55

Ein Schmerz ließ Zedd zusammenzucken. Ein weiteres Mal hörte er jemanden seinen Namen rufen, die Stimme klang, als dringe sie aus einer fernen Welt an sein Ohr. Er mochte auf den Ruf nicht antworten, wollte nicht die Augen aufschlagen, wollte nicht vollends erwachen und die ganze Wucht dieses Übergangs zum bewussten Sein über sich ergehen lassen müssen. »Zedd«, rief die Stimme abermals.

Sachte rüttelte ihn eine große Hand. Zedd zwang sich, die Augen einen winzigen Spalt weit zu öffnen, nur um sie angesichts des drohenden Wachzustands gleich wieder zusammenzukneifen. Rikka und Tom standen über ihn gebeugt da und betrachteten ihn mit zutiefst sorgenvoller Miene. Zedd sah, dass Toms blondes Haar an der Seite blutverklebt war.

»Ist alles in Ordnung, Zedd?«

Das war Rikkas Stimme. Blinzelnd versuchte er festzustellen, ob in seinem Körper jeder Knochen gebrochen war oder es sich nur so anfühlte. Eine in den dunklen Winkeln seines Verstandes lauernde Furcht wisperte mit leiser Stimme, dies könnte das Ende von allem sein. Sein Leib schmerzte, dort, wo Sechs’ Bann ihn getroffen hatte. Er kam sich vor wie ein alter Narr. Dabei hatte er sich doch zuvor ein klares Bild von ihr gemacht und hätte gewarnt sein müssen. Er war sich sicher gewesen, den Talenten dieser Frau gewachsen zu sein. Und das wäre ihm auch gelungen, hätte sie ihn nicht mit einer Art entworfenen Banns in einem unbedachten Augenblick erwischt, eine kleine Überraschung, die sie in den Höhlen hatte zeichnen lassen, während sie, für den Fall, dass er sich tatsächlich in ihr Reich wagte, geduldig sein Kommen abgewartet hatte. Auch wenn dies ein für eine Hexe vollkommen untypisches Verhalten war, er hätte es bedenken und auf einen solchen Trick gefasst sein müssen.

Trotz ihrer beträchtlichen Talente war sie für manche von Zedds Kräften durchaus anfällig, wie sie auf der Burg der Zauberer hatte erfahren müssen. Aber offenbar hatte sie aus dieser Erfahrung gelernt und, völlig untypisch für eine Hexe, es geschafft, ein Gegenmittel zu entwickeln. Eigentlich ziemlich brillant. Trotzdem war er im Moment nicht in der Stimmung, ihre Leistung zu bewundern.

»Ist alles in Ordnung mit Euch, Zedd?«, wiederholte Rikka.

»Denke schon«, brachte er hervor. »Und mit Euch?«

In Rikkas brummiger Antwort schwang ein verdrießlicher Unterton mit.

»Sie waren zweifellos auf uns vorbereitet. Was sie auch taten, ich war machtlos, sie daran zu hindern.«

»Nehmt es Euch nicht zu Herzen, mir ging es ganz genauso.«

»Nachdem Ihr in Ohnmacht gefallen wart, hatte ich keine Chance mehr gegen all diese Soldaten«, setzte Tom hinzu. »Tut mir leid, Zedd, aber ich habe Euch im Augenblick der größten Not im Stich gelassen, dabei hätte ich für Euch der Stahl gegen den Stahl sein müssen.«

Zedd blinzelte ihn mit zusammengekniffenen Augen an. »Redet keinen Unsinn. Der Stahl hat seine Grenzen. Ich bin es, der nicht hätte zulassen dürfen, dass wir auf diese Weise überwältigt wurden. Ich hätte es besser wissen und darauf vorbereitet sein müssen.«

»Schätze, wir haben alle versagt«, meinte Rikka.

»Schlimmer, wir haben Richard im Stich gelassen. Wir haben es ja nicht einmal bis in die Höhle geschafft, um den Bann zu brechen, der ihn von seiner Gabe trennt.«

»Da besteht jetzt wohl kaum noch Hoffnung«, meinte Rikka.

»Nun, wir werden sehen«, brummte Zedd. »Wenigstens scheinen wir fürs Erste in Sicherheit zu sein.«

»Es sei denn, Sechs kommt noch einmal zurück, um uns den Rest zu geben.«

Zedd warf ihm einen durchdringenden Blick zu. »Ihr versteht es wahrlich, einen aufzumuntern.«

Mithilfe der beiden, die an seinen Armen zogen, gelang es Zedd, sich aufzusetzen. »Wo sind wir überhaupt?« Er sah sich im trüben Licht um.

»In einer Art Gefängniszelle«, sagte Tom. »Die Mauern sind bis auf die Tür aus massivem Stein. Und auf dem Gang draußen wimmelt es von Wachsoldaten.«

Sonderlich groß war der Raum nicht. Auf einem kleinen Tischchen brannte eine Laterne, und es gab einen einzelnen Stuhl. Davon abgesehen war die Zelle leer.

»Die Decke besteht aus Balken und Planken«, bemerkte Zedd. »Ich überlege, ob ich sie mit meiner Kraft so weit aufbrechen kann, dass wir hinausschlüpfen können.«

Mit ihrer Hilfe kam er wackelig auf die Beine. Rikka stützte ihn, als er den Arm hob, um mithilfe seiner Gabe die Decke zu erkunden.

»Verdammt«, murmelte er. »Als sie diesen entworfenen Bann benutzte, hat sie gleichzeitig eine Art Barriere um diesen Raum gelegt, die es mir unmöglich macht, die Decke mit meiner Gabe aufzubrechen. Wir sind eingesperrt.«

»Da wäre noch etwas«, bemerkte Tom. »Bei den Wachen draußen handelt es sich größtenteils um Ordenssoldaten. Offenbar steht Sechs auf derselben Seite wie Jagang.«

Zedd kratzte sich am Kopf. »Großartig, das hat uns gerade noch gefehlt.«

»Wenigstens hat sie uns nicht umgebracht«, meinte Tom. »Noch nicht«, setzte Rikka hinzu.

Mit zusammengekniffenen Augen betrachtete Zedd die Decke und hob dann den Arm. »Was ist das?« »Was denn?« Tom schaute nach oben.

»Na, dort, am Rand der Decke, oben an der Wand. Zwischen dem letzten Balken und der Mauer klemmt etwas.«

Tom zog den Stuhl heran und kletterte hinauf, um an das dunkle Bündel heranzukommen, das in den Schatten zwischen den Balken versteckt festsaß. Er zerrte daran, bis es schließlich zu Boden fiel und einige der darin befindlichen Gegenstände herauskullerten.

»Bei den Gütigen Seelen«, entfuhr es Zedd. »Es ist Richards Rucksack.«

Einige der herausgefallenen Gegenstände erkannte er wieder. Er bückte sich, um den Rucksack aufzurichten, und untersuchte kurz die Kleidungsstücke, ehe er sie wieder zurückstopfte.

Als er das schwarze, mit einem goldenen Saum versehene Hemd aufnahm, um es in den Rucksack zurückzustecken, fiel sein Blick auf ein auf dem Boden liegendes Buch. Er hob es auf und betrachtete es blinzelnd im trüben Licht der Laterne.

»Was ist das für ein Buch?«, wollte Rikka wissen.

Tom beugte sich vor, um besser sehen zu können. »Was steht dort?«

Zedd glaubte kaum, seinen Augen trauen zu können. »Auf dem Einband steht: Geheimnisse der Kraft eines Kriegszauberers.« Rikka stieß einen leisen Pfiff aus.

»Ich teile Eure Einschätzung«, murmelte Zedd, während er Vorder-und Rückseite untersuchte. »Wo in aller Welt mag Richard so etwas herhaben? Es könnte sich noch als unschätzbar wertvoll erweisen.«

»Was steht denn da drin über seine Kräfte?«, fragte Rikka im Plauderton. Zedd klappte den Einband auf, schlug erst eine, dann noch eine Seite um, und machte schließlich ein überraschtes Gesicht. »Bei den Gütigen Seelen«, murmelte er entgeistert.

Nicci sah, dass der Flur in beiden Richtungen von Soldaten der Ersten Rotte abgeriegelt war, jeder von ihnen mit einer Armbrust mit eingelegtem rotgefiederten Pfeil bewaffnet. Allem Anschein nach hatten sie den Bibliotheksbereich ganz bewusst abgesperrt.

Sie erblickte Nathans weißen Haarschopf, als dieser sich einen Weg durch den dichten Wall aus Soldaten bahnte. Als er endlich zwischen ihren Reihen hervortrat, erblickte er Nicci und hielt sofort auf sie zu. Seine Miene war mehr als finster. Der Anblick allein reichte, um ihren Mund trocken werden zu lassen.

»Was gibt es denn, Nathan?«, fragte sie, als er abrupt vor ihr stehen blieb.

Seine tiefblauen Augen wirkten müde. »Tut mir leid, Nicci, aber es ist die einzige Möglichkeit.«

Sie blinzelte verständnislos, sah dann kurz zu den Schulter an Schulter den Flur versperrenden Soldaten hinüber. Auch sie schienen alles andere als erfreut, hier stehen zu müssen.

»Was ist die einzige Möglichkeit?«

Er wich ihrem Blick aus und wischte sich mit schlaffer Hand übers Gesicht. »Bevor Richard seine gefährliche Reise antrat, hatten er und ich eine ernste Unterredung. Er hat mich, für den Fall, dass er nicht zurückkommt, beauftragt, alles Nötige in die Wege zu leiten, um die Menschen hier vor dem Grauen zu bewahren, das Jagang gegen sie entfesseln würde. Denn ohne ihn würden wir nach Aussage der Prophezeiungen diesen letzten Kampf verlieren.«

»Das ist doch seit langem bekannt.«

»Ich weiß ein oder zwei Dinge über das Hinabsteigen in die Unterwelt, Nicci, und ich bin mit den Bannformen vertraut, die er benutzt hat. Ich war oben im Garten des Lebens und habe mir genau angesehen, wie er dabei vorgegangen ist. Es ist alles korrekt, es hätte funktionieren müssen.«

»Die Bestie hat ihn in die Unterwelt verfolgt«, stellte Cara fest. Nathan seufzte schwer, wirkte aber nicht sonderlich überrascht. »Ich dachte mir schon, dass es etwas Derartiges sein müsste. Die Sache ist die, ich habe mir die von Richard verwendeten Methoden genau angesehen.«

Cara schien zu hoffen, dass der Prophet ihnen eine Antwort geben konnte, die Nicci nicht zu geben vermochte. »Gut. Und, habt Ihr nun herausgefunden, wie Ihr ihn aus der Unterwelt zurückholen könnt? Nicci möchte einige Rufnetze wirken, vielleicht könntet Ihr ihr dabei zur Hand gehen. Ihr zwei zusammen ...«

Sie ließ den Satz unbeendet. Nathan schien nicht in der Stimmung, dergleichen Unfug auch nur in Betracht zu ziehen.

»So etwas ist ganz und gar unmöglich, Cara. Nach dieser langen Zeit können wir ihn nicht einfach aus der Unterwelt zurückholen. Richard ist für uns verloren.«

Cara, außerstande, diese Äußerung einfach hinzunehmen, unterdrückte blinzelnd ihre Tränen.

»Kaiser Jagang wird in diesen Palast eindringen«, erklärte Nathan. »Es ist nur eine Frage der Zeit. In Kürze wird die große Leere über uns hereinbrechen. Jetzt können wir nur noch hoffen, das so vielen Palastbewohnern wie möglich zu ersparen.«

Nicci reckte ihr Kinn vor. »Verstehe.«

»Und das ist nur zu schaffen, indem wir den Palast sofort bei Neumond aufgeben - und zwar zu den von Jagang genannten Bedingungen.«

Nicci schluckte. »Ich kann nicht behaupten, dass ich einen anderen Weg wüsste.«

»Tut mir leid, Nicci.« Seiner Stimme war anzuhören, wie ernst es ihm war. »Allerdings muss ich noch einige Vorbereitungen treffen, deswegen werde ich Euch in Gewahrsam nehmen und einsperren müssen, bis Euch Jagang bei Neumond holen kommt.«

Nicci fühlte eine Träne über ihre Wange rinnen, nicht ihretwegen, sondern weil Richard für all die Menschen verloren war, die sich darauf verlassen hatten, dass er für sie das Blatt wenden, die letzte Schlacht schlagen und letztendlich tun würde, was ihm allein vorherbestimmt war.

»All die Wachsoldaten mit ihren Pfeilen sind vollkommen überflüssig.«

Nur mit knapper Not konnte sie verhindern, dass ihre Stimme brach.

»Ich werde widerstandslos mitgehen.«

Nathan nickte. »Danke, dass Ihr es nicht noch schwieriger macht, als es ohnehin schon ist.«

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