41

Am Nordostufer, oberhalb des Flusses, ließ Rachel sich vom Pferd gleiten und packte die Zügel mit festem Griff, während sie sich umsah und nach irgendeiner Bewegung Ausschau hielt. Im Licht der frühen Dämmerung sahen die dunklen Kuppen der kahlen Hügel aus, als befände sie sich inmitten einer Herde schlummernder Ungeheuer.

Doch das wusste sie besser, es waren einfach nur Hügel. Trotzdem, es gab ganz reale Wesen, die nicht einfach nur harmlose Erzeugnisse ihrer Phantasie waren.

Die gespenstischen Kobolde waren real, sie waren ihr dicht auf den Fersen und hatten es auf sie abgesehen.

Oberhalb der Flussufer ragten die weißen Klippen zweier einander gegenüberliegender Zwillingshügel in die Höhe. Sumach, wegen der späten Jahreszeit bereits seines Blätterkleids beraubt, säumte den schmalen Pfad, auf dem sie vor Kälte zitternd stand. Der riesige Schlund der Höhle war ganz nah und schien dem offenen Maul eines Riesenungeheuers gleich nur darauf zu warten, sie zu verschlingen. Rachel band die Zügel an einem Sumachbaum fest, krabbelte dann auf allen vieren über den aus losem Erdreich und Geröll bestehenden Pfad auf den wartenden, dunklen Schlund zu und spähte hinein, um festzustellen, ob sich Königin Violet oder womöglich Sechs dort drinnen versteckte. Fast erwartete sie, Königin Violet würde hervorspringen und ihr eine Ohrfeige verpassen, nur um sie schon im nächsten Augenblick mit ihrer selbstgerechten Lache zu verhöhnen.

Doch die Höhle lag dunkel und verlassen da.

Die Finger ängstlich ineinanderverschlungen, suchte sie die runden Hügelkuppen noch einmal mit den Augen ab und hielt klopfenden Herzens Ausschau, ob sich dort irgendetwas rührte. Die gespenstischen Kobolde kamen immer näher. Sie hatten es auf sie abgesehen und würden sie bestimmt erwischen.

Im Innern der Höhle stieß sie auf die vertrauten, schon so oft gesehenen Zeichnungen. Zu Tausenden bedeckten sie jeden Zoll der Wand, auf der sich überall kleinere in den verfügbaren Platz zwischen den größeren drängten. Keine glich der anderen, und tatsächlich schienen die meisten nicht von ein und derselben Person gezeichnet worden zu sein. Einige waren so primitiv, als stammten sie von Kinderhand, andere dagegen waren detailreich und von bemerkenswerter Wirklichkeitstreue. Auch wenn sie diese Dinge nicht wirklich zu beurteilen vermochte, ihr kam es so vor, als verkörperten diese Zeichnungen etliche Generationen. Die unzähligen unterschiedlichen Stile, ihr ganz unterschiedlicher Perfektionsgrad, deuteten darauf hin, dass sie von Dutzenden und Aberdutzenden, vielleicht sogar von Aberhunderten von Künstlergenerationen stammten.

Auf allen Bildern waren Personen dargestellt, die ausnahmslos entweder verletzt, belästigt oder ausgehungert, vergiftet oder erstochen wurden, die mit zertrümmerten Gliedern am Fuß einer Klippe lagen, oder trauernd vor irgendwelchen Gräbern standen. Die Zeichnungen bereiteten ihr Albträume.

Sie ging in die Hocke und hielt die Hand an die Öllampen. Sie waren kalt, demnach war niemand hier gewesen. Einer kleinen, in die Höhlenwand geschlagenen Nische entnahm sie ein Feuerzeug und versuchte damit, am Docht der Lampe einen Funken zu erzeugen.

Nach mehreren Versuchen gelang es ihr, einen brauchbaren Funken zu schlagen, ohne allerdings am Docht eine Flamme zu entfachen. Zwischen den Versuchen blickte sie sich immer wieder um. Die Zeit lief ihr davon. Sie kamen immer näher. Bestimmt waren sie schon ganz nah. Rachel schüttelte die Lampe, um den Docht mit Öl zu tränken, schlug dann wie von Sinnen erneut Feuerstein und Stahl gegeneinander. Sie benötigte ein halbes Dutzend Versuche, dann endlich gelang es ihr zu ihrer großen Erleichterung, eine Flamme zu entzünden. Sie nahm die Lampe am Henkelgriff auf, erhob sich und starrte zum Schlund der Höhle hinaus, immer auf der Hut, ob sich dort irgendetwas bewegte, auf der Suche nach den gespenstischen Kobolden. Sehen konnte sie sie nicht, trotzdem wusste sie, sie waren auf dem Weg hierher. Sie glaubte sie schon draußen im Gestrüpp hören zu können, ihre Blicke bereits auf dem Körper zu spüren.

Die Lampe in der Hand, hastete sie ins Dunkel zurück, fort von den gespenstischen Kobolden und in Sicherheit ... hoffte sie zumindest. An jedem anderen Ort konnten sie sie erwischen. Es war ihre einzige Chance. Das Wissen um ihre Nähe versetzte sie in einen Zustand entsetzlicher Panik. Tränen stachen ihr in den Augen, als sie in die Höhle zurückrannte, vorbei an den Darstellungen gequälter Menschen. Es war ein weiter Weg zurück in das Dunkel bis zu jener Stelle, wo sie den einzigen Ort vermutete, an dem sie sich sicher fühlen konnte. Der Schein ihrer Lampe huschte über die Höhlenwand ringsum, beschien die auf die Wand gemalten Gesichter.

Hier, in der Tiefe der Höhle, war der Widerschein der Höhlenöffnung nur noch ein fernes, mattes Schimmern. Als sie, nicht nur vor Anstrengung, sondern auch aus Panik schwer atmend, auf allen vieren über einen vorspringenden Felsen krabbelte, konnte sie ihren eigenen Atem sehen. Sie hatte keine Ahnung, wie weit sie laufen musste, um wirklich in Sicherheit zu sein, sie wusste nur, dass die gespenstischen Kobolde hinter ihr her waren, und dass sie auf keinen Fall Halt machen durfte. Sie stieß auf eine Zeichnung, die ihr nur zu vertraut war, ebenjene Zeichnung, die sie Königin Violet unter Anleitung von Sechs hatte anfertigen sehen. Obwohl sein Name nie erwähnt worden war, wusste sie, dass sie Richard darstellte. Wegen der unzähligen Beifügungen rings um die zentrale Figur war es die ausgedehnteste Zeichnung in der ganzen Höhle - und gleichzeitig die vielgestaltigste.

Im Gegensatz zu allen anderen war sie in bunter Kreide ausgeführt worden. Rachel erinnerte sich noch gut, wie viel Zeit Königin Violet - als sie tatsächlich Königin war - darauf verwendet hatte. Sie erinnerte sich an die peinlich genauen Anweisungen von Sechs, an die mit großer Sorgfalt ausgeführten Abfolgen von Linien, Winkeln und Elementen. Sie erinnerte sich, dass sie stundenlang hatte dabeistehen und zuhören müssen, wie Sechs Violet das Wie und Warum jedes einzelnen Striches erläuterte, ehe diese die Kreide auch nur ansetzen durfte.

Einen Moment lang betrachtete sie die Zeichnung Richards und dachte, dass es wohl eines der schlimmsten, widerlichsten Machwerke war, das ihr je unter die Augen gekommen war.

Doch dann trieb die Angst sie weiter. Hektisch krabbelte sie über Felsen, vorbei an Felsvorsprüngen, immer tiefer hinein in das Dunkel. Wann immer Sechs Violet im Zeichnen unterwiesen hatte oder sie etwas Neues hatten zeichnen wollen, hatten sie tiefer und tiefer in die Höhle vordringen müssen, um noch eine jungfräuliche Stelle auf der Wand zu finden. Die Zeichnung von Richard, die letzte gemeinsam ausgeführte Zeichnung, war ihr nur zu gut in Erinnerung geblieben, daher wusste sie, dass die dahinterliegenden Höhlenwände noch unberührt waren. Als sie an dem bunten Geflecht aus Linien und Symbolen vorbei kam, das sich strahlenförmig rings um Richard ausbreitete, bemerkte sie erschrocken etwas, das ihr zuvor nie aufgefallen war. Sie blieb stehen. Dort war eine neue Zeichnung.

Sie machte ein erstauntes Gesicht. Es war eine Zeichnung von ihr! Und rings um ihr Bildnis wirbelten irgendwelche Wesen. Rachel erkannte die Symbole wieder, die sie nach innen, in ihre Richtung, drängten. Die grauenhaften Biester ähnelten aus Schatten und Rauch bestehenden Gespenstern, nur dass sie Zähne besaßen, scharfe Zähne, dafür geschaffen, zuzuschnappen und zu reißen.

Sofort wusste Rachel ohne jeden Zweifel, um was es sich handelte: Es waren die gespenstischen Kobolde.

Versteinert starrte sie auf das Bildnis dieser entsetzlichen todbringenden Wesen, die mittels boshafter, dort auf die Höhlenwände gemalter Banne auf sie aufmerksam gemacht worden waren.

Von den endlosen Lektionen, die sie Sechs Violet hatte erteilen hören, wusste sie, was die meisten von ihnen darstellten. Sechs hatte sie als »finale Elemente« bezeichnet. Ihre Aufgabe war es, die Hauptakteure des Banns zu eliminieren, nachdem die Ereignisabfolge beendet war, die durch die Zeichnung hatte ausgelöst werden sollen. Sie begriff den Zweck des Bildes, und was es mit alldem auf sich hatte: sobald die gespenstischen Kobolde sie aufgegriffen hätten, würden sie sich in Nichts auflösen.

In der Zeichnung war sie auf allen Seiten von diesen albtraumhaften Wesen umgeben, die ihr unaufhaltsam näher kamen. In diesem Moment wurde ihr klar, dass es kein Entrinnen gab. Die vermeintliche Zuflucht war nichts weiter als das Zentrum, in das sie sie gescheucht hatten - eine Falle, bei der nicht die geringste Aussicht bestand, ihr jemals wieder zu entkommen.

Ein Geräusch ließ sie zum matten, durch den Höhleneingang einfallenden Lichtschimmer hinüberblicken, und zum allerersten Mal sah sie die wirbelnden Schatten. Sie waren bereits in die Höhle eingedrungen und rotteten sich zusammen, genau wie in der Zeichnung dargestellt. Nun würden sie sie holen.

Eine entsetzliche, lähmende Angst befiel sie, als ihr klar wurde, dass sie nicht mehr aus der Höhle herauskonnte, sondern nur noch tiefer hinein. Ein Blick auf die Zeichnung sagte ihr allerdings, dass sie das mitnichten retten würde - denn auch dort wimmelte es nur so von gespenstischen Kobolden. Sie saß in der Falle. Sie befand sich im Mittelpunkt eines Banns, dessen Zweck es war, sie immer enger zu umschließen.

»Gefällt es dir?«, rief eine Stimme.

Mit einem erschrockenen Keuchen wirbelte Rachel herum zu der durch das Dunkel hallenden Stimme. »Königin Violet.«

Matt beleuchtet vom Schein einer Öllampe, feixte ihr aus dem Dunkel ein Gesicht entgegen. Offenbar hatte sich Violet nicht entgehen lassen wollen, wie die gespenstischen Kobolde sich über sie hermachten, und war gekommen, um das Ergebnis ihrer Machenschaften zu verfolgen.

»Ich dachte, vielleicht würde es dich interessieren, woher sie kommen, ehe sie dich in Stücke reißen. Ich wollte, dass du weißt, wer eine alte Rechnung mit dir begleichen will.« Sie wies zur Wand hinüber. »Also habe ich die Zeichnung so angelegt, dass sie dich am Ende hierher führen würde, wo du in der Falle sitzen würdest.« Sie beugte sich ein wenig aus dem Dunkel vor. »Und sie dich endlich erwischen würden.«

Rachel machte sich nicht die Mühe, sie nach dem Grund zu fragen. Den kannte sie. Violet gab ihr die Schuld an allem, was ihr jemals widerfahren war. Sie übernahm nie die Verantwortung für die Probleme, die sie sich selbst eingebrockt hatte. Die Schuld gab sie stets anderen, wie Rachel.

»Wo ist Sechs?«

Violet machte eine abfällige Handbewegung. »Wer weiß? Mir verrät sie ihre Pläne nicht.« Violets Blick wurde finster wie die Höhle selbst. »Sie ist jetzt Königin. Kein Mensch hört mehr auf mich, stattdessen springen alle, wenn sie nur den Mund aufmacht. Sie reden sie mit Königin an, Königin Sechs.«

»Und Ihr?«

»Mich duldet sie nur, damit ich für sie zeichne.« Sie stieß einen Finger in Rachels Richtung. »Das ist alles deine Schuld. Alles ist nur deinetwegen passiert.«

Violets finstere Miene verzog sich zu jenem Lächeln, das Rachel stets einen eiskalten Schauder über den Rücken gejagt hatte. »Aber jetzt wirst du für deine Unbotmäßigkeit, für deine Bosheiten bezahlen.«

Ihr Lächeln wurde breiter. »Ich habe sie so angelegt, dass sie dir das Fleisch von den Knochen reißen werden.« Rachel schluckte entsetzt. Sie überlegte, ob es vielleicht möglich wäre, sich gewaltsam an der selbstgerecht feixenden Violet vorbeizudrücken. Nur, was würde ihr das nützen? In wenigen Augenblicken würden sie auch dort, aus dem tieferen Dunkel, hervorkommen.

Von Chase hatte sie gelernt, niemals aufzugeben und um sein Leben zu kämpfen, und genau dieser Augenblick war jetzt gekommen. Nur wie sollte sie das anstellen? Wie konnte sie sich gegen solche Kreaturen wehren? Sie musste sich etwas einfallen lassen, unbedingt. Sie blickte sich um. Nirgendwo war ein Stück Kreide zu sehen. Ein schrilles Heulen ließ sie erschrocken aufblicken. Dann sah sie die gespenstischen Kobolde, einem wabernden, wirbelnden Rauch gleich, der Länge nach durch die Höhle heranschwirren. Sie kamen immer näher. Sogar die kleinen weißen Zähne in ihren aufgerissenen Mäulern konnte sie erkennen - Zähne, wie geschaffen, ihr das Fleisch von den Knochen zu reißen.

»Ich will, dass du sagst, es tut dir leid.«

Verständnislos blinzelnd wandte sie sich wieder zu Violet herum.

»Was?«

»Sag, dass es dir leidtut. Geh auf ein Knie runter und erkläre deiner Königin, es tut dir leid, dass du sie verraten hast. Vielleicht helfe ich dir dann.«

In ihrer Verzweiflung klammerte sie sich an jede Hoffnung. Augenblicklich ließ sie sich auf ein Knie fallen und senkte ihr Haupt -und benutzte diesen winzigen Augenblick, um nachzudenken.

»Es tut mir leid.«

»Es tut dir leid ... und weiter?«

»Es tut mir leid, Königin Violet.«

»So ist es recht. Ich bin deine Königin. Solange Sechs fort ist, bin ich hier die Königin. Die Königin! Sag es!« »Ihr seid die Königin, Königin Violet.«

Ein zufriedenes Lächeln ging über Violets Gesicht. »Gut. Ich möchte, dass du dich daran erinnerst, wenn du stirbst.«

Rachel blickte auf. »Aber Ihr habt doch gesagt, Ihr würdet mir helfen.«

Lachend zog sich Königin Violet tiefer in das Dunkel zurück. »Ich sagte lediglich, vielleicht. Aber jetzt habe ich entschieden, dass du meine Hilfe nicht verdienst. Du bist ein Niemand.«

Hinter ihrem Rücken näherten sich leise, schnarrende Knurrlaute. Rachel überkam eine solche Angst, dass sie in Ohnmacht zu fallen glaubte.

Sie langte in die Tasche ihres Kleides und fühlte dort einen Gegenstand – ebenjenen Gegenstand, den ihre Mutter ihr gegeben hatte. Sie holte ihn hervor und starrte im Schein der Lampe darauf. Jetzt wusste sie, was es war.

Ein Stück Kreide!

Als ihre Mutter es ihr in die Hand gedrückt hatte, hatte sie es so eilig gehabt, vor den gespenstischen Kobolden zu fliehen, dass sie es gar nicht richtig angesehen hatte.

Und dann hatte ihre Mutter hinzugefügt, sobald der Augenblick gekommen wäre, würde sie wissen, was damit zu tun sei. Rachel spähte in das Dunkel hinter ihr und konnte den Hinterkopf Violets erkennen, die sich immer tiefer ins Höhleninnere zurückzog, fort von dem gewaltsamen Tod, der sie, Rachel, zweifellos jeden Moment ereilen würde.

Dann blickte sie in die andere Richtung und sah die knurrenden Wesen mit ihren weit geöffneten Mäulern und den unablässig schnappenden, rasiermesserscharfen Zähnen durch die Luft schwirren. Sie kamen immer näher.

Augenblicklich trat sie vor die Zeichnung, mit der Violet ihr diese Falle gestellt hatte, und fügte mit der Kreide rasch einige Linien und Schraffierungen hinzu, so dass die dargestellte Gestalt kräftiger und fülliger wurde. Das Gesicht gestaltete sie dicklicher, gab ihm dann einen hasserfüllten Ausdruck. Die Kreide flog nur so über das Gestein, als sie ihr ein Rüschenkleid verpasste, wie Violet es gerne anzog. Schließlich fiel ihr wieder ein, was Violet gern im Schmuckzimmer trug, und so zeichnete sie ihr eine Krone auf den Kopf, womit die Darstellung endgültig von ihr zu Königin Violet wechselte.

Wenn Violet behauptete, Königin zu sein, so hatte Rachel sie soeben gekrönt und ihr gegeben, wonach es sie verlangte.

Plötzlich vernahm sie aus dem Dunkel einen Schrei.

Als sie die Wesen aus der anderen Richtung heranschwirren sah, presste sie ihren Rücken gegen die Felswand. Zappelnd und wirbelnd schwirrten sie vorbei und zogen sich in das Dunkel zurück.

Die Augen weit aufgerissen, hielt Rachel den Atem an. Dann vernahm sie pochenden Herzens einen hysterischen Aufschrei Violets.

»Was hast du getan?!«, schallte es ihr aus dem Dunkel entgegen. Als Violet zurückgerannt kam, auf das Licht zu, konnte Rachel sie durch die gespenstischen, in dem hinteren Teil der Höhle umherschwirrenden Wesen hindurch sehen, die sich auf sie stürzten. Dann sah Violet sie ebenfalls kommen und riss die Augen auf.

»Was hast du getan?!«, kreischte sie erneut.

Rachel verzichtete darauf, ihr zu antworten. Sie war viel zu verängstigt und verfolgte stattdessen das Geschehen.

»Hilf mir, Rachel! Ich hab dich doch immer gemocht! Wie kannst du mir nur so was antun?!«

»Das ist allein Euer Werk, Königin Violet!«

»Ich bin immer gütig und liebevoll gewesen!«

»Gütig und liebevoll?« Rachel mochte kaum ihren Ohren trauen. »Euer ganzes Leben bestand nur aus Hass, Königin Violet!«

»Gehasst hab ich nur die, die mir Unrecht getan haben, die Bösen und Selbstsüchtigen. Ich hab immer nur getan, was für mein Volk das Beste war. Ich hab dich anständig behandelt, dir zu essen gegeben und dir Unterschlupf gewährt. Ich hab dir mehr gegeben, als einem Niemand wie dir ohne meine Hilfe je vergönnt gewesen wäre. Hilf mir, Rachel. Ich war doch immer großzügig zu dir. Hilf mir, und ich werde dich reich belohnen.«

»Ich will überleben, das ist mir Lohn genug.«

»Wie kannst du nur so grausam sein, so voller Hass? Wie kannst du zulassen, dass einem anderen Menschen so was widerfährt?«

»Ihr habt die gespenstischen Kobolde doch selbst erschaffen.«

»Du hast mich verraten! Ich hasse dich! Ich hasse die Luft, die du atmest!«

Rachel nickte. »Ihr habt Euch entschieden, Violet. Der Hass war Euch stets willkommener als das Leben. Ihr seid in diese Höhle hinuntergestiegen, weil Ihr Euch für den Hass entschieden hattet - und damit habt Ihr Euch selbst verraten.«

Während die gespenstischen Kobolde Violet immer näher kamen, stimmten sie ein Stimmengeheul an, das sich in Rachels Vorstellung nur mit dem Kreischen der Toten in der Unterwelt vergleichen ließ. Kribbelnd überlief sie eine Gänsehaut.

Starr vor Angst, den Rücken gegen die steinerne Höhlenwand gepresst, verfolgte sie, wie die Zähne, die eigentlich ihr gegolten hatten, sich in die kreischende Königin Violet schlugen.

Erst wenn sie fertig und die Knochen vollkommen blank genagt wären, würde diese aus Hass geborene herbeigerufene Erscheinung ein Ende haben. Erst dann würden sie auf Nimmerwiedersehen verschwinden.

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