26

»Also schön, was erwartet Ihr von mir?«, fragte Verna, als sie an einer qualmenden, in einer Eisenhalterung steckenden Fackel vorbeimarschierten. »Dass ich Nicci herbeizaubere, einfach aus dem Nichts?«

»Ich erwarte, dass Ihr herausfindet, wohin sie und Ann gegangen sind«, gab Cara zurück. »Nicht mehr und nicht weniger.«

Der Stichelei der Mord-Sith zum Trotz wollte Verna die beiden ebenso finden wie Cara, nur mochte sie nicht ständig darüber sprechen. Caras roter Lederanzug hob sich von dem jungfräulichen Weiß der Marmorwände ab wie Blut. Die Laune der Mord-Sith, die der Farbe ihres Anzugs angemessen schien, hatte sich im Laufe des Tages und angesichts der nach wie vor ergebnislosen Suche laufend verschlechtert. Ein Stück weiter hinten folgten mehrere andere Mord-Sith, zusammen mit der Ersten Rotte der Palastwache, unweit dahinter gefolgt von Adie, während Nathan einsam die Führung übernommen hatte.

Verna verstand, wie Cara zumute war, und fühlte sich dadurch auf eigenartige Weise aufgemuntert. Nicci war nicht bloß Caras Schutzbefohlene, nicht bloß irgendeine Frau, die Richard ihrer Obhut anvertraut hatte, sie war Caras Freundin. Nicht, dass diese es offen zugegeben hätte, doch ihr schwelender Zorn machte das mehr als deutlich. Wie Cara hatte sich auch Nicci lange Zeit einer finsteren Sache verschrieben. Und nun waren sie beide aus diesem Tal der Finsternis zurückgekehrt, weil Richard ihnen nicht nur die Gelegenheit, sondern auch einen Grund dazu gegeben hatte.

Die Situationen, da die Mord-Sith herumschrien und zeterten, waren in Vernas Augen weitaus weniger beunruhigend als jene, in denen sie ganz ruhig knappe Fragen zu stellen begannen. In diesen Momenten sträubten sich ihr die Nackenhaare - wenn klar wurde, dass es ihnen überaus ernst mit etwas war, was bei den Mord-Sith nie etwas Gutes verhieß. Am besten, man geriet ihnen, wenn sie unbedingt Antworten wollten, gar nicht erst in die Quere. Verna hätte sie trotzdem nur zu gern gewusst. Sie verstand Caras Aufgebrachtheit. Die Ungewissheit, was mit Nicci und Ann passiert war, erfüllte sie nicht weniger mit Angst. Allerdings würde das ständige Wiederholen der immer gleichen Fragen die Antworten ebenso wenig hervorbringen, wie die beiden vermissten Frauen. Verhieß nichts anderes Erfolg, griffen die Mord-Sith offenbar gern auf das zurück, was man ihnen eingetrichtert hatte. Cara, die Hände in die Hüften gestemmt, blieb stehen und blickte zurück durch den mit Marmor ausgekleideten Flur. Um die vor ihnen Gehenden nicht umzurennen, kamen hinter ihnen nach und nach ein paar Hundert Mann der Ersten Rotte ebenfalls zum Stillstand. Das Echo ihrer Stiefel auf dem Steinfußboden verklang zu einem leisen Scharren. Mehrere von ihnen hielten schussbereite Armbrüste in den Händen, die gefiederten Pfeile bereits eingelegt. Diese Pfeile trieben Verna den Angstschweiß auf die Stirn. Fast wünschte sie, Nathan hätte sie niemals entdeckt. Doch nur fast.

Vom leisen Zischen der Fackeln abgesehen, herrschte in dem scheinbar endlosen Gewirr aus Gängen und Fluren hinter den schwer bewaffneten Soldaten menschenleere Stille. Einen Moment lang runzelte Cara nachdenklich die Stirn, ehe sie sich wieder in Bewegung setzte. Dies war nun schon das vierte Mal seit dem Verschwinden von Ann und Nicci am Vorabend, dass sie die zu den Grabmalen führenden Flure aufsuchten, und noch immer hatte Verna nicht den Hauch einer Vorstellung, was die Mord-Sith hier herauszufinden hofften. Menschenleere Flure waren menschenleere Flure. Die beiden Vermissten würden sich schwerlich einfach aus den Marmorwänden schälen.

»Sie müssen wohl irgendwo anders hingegangen sein«, bemerkte Verna, obwohl niemand die beiden gesehen hatte.

Cara wandte sich herum. »Und wohin?«

Verna hob die Arme und ließ sie wieder fallen. »Ich weiß es nicht.«

»Es ist ein weitläufiger Bereich«, sagte Adie, deren vollkommen weiße Augen im Schein der Fackeln verstörend durchsichtig aussahen. Verna wies in den stillen Flur. »Seit Stunden laufen wir nun schon durch diese Flure, und noch immer ist es ebenso offenkundig wie beim letzten – oder ersten - Mal, dass hier kein Mensch ist. Nicci und Ann müssen irgendwo oben im Palast sein, hier unten verschwenden wir nur unsere Zeit. Ich bin auch der Meinung, dass wir sie finden müssen, aber suchen müssen wir woanders.«

Caras Augen waren wie kaltes, blaues Feuer. »Sie sind hier unten gewesen.«

»Ja, da habt Ihr sicher recht - gewesen. Aber seht Ihr irgendetwas, das darauf hindeuten würde? Ich nicht. So richtig Eure Vermutung sein mag, es ist nicht zu übersehen, dass sie inzwischen woandershin gegangen sind.« Verna entfuhr ein ungeduldiger Seufzer. »Mit dem Herumirren in diesen menschenleeren Fluren verschwenden wir nur wertvolle Zeit.«

Während alles wartete, ging Cara ein Stück weit in den Flur hinein. Als sie zurückkehrte, stemmte sie erneut die Fäuste in die Hüften.

»Irgendwas stimmt hier unten nicht.«

Nathan, der, ohne seine Absicht kundzutun, alleine ein Stück vorausgegangen war, sah sich zu ihnen um, und zum ersten Mal hatte sein Blick etwas Fragendes. »Etwas stimmt nicht? Was meint Ihr damit?«

»Weiß ich auch nicht«, gestand Cara. »Ich kann es nicht genau benennen, aber irgendwas hier unten fühlt sich nicht richtig an.«

Verna breitete Verständnis suchend die Hände aus. »Meint Ihr vielleicht irgendeine Art... magischer Essenz?«

»Nein.« Sie wies den bloßen Gedanken von sich. »Nichts dergleichen.«

Sie stützte die Hand wieder auf ihre rotverhüllte Hüfte. »Trotzdem scheint hier unten irgendwas nicht zu stimmen - ich weiß zwar nicht was, und doch ist es so.«

Verna blickte sich um. »Glaubt Ihr, dass etwas fehlt?« Sie wies nach vorne, in den leeren Flur. »Zierrat, Möbel, irgendwas Derartiges?«

»Nein. Soweit ich weiß, hat es in den meisten Fluren hier unten so was nie gegeben. Allerdings bin ich nicht oft hier gewesen - und auch sonst niemand.

Ab und zu hat Darken Rahl das Grabmal seines Vaters aufgesucht, aber soweit ich weiß, hat er sich für die anderen nicht interessiert. Der Bereich hier unten ist privat, außerdem hat er ihn zur Sperrzone erklärt. Wenn er das Grab seines Vaters aufsuchte, ließ er sich gewöhnlich von seiner Leibgarde begleiten, nicht von den Mord-Sith, deshalb bin ich mit dem Ort nicht sonderlich vertraut.«

»Vielleicht ist es ja nur das«, schlug Verna vor, »ein gewisses, durch Unvertrautheit ausgelöstes Unbehagen.«

»Na ja, könnte sein.« Die Verärgerung, es zugeben zu müssen, ließ sie den Mund verziehen.

Schweigend dachten alle darüber nach, wie man weiter vorgehen sollte. Schließlich war nicht völlig auszuschließen, dass die beiden verschollenen Frauen plötzlich auftauchten und sich wunderten, was die ganze Aufregung überhaupt sollte.

»Sagtet Ihr nicht eben, Ann und Nicci hätten alleine sein wollen, um sich ungestört unterhalten zu können?«, fragte Adie. »Vielleicht haben sie genau das getan.«

»Die ganze Nacht?«, meinte Verna. »Das kann ich mir nicht vorstellen, die beiden haben doch kaum Gemeinsamkeiten, waren nicht befreundet. Beim gütigen Schöpfer, ich glaube, sie mochten sich nicht mal besonders. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie die Nacht verplauderten.«

»Ich auch nicht«, sagte Cara.

Verna blickte zum Propheten. »Habt Ihr vielleicht eine Idee, worüber sich Ann mit Nicci unterhalten wollte?«

Sein langes weißes Haar streifte seine Schultern, als er den Kopf schüttelte. »Ann war, was Nicci anbetraf, von Natur aus skeptisch, immerhin hatte sie sich den Schwestern der Finsternis angeschlossen. Das hat ihr stets zu schaffen gemacht, und nicht ganz ohne Grund. Es war mehr als Verrat an der Sache der Schwestern des Lichts, es war ein persönlicher Verrat, einer am Palast. Vielleicht wollte sie sich Nicci alleine vornehmen, um sie zu einer Rückkehr zum Schöpfer zu überreden.«

»Das dürfte ein kurzes Gespräch gewesen sein«, meinte Cara.

»Vermutlich«, räumte Nathan ein und kratzte sich nachdenklich den Nasenrücken. »Wie ich Ann kenne, könnte es etwas mit Richard zu tun gehabt haben.«

Caras blaue Augen wurden zu schmalen Schlitzen, als sie den Propheten musterte. »Und was?«

Nathan zuckte die Achseln. »Das kann ich auch nicht mit Gewissheit sagen.«

Caras Stirn furchte sich noch tiefer. »Von Gewissheit war auch nicht die Rede.«

Es schien ihm ein wenig zu widerstreben, darüber zu sprechen, schließlich tat er es doch. »Ann sprach mitunter davon, Nicci könnte ihn womöglich bevormunden.«

Nun legte auch Verna die Stirn in Falten. »Ihn bevormunden? Inwiefern?«

»Ihr kennt doch Ann.« Nathan strich seine weiße Hemdenbrust glatt.

»Immer glaubt sie, ihre Finger im Spiel haben zu müssen. Des Öfteren erwähnte sie mir gegenüber, wie unwohl ihr dabei sei, einen so schwachen Einfluss auf Richard zu haben.«

»Wieso glaubt sie, einen ›Einfluss‹ auf Lord Rahl haben zu müssen?«

Cara ignorierte den Umstand, dass Nathan derzeit Lord Rahl war und nicht Richard.

Verna konnte nicht behaupten, dass ihr diese Vorstellung mehr behagte als Cara.

»Sie meinte, Richards künftige Handlungen stets kontrollieren zu müssen«, antwortete Nathan. »Sie musste immer alles berechnen und planen, es war ihr zuwider, Dinge dem Zufall zu überlassen.«

»Wohl wahr«, sage Verna. »Sie besaß ein ganzes Netzwerk von Spionen, die ihr halfen sicherzustellen, dass die Dinge ihren ordnungsgemäßen Lauf nahmen. Selbst zu den entlegensten Orten unterhielt sie Verbindungen, um die Dinge dem, was sie als ihren Lebenszweck betrachtete, entsprechend zu beeinflussen. Wichtiges überließ sie nie gern anderen, und schon gar nicht dem Zufall.«

Nathan tat einen schweren Seufzer. »Ann ist eine Frau von großer Bestimmtheit. Ihrer Meinung nach hat Nicci - jetzt, nachdem sie den Schwestern der Finsternis abgeschworen hat - gar keine andere Wahl, als sich voller Hingabe der Sache der Schwestern des Lichts zu widmen.«

»Welcher Sache? Wieso glaubt sie, Nicci müsse sich den Schwestern des Lichts widmen?«, wollte Cara wissen.

Nathan beugte sich leicht zu ihr. »Sie glaubt, dass wir Zauberer eine Schwester des Lichts benötigen, die uns in all unsrem Tun und Denken lenkt. Ihrer Meinung nach sollte man uns unter keinen Umständen selbständiges Denken erlauben.«

Vernas Blick wanderte den menschenleeren Flur entlang. »Schätze, früher dachte ich genauso. Aber das war, bevor Richard aufgetaucht ist.«

»Aber bedenkt bitte, Ihr habt sehr viel mehr Zeit mit ihm verbracht als Ann.« Nathan schüttelte traurig den Kopf. »Einerseits muss sie, darin sind wir uns wohl alle einig, zu demselben Schluss gekommen sein, dass Richard gezwungen war, selbständig zu handeln, andererseits scheint sie in letzter Zeit wieder zu ihren alten Verhaltensweisen, ihren alten Überzeugungen zurückzukehren. Ich glaube nicht, dass der Feuerkettenbann diese einmal erlernten Dinge bei Ann völlig gelöscht hat.«

Verna hatte dasselbe vermutet. »Darüber kann nur Ann selbst Auskunft geben. Klar scheint aber, dass der Feuerkettenbann uns alle betrifft. Bleibt er ungehindert, wird er vermutlich weiter in unserem Verstand um sich greifen und uns höchstwahrscheinlich unserer Fähigkeit zu vernünftigem Denken berauben. Das Problem ist, keiner von uns ist sich der Veränderung bewusst, wir fühlen uns alle wie immer. Was aber wahrscheinlich gar nicht stimmt. Niemand vermag zu sagen, wie sehr sich jeder Einzelne von uns bereits verändert hat. Jeder von uns könnte, ohne es zu wollen, unsere Sache vom Kurs abbringen.«

»Das alles könnt Ihr mit Ann diskutieren, sobald wir sie gefunden haben.« Cara war ungeduldig, wieder zum eigentlichen Thema zurückzukehren. »Hier unten sind sie nicht, also müssen wir unsere Suche ausweiten.«

»Vielleicht haben sie ihr Gespräch noch gar nicht beendet«, schlug Nathan vor. »Vielleicht möchte Ann nicht gefunden werden, ehe sie Nicci nicht davon überzeugt hat, was sie tun muss.«

»Klingt, als könnte es eine Möglichkeit sein«, gab Verna ihm recht. Nathan nestelte am Saum seiner Kapuze. »Ich traue der Frau durchaus zu, dass sie sich heimlich mit Nicci davonstiehlt, um mit ihr allein zu sein und sie so lange zu drangsalieren, bis sie genauso denkt wie sie.«

Cara machte eine wegwerfende Handbewegung. »Niccis Ziel ist es, Richard zu helfen, nicht Ann. Bei so was würde sie nicht mitspielen, und zwingen könnte Ann sie nicht - immerhin weiß sie mit subtraktiver Magie umzugehen.«

»Der Meinung bin ich auch«, sagte Verna. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass die beiden sich so lange von hier entfernen, ohne uns zu sagen, wo sie stecken.«

Adie wandte sich herum zu Verna. »Warum fragt Ihr sie nicht einfach?«

Verna musterte die alte Hexenmeisterin mir gerunzelter Stirn. »Ihr meint, ich soll das Reisebuch benutzen?«

Adie nickte einmal knapp und entschieden. »Ja. Fragt sie.«

Verna war skeptisch. »Hier im Palast ist es wenig wahrscheinlich, dass sie wegen einer Nachricht von mir in ihr Reisebuch schaut.«

»Vielleicht befindet sie sich ja gar nicht im Palast. Vielleicht mussten die beiden aus einem unerwartet wichtigen Grund von hier fort. Vielleicht hat sie Euch im Reisebuch bereits eine Nachricht hinterlassen.«

»Wie in aller Welt sollten die beiden den Palast verlassen? Wir sind umzingelt von einer Armee der Imperialen Ordnung.«

Adie zuckte die Achseln. »Unmöglich wäre es nicht. Ich sehe mit meiner Gabe, nicht mit meinen Augen. Gestern Abend war es stockfinster. Vielleicht mussten sie sich aus irgendeinem Grund im Dunkeln fortschleichen, vielleicht war es wichtig, und sie hatten keine Zeit, uns Bescheid zu sagen.«

»Das könntet Ihr?«, fragte Cara. »Ihr könntet im Dunkeln dort hinausgehen und Euch einen Weg durch die feindlichen Linien bahnen?«

»Aber natürlich.«

Verna blätterte bereits in ihrem Reisebuch. Wie erwartet, war es vollkommen leer. »Hier ist keine Nachricht zu sehen.« Sie schob das schmale Büchlein wieder hinter ihren Gürtel. »Aber ich werde Euren Vorschlag beherzigen und Ann eine Nachricht schreiben. Vielleicht schaut sie ja hinein und antwortet mir.«

Mit einem kunstvollen Schwung seines Umhangs setzte sich Nathan wieder in Bewegung. »Ehe wir uns anderswo umsehen, möchte ich noch einmal einen Blick in das Grabmal werfen.«

»Lasst einen Posten hier oben zurück«, rief Cara den Soldaten zu. »Der Rest kommt mit uns.«

Nathan, der bereits ein gutes Stück voraus war, bog in einen Treppenschacht ein. Die anderen folgten. Ihre Schritte hallten durch den Flur, als sie ihn hastig einzuholen versuchten. Nathan, Cara, Adie, Verna und die die Nachhut bildenden Soldaten stiegen hinunter auf die nächste Ebene.

Dort bestanden die Wände nicht aus Marmor, sondern aus Steinquadern, die an manchen Stellen von dem seit Jahrhunderten durchsickernden Wasser fleckig waren. An diesen Sickerstellen hatten sich gelbliche Kristallformationen gebildet, die den Stein aussehen ließen, als schmelze er.

Kurz darauf trafen sie auf Gestein, das tatsächlich geschmolzen war. Vor dem Eingang zu Panis Rahls Grabmal blieb Nathan stehen und starrte mit grimmiger Miene vorbei an dem geschmolzenen Gestein in die Grabstätte. Jetzt war er schon zum vierten Mal hierher zurückgekehrt, um einen Blick in das Grab zu werfen, und auch diesmal sah es nicht anders aus als bei seinen vorherigen Besuchen.

Welche Türen dieses Grabgewölbe einst gesichert haben mochten, sie waren durch ein weißliches Gestein ersetzt worden, das die große Grabkammer verschließen sollte. Die Arbeiten schienen in großer Eile ausgeführt worden zu sein, allerdings ohne Erfolg. Sie hatten die seltsamen Zustände, die Panis Rahls Grabstätte heimsuchten, nicht verhindern können.

Drinnen steckten siebenundfünfzig erkaltete Fackeln in ihren verzierten Goldhalterungen. Nathan streckte eine Hand vor und entzündete mehrere von ihnen mithilfe von Magie. Als sie aufloderten, erwachten die Seitenwände der Grabkammer flackernd zum Leben, in einem Licht, das von dem polierten Granit des überwölbten Raums zurückgeworfen wurde. Aus der Anzahl der Fackeln schloss Verna, dass Panis Rahl vermutlich im Alter von siebenundfünfzig Jahren verstorben war. Ein niedriger Pfeiler in der Mitte der höhlenartigen Kammer stützte den eigentlichen Sarg, so dass es aussah, als schwebte er über dem weißen Marmorfußboden. Der goldverkleidete Sarg schimmerte matt im zuckenden warmen Schein der vier Fackeln. Angesichts der Verkleidung aus poliertem kristallinem Granit, die Seitenwände und Kuppel des Gewölbes bedeckte, vermutete Verna, dass der Sarg, sobald alle Fackeln im Raum entzündet waren, scheinbar losgelöst in der Mitte des Raumes schwebend, in güldener Pracht erglühte.

In die Seitenwände waren Worte in der alten Sprache Hoch-D’Haran gemeißelt, während rings um den Raum ein in den Granit unterhalb der Fackeln und Goldvasen gemeißelter Fries aus Worten in derselben, nahezu vergessenen Sprache lief. Die tief eingekerbten Buchstaben schimmerten im Schein der Fackeln, fast so, als wären sie von innen beleuchtet.

Was immer das weiße, einst den Eingang versiegelnde Gestein zum Schmelzen gebracht hatte, begann nun auch auf die eigentliche Kam mer überzugreifen, wenn auch nicht im selben Ausmaß. Verna vermutete, dass das weiße Gestein, das man zum Zumauern des Eingangs verwendet hatte, nur ein Notbehelf gewesen war, eine Opfersubstanz, bewusst ausgesucht, um die unsichtbare Kraft, die für die Probleme verantwortlich war, anzusaugen und in sich aufzunehmen. Jetzt, da das weiße Gestein nahezu vollständig weggeschmolzen war, griffen diese Kräfte auf die Kammer selbst über.

Die Steinplatten an Wand und Boden waren weder geschmolzen, noch wiesen sie Risse auf, allerdings hatten sie sich zu verziehen begonnen, so als wären sie großer Hitze oder Druck ausgesetzt gewesen. Die Fugen zwischen Decke und Seitenwänden draußen auf dem Gang hatten sich unter dem Druck der Verformung im Innern der Kammer bereits geweitet. Was immer dies hervorgerufen hatte, es war offensichtlich, dass es nicht an einer fehlerhaften Konstruktion lag, sondern an irgendwelchen von außen einwirkenden Kräften.

Nicci hatte das Grab noch einmal aufsuchen wollen, weil sie den Grund für dieses Schmelzen zu kennen glaubte. Leider hatte sie ihren Verdacht nicht näher begründet, noch wies irgendetwas darauf hin, dass sie und Ann die Grabkammer überhaupt betreten hatten.

Verna war erpicht darauf, die beiden Frauen zu finden, damit das Rätsel gelöst werden konnte. Sie selbst hatte keine Ahnung, was mit dem Grab von Richards Großvater nicht in Ordnung sein könnte, oder wie sehr sich dieser Zustand noch verschlimmern sollte, aber etwas Angenehmes würde es wohl kaum sein. Zudem war sie der Meinung, dass ihnen für die Lösung des Rätsels - für welchen Teil auch immer - nur noch wenig Zeit blieb.

»Lord Rahl«, rief eine Stimme.

Alle drehten sich um. Unweit von ihnen war ein Bote stehen geblieben, der, wie alle seiner Zunft, mit einem weißen, am Hals und auf der Vorderseite mit einem aus ineinander verschlungenen violetten Ranken bestehenden Saum besetzten Gewand bekleidet war.

»Was gibt es?«, fragte Nathan.

Verna musste daran denken, dass sie sich wohl nie würde daran gewöhnen können, die Leute Nathan als »Lord Rahl« bezeichnen zu hören.

Der Mann machte eine knappe Verbeugung. »Eine Abordnung der Imperialen Ordnung wartet auf der anderen Seite der Zugbrücke.«

Nathan machte ein überraschtes Gesicht. »Was wollen sie?« »Den Lord Rahl sprechen.«

Nathan sah kurz zu Cara und dann zu Verna. Die beiden waren ebenso erstaunt wie er.

»Es könnte ein Täuschungsmanöver sein«, gab Adie zu bedenken.

»Oder eine Falle«, fügte Cara hinzu.

Nathan verzog säuerlich das Gesicht. »Was immer es ist, ich denke, ich sollte es mir ansehen.« »Ich gehe mit«, sagte Cara. »Ich auch«, meinte Verna.

»Wir werden alle zusammen gehen«, bestimmte Nathan und machte sich auf den Weg.

Verna und die kleine Gruppe in ihrer Begleitung folgten Nathan durch den prunkvollen Eingang des Palasts des Volkes in das strahlend helle Spätnachmittagslicht. Vor ihnen fielen die langen Schatten der aufragenden Säulen über die breite Treppe. In der Ferne, jenseits des weitläufigen Geländes, erhob sich am Rande des Hochplateaus die mächtige Außenmauer, auf deren Wehrgang, zwischen den mit Zinnen bewehrten Befestigungen, Soldaten patrouillierten.

Es war ein weiter Weg von den Grabstätten tief im Innern des Palasts, und alle waren außer Atem. Verna schützte ihre Augen mit vorgehaltener Hand, als sie im Schlepp des langbeinigen Propheten die breite Freitreppe hinunterstiegen. Gardisten auf jedem der ausgedehnten Absätze salutierten dem Lord Rahl mit einem Faustschlag auf ihr Herz, und auch der breite Geländestreifen, der zur fernen Außenmauer führte, wurde von zahlreichen Soldaten überwacht.

Die Treppe endete in einem breiten Bereich aus blauem Sandstein, durch den sie zu einer von hohen Zypressen gesäumten Straße gelangten, die sich an der Seite heraufwand, wo sich die Stallungen und Kutschen befanden.

Jenseits des Tores in der massiven Außenmauer führte die hier nicht mehr ganz so prachtvolle Straße in einer Abfolge von Spitzkehren an der jähen Seitenwand des Hochplateaus nach unten. Jede Kehre gewährte der Gruppe einen ungehinderten Ausblick auf die sich tief unten ausbreitende Streitmacht der Imperialen Ordnung.

Die Zugbrücke wurde von Hunderten Soldaten der Ersten Rotte bewacht, hervorragend ausgebildeten, schwer bewaffneten Kriegern, deren Aufgabe es war, niemanden die Straße hinaufzulassen, der den Palast anzugreifen beabsichtigte. Die Chancen dafür waren ohnehin gering, denn die Straße war viel zu schmal, als dass man einen sinnvollen Angriff auf die Beine hätte stellen können. Auf diesem eng begrenzten Raum reichte ein gutes Dutzend guter Krieger, um eine ganze Armee in Schach zu halten. Darüber hinaus war die Zugbrücke hochgezogen, und der jähe Abhang schwindelerregend, dessen Spannweite zu groß war für Enterleitern oder mit Widerhaken versehene Taue. War die Brücke nicht heruntergelassen, konnte niemand den Abgrund überwinden, um sich dem Palast zu nähern.

Jenseits der Brücke wartete eine kleine Abordnung, Boten, nach ihrer schlichten Kleidung zu urteilen. Verna konnte ein paar leicht bewaffnete Soldaten ausmachen, die jedoch weit im Hintergrund blieben, um jeden Anschein von Bedrohung zu vermeiden.

Nathan, der sein Gewand trotz der kühlen Witterung über seine Schulter geknüpft hatte, blieb mit gespreizten Beinen und in die Hüfte gestemmten Händen am Rand des Abgrunds stehen. Er bot einen eindrucksvollen Anblick.

»Ich bin Lord Rahl«, verkündete er der Gruppe jenseits des Abgrunds.

»Was wollt Ihr?«

Einer der Männer, ein schlanker Bursche in einem schlichten Waffenrock aus dunkel eingefärbtem Leder, wechselte einen Blick mit seinen Kameraden und trat dann ein Stück näher an seinen Rand des Abgrunds heran.

»Seine Exzellenz, Kaiser Jagang, schickt mich mit einer Botschaft für das D’Haranische Volk.«

Nathan sah sich zu den anderen um. »Nun, ich bin Lord Rahl, also spreche ich für mein Volk. Wie lautet diese Botschaft?«

Verna schob sich neben den Propheten.

Der Bote wirkte mit jedem Moment ärgerlicher. »Ihr seid nicht Lord Rahl.«

Nathan musterte ihn mit dem finsteren Blick der Rahls. »Möchtet Ihr, dass ich einen Wind herbeizaubere, der Euch von der Straße fegt? Würde das die Frage zu Eurer Zufriedenheit klären?«

Die Männer auf der anderen Seite warfen verstohlene Blicke hinunter in den Abgrund.

»Wir hatten lediglich jemand anderen erwartet«, erwiderte der Bote.

»Nun, ich bin Lord Rahl, also werdet Ihr mit mir vorliebnehmen müssen. Wenn Ihr etwas zu sagen habt, sprecht, andernfalls habe ich zu tun. Wir werden auf einem Bankett erwartet.«

Zu guter Letzt deutete er eine Verbeugung an. »Kaiser Jagang erklärt sich bereit, den Bewohnern des Palasts des Volkes ein großzügiges Angebot zu unterbreiten.«

»Was denn für ein Angebot?«

»Seine Exzellenz hat nicht den Wunsch, den Palast oder seine Bewohner zu vernichten. Ergebt Euch kampflos, und man wird sie am Leben lassen. Weigert Ihr Euch zu kapitulieren, wird jeder einzelne von ihnen eines langsamen und qualvollen Todes sterben, und ihre Leichen werden von den Mauern in die Ebene geschleudert werden, um den Geiern als Fraß zu dienen.«

»Zaubererfeuer«, bemerkte Cara mit kaum hörbarer Stimme. Die Stirn gerunzelt, sah Nathan über seine Schulter. »Was?«

»Hier funktioniert Eure Kraft. Ihre dagegen, sofern sie überhaupt mit der Gabe gesegnet sind, wird in dieser Höhe nutzlos sein, und ihre Schilde somit wenig wirkungsvoll. Ihr könntet sie von hier aus alle miteinander zu Asche verbrennen.«

Mit großer Geste wandte sich Nathan an die Männer drüben auf der anderen Seite. »Würdet Ihr mich einen Moment entschuldigen?«

Mit einer Verbeugung gewährte ihm der Mann die Bitte. Nathan führte Cara und Verna ein Stück zurück die Straße hinauf, wo Adie, mehrere andere Mord-Sith und ihre soldatische Eskorte warteten.

»Ich bin der gleichen Meinung wie Cara«, kam Verna dem Propheten zuvor. »Gebt ihnen unsere Antwort auf die einzige Weise, die man bei der Imperialen Ordnung versteht.«

Nathans buschige Brauen über seinen tiefblauen Augen zogen sich zusammen. »Das halte ich für keine gute Idee.«

Cara verschränkte die Arme. »Wieso nicht?«

»Vermutlich beobachtet Jagang unsere Reaktion durch die Augen eines dieser Männer«, sagte Verna. »Ich gebe Cara recht. Wir müssen ihm Stärke zeigen.«

Nathan runzelte die Stirn. »Ihr überrascht mich, Verna.« Mit einem höflichen Lächeln setzte er hinzu: »Ihr dagegen weniger, meine Liebe.«

»Und was überrascht Euch so?«, wollte Verna wissen.

»Nun, dass es genau das Falsche wäre. Normalerweise wartet Ihr nicht mit so schlechten Ratschlägen auf.«

Verna hielt sich zurück. Dies war nicht der rechte Augenblick, eine gereizte Lektion vom Stapel zu lassen - schon gar nicht vor den Augen Jagangs. Nur zu lebhaft erinnerte sie sich, dass sie den Propheten zeit ihres Lebens für verrückt gehalten hatte, und auch jetzt war sie nicht sicher, ob diese Einschätzung falsch gewesen war. Zudem wusste sie von früheren Erfahrungen, dass man ebenso gut der Sonne das Untergehen auszureden versuchen konnte.

Stattdessen sagte sie so leise, dass es auf der anderen Seite nicht zu verstehen war: »Ihr könnt eine Kapitulation unmöglich ernsthaft in Erwägung ziehen.«

Nathan setzte eine säuerliche Miene auf. »Selbstverständlich nicht. Was aber nicht bedeutet, dass wir sie wegen ihrer Anfrage umbringen sollten.«

»Und wieso nicht?« Caras Strafer schnellte in ihre Hand, als sie sich zu ihm beugte. »Ich für meinen Teil halte das für eine ausgezeichnete Idee.«

»Nun, ich nicht«, polterte Nathan. »Verbrenne ich sie, zeigt das Jagang, dass wir nicht beabsichtigen, sein Angebot in Betracht zu ziehen.«

Verna unterdrückte ihren Zorn. »Nun, das tun wir ja auch nicht.«

Nathan durchbohrte sie mit stechendem Blick. »Aber teilen wir ihnen das jetzt sofort mit, sind die Verhandlungen beendet.«

»Wir haben nicht die Absicht zu verhandeln«, erwiderte Verna mit wachsender Ungeduld.

»Aber das müssen wir ihnen nicht gerade auf die Nase binden«, gab Nathan übertrieben behutsam zurück.

Verna straffte sich, nestelte an ihrem Haar und nutzte die Gelegenheit, um einmal tief durchzuatmen. »Was hätte es für einen Sinn, ihnen zu verschweigen, dass wir keine Absicht haben, ihr Angebot ernsthaft in Erwägung zu ziehen?«

»Zeitgewinn«, erwiderte Nathan. »Fege ich sie jetzt gleich von der Straße, wäre das für Jagang Antwort genug, oder nicht? Ziehe ich sein Angebot jedoch in Erwägung, können wir die Verhandlungen hinauszögern.«

»Verhandlungen kommen nicht in Frage«, presste Verna zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

Cara achtete gar nicht auf sie. »Mit welchem Ziel? Warum sollten wir so etwas tun?«

Nathan zuckte die Achseln, als wären sie alle Dummköpfe, unfähig, das Offensichtliche zu erkennen. »Um es hinauszuzögern. Sie wissen, wie schwierig eine Eroberung des Palastes sein wird. Beim Bau ihrer Rampe wachsen die Schwierigkeiten mit jedem Fuß Höhengewinn ins Unermessliche, so dass er leicht noch den ganzen Winter über, vielleicht sogar länger, dauern kann. Die Aussicht, eine Armee dieser Größe in der Azrith-Ebene überwintern lassen zu müssen, kann Jagang unmöglich erfreuen. Sie sind fern der Heimat, fern jeglichen Nachschubs. Durch Hunger oder eine um sich greifende Krankheit könnte er die gesamte Armee verlieren, und wo stünde er dann?

Haben sie aber den Eindruck, wir ziehen eine Kapitulation in Betracht, setzen sie vielleicht darauf, den Palast auf diese Weise einzunehmen. Ihr Problem wäre gelöst. Glauben sie dagegen, dass sie uns nur durch eine vernichtende Niederlage vertreiben können, werden sie sich ganz auf die Möglichkeit konzentrieren. Warum sie also mit der Nase darauf stoßen?«

Verna verzog den Mund. »Das ist wahrscheinlich nicht ganz von der Hand zu weisen.« Als Nathan über seinen kleinen Triumph lächelte, setzte sie hinzu: »Ein wenig aber doch.«

»Mich überzeugt das überhaupt nicht«, meinte Cara.

Nathan breitete die Arme aus. »Warum sie abweisen, dadurch wäre nichts gewonnen. Wir sollten sie im Ungewissen lassen, ob wir mit dem Gedanken spielen, uns kampflos zu ergeben. Das ist schon oft genug vorgekommen, um es plausibel erscheinen zu lassen. Und solange sie auf unsere Kapitulation hoffen, wird es sie davon abhalten, unter Hochdruck an der Fertigstellung der Rampe zu arbeiten, um uns dann gewaltsam aus dem Palast zu treiben.«

»Ich muss zugeben«, meinte Cara, »es hat was für sich, Leute so lange hinzuhalten, bis sie schließlich auf eine ihnen genehme Antwort zu warten beginnen.«

Zu guter Letzt nickte auch Verna. »Schätze, fürs Erste kann es nicht schaden, sie im Unklaren zu lassen.«

Zufrieden rieb sich Nathan die Hände. »Dann werde ich ihnen jetzt mitteilen, dass wir uns ihr Angebot durch den Kopf gehen lassen.«

Verna fragte sich, ob Nathan womöglich noch einen anderen Grund dafür hatte, ob er tatsächlich mit dem Gedanken spielte, den Palast aufzugeben. Zwar gab sie sich keinerlei Illusionen hin, dass Jagang Wort halten und die Bewohner im Falle einer Kapitulation verschonen könnte, aber sie war nicht sicher, ob Nathan nicht still und heimlich seine eigenen Kapitulationsbedingungen aushandelte, die ihn auf Dauer zum Lord Rahl eines eroberten D’Hara unter der Herrschaft der Imperialen Ordnung machen würden.

Schließlich brauchte Jagang nach Beendigung des Krieges Statthalter, die in den gewaltigen eroberten Gebieten regierten. War Nathan tatsächlich zu einem solchen Verrat fähig?

Wie sehr hatte seine fast lebenslängliche Gefangenschaft - für kein schwereres Verbrechen als das, dessen die Schwestern des Lichts ihn für fähig hielten - seinen Groll anwachsen lassen? Spielte er womöglich mit dem Gedanken, sich zu rächen?

Hatten die Schwestern des Lichts mit ihrer gut gemeinten Behandlung eines Mannes, der ihnen nicht das Geringste angetan hatte, womöglich den Samen der Vernichtung gesät?

Als sie ihn lächelnd zum Rand des Abgrunds zurückgehen sah, fragte sie sich, ob der Prophet am Ende plante, sie alle den Wölfen vorzuwerfen.

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