oftmals hart umkämpft, weshalb man gerade Frauen freien Zutritt bis an den Spielfeldrand gewährte. Unmengen von Männern, die um die Erregung der Frauen wussten, die wussten, wie erpicht sie darauf waren, die Aufmerksamkeit der Spieler auf sich zu lenken, stachelten sie noch zusätzlich auf. Die Frauen schienen sich nach Beachtung geradezu zu sehnen, denn selbst bei dem ohrenbetäubenden Getöse der Massen konnte Kahlan einige von ihnen den vermeintlichen Siegern lüsterne Versprechungen zurufen hören.
Unter normalen Umständen hätten sich Frauen, die sich mitten unter den Ordenssoldaten so aufführten, nicht lange ihrer Freiheit erfreut, doch die Soldaten waren weit mehr am Geschehen auf dem Spielfeld interessiert. Das Benehmen der Frauen trug nur zusätzlich zur Verkommenheit der Atmosphäre bei. Es war Teil des Ja’La dh Jin. Als Nicci nahe genug war, berührte Jillian sie an der Hand. »Alles in Ordnung?«, raunte sie gerade laut genug, dass diese sie trotz der lärmenden Menge verstehen konnte. »Wir haben uns Sorgen um dich gemacht.«
Nicci legte der Kleinen lächelnd die Hand an die Wange und nickte.
»Er führt irgendwas im Schilde«, sagte Nicci leise, während sie sich ein wenig näher beugte. »Ich weiß.«
»Vielleicht ist das Eure Chance zu fliehen. Ich werde tun, was ich kann, um Euch zu helfen. Haltet Euch bereit.«
In Anbetracht des Rings um ihren Hals vermochte Kahlan nicht zu erkennen, welche Fluchtchance sich ihr bieten sollte, trotzdem machte ihr die Vorstellung Mut, auch wenn sie sie für völlig unrealistisch hielt. Wenn schon keine Hoffnung auf Flucht bestand, so könnte sich vielleicht die Gelegenheit zu etwas anderem ergeben, etwas, das andere rettete. Als Nicci abermals zu ihr herübersah, streckte Kahlan ihr die Hand ein kleines Stück entgegen, ohne ihr zu zeigen, was sie darunter in ihrer Handfläche verbarg.
»Hier. Nehmt das.«
Als Nicci daraufhin nur fragend die Stirn runzelte, drehte Kahlan die Hand kurz herum, gerade lang genug, dass Nicci das Heft des Messers sehen konnte. Die Klinge schmiegte sich, verborgen unter dem Ärmel ihres Hemdes, fest an ihr Handgelenk.
»Behaltet es«, gab Nicci zurück. »Ihr werdet es vielleicht brauchen.«
»Ich habe noch zwei davon.«
Einen Moment lang musterte Nicci sie überrascht, dann bedeutete sie ihr mit einer leichten Kopfbewegung, dass sie es Julian geben solle. Die öffnete ihren Umhang gerade weit genug, damit Nicci das Messer sehen konnte, das Kahlan ihr schon vorher überlassen hatte. Nicci blickte wieder hoch zu Kahlan. »Ich bin im Umgang mit Messern nicht eben geschickt.«
»Das ist nicht schwer.« Sie drückte ihr die Klinge in die Hand. »Wenn es so weit ist, bohrt Ihr das spitze Ende einfach in den wichtigen Körperteil eines Menschen, den Ihr nicht ausstehen könnt.«
Verstohlen suchte sie mit ihren blauen Augen Jagang. »Ich denke, das wird sich machen lassen.«
Kahlan fand, dass Nicci, wie sie da mit ihrem blonden, bis über die Schultern fallenden Haar im weichen Schein der Fackeln stand, die vielleicht schönste Frau war, die sie je gesehen hatte. Aber es war nicht nur ihre Schönheit; trotz allem, was Jagang ihr antat, hatte sie sich ihre Unerschrockenheit bewahrt. Ihr war eine innere Stärke eigen, eine Erhabenheit.
»Ist das Richard Rahl?«, wollte Kahlan wissen.
Ihre blauen Augen wandten sich herum zu Kahlan und starrten sie einen Moment lang an.
»Ja.«
»Was tut er hier?«
Ein kaum merkliches Lächeln verzog Niccis Mundwinkel. »Er ist Richard Rahl.«
»Wisst Ihr, was er vorhat?«
Nicci schüttelte ganz leicht den Kopf, während sie ihren Blick über all die Gardisten schweifen ließ, um sich zu vergewissern, dass keiner auf sie beide achtete. Durch die Lücken zwischen ihnen konnten sie Spieler mit rot bemalten Gesichtern vorüberrennen sehen.
»Das da draußen ist wirklich Richard Rahl?«, fragte nun auch Julian. Nicci nickte.
»Woher wollt Ihr das wissen? Ich meine, wie könnt Ihr bei all der Farbe sicher sein? Ich kenne Richard, und ich kann es nicht sehen.«
»Er ist es.«
Ihr Ton war so von ruhiger Gewissheit erfüllt, dass kein Grund bestand, ihre Äußerung in Frage zu stellen. Vermutlich, überlegte Kahlan, würde diese Frau ihn sogar bei völliger Dunkelheit erkennen können.
»Woher kennt er mich?«, fragte sie.
Wieder starrte Nicci ihr einen Moment lang in die Augen. »Dies ist nicht der Ort für Plaudereien. Haltet Euch einfach bereit.«
»Wozu? Was glaubt Ihr, wird er tun? Was kann er überhaupt tun?«
»Wie ich ihn kenne, wird er vermutlich einen Krieg anzetteln.« Kahlan blinzelte überrascht. »Ganz allein?« »Wenn es nicht anders geht.«
Auf dem Spielfeld hatte des Kaisers Mannschaft soeben kurz vor dem Erklingen des Horns, mit dem das Ende ihrer Angriffsphase verkündet wurde, einen Treffer erzielt. Die Menge geriet außer sich und stimmte ein solches Gejohle an, dass Kahlan zusammenfuhr. Der Geräuschpegel war vernichtend.
Richards Mannschaft lag nun einen Punkt zurück.
In der Erwartung, dass die Spieler ihre Positionen einnehmen, das Horn den Beginn der Angriffsphase für Richards Mannschaft ankündigen würde, begann die gesamte Menge ein tiefes, kehliges rhythmisches Grunzen anzustimmen. Jeder Grunzlaut wechselte sich mit dem Aufstampfen ihrer Stiefel ab.
Es schien, als bewegte sich die ganze Welt mit diesem Stampfen Schritt für Schritt vorwärts; der Boden zitterte. Selbst Jagang und seine kaiserliche Leibwache fielen ein. Es verlieh der Nacht etwas Gespenstisches, Wildes und Archaisches, so als wäre alle Zivilisiert -heit zugunsten dieses Spektakels rohester Enthemmtheit aufgegeben worden. Die Anhänger der kaiserlichen Mannschaft verlangten, ihre Spieler sollten den Gegner in Stücke reißen, statt zu punkten. Die Anhänger von Richards Mannschaft wollten, dass seine Spieler jeden niedermachten, der sie aufzuhalten versuchte.
Der Gesang war ein einziger Schrei nach Blut.
Jetzt, da nur noch eine Angriffsphase übrig war, musste Richards Mannschaft punkten, oder sie würde die Partie verlieren. Erzielte sie jedoch nur einen Treffer, stünde es unentschieden, und das Spiel würde in die Verlängerung gehen.
Kahlan erhaschte Blicke auf Richard, der sich keinerlei innere Regung anmerken ließ, als er seine Mitspieler um sich scharte und ihnen ein verdecktes, knappes Handzeichen gab. Beim Herumdrehen streifte sie sein Blick, und für einen winzigen Moment begegneten sich ihre Augen. Der Kontakt war so energiegeladen, dass Kahlans Herz zu pochen begann und ihre Knie nachgaben.
Ebenso schnell, wie sein prüfender Blick sie gestreift hatte, wanderte er weiter. Niemand außer ihr hatte mitbekommen, dass er sie direkt angesehen hatte, und wenn doch, so würde er kaum wissen, weshalb. Kahlan begriff.
Er hatte sich ihres genauen Standorts vergewissern wollen. Dies war der Moment, für den er sich mit diesen seltsamen Symbolen bemalt hatte, der Moment, für den er den Spielstand ausgeglichen gestaltet hatte. All die anderen Mannschaften, gegen die sie angetreten waren, hatte er vernichtend geschlagen, nur um die Gewissheit zu haben, in diesem Augenblick hier, genau an diesem Ort zu sein. Warum das so war, erschloss sich ihr nicht, aber dies war der Moment. Völlig unvermittelt stieß er einen Schlachtruf aus und setzte zu seinem Sturmlauf an.
Als sie ihn so sah, bedeckt mit den furchterregenden roten Symbolen, die Muskeln angespannt, mit seinem Raubtierblick, seiner zielgerichteten Energie und seinen fließenden Bewegungen ... glaubte Kahlan, ihr Herz müsse zerspringen.