3

Kahlan lag in fast völliger Dunkelheit auf dem Fußboden und fand keinen Schlaf. Im Bett über ihr konnte sie Jagangs gleichmäßigen Atem hören. Eine einzelne Öllampe mit heruntergedrehtem Docht auf einer verzierten Holztruhe an der gegenüberliegenden Wand warf einen matten Lichtschein in das Dämmerlicht des kaiserlichen Privatgemachs. Das verbrennende Öl half, wenn auch nur in geringem Maße, die üblen Gerüche des Feldlagers zu überdecken: den Mief vom Ruß der Lagerfeuer, den Gestank von ranzigem Schweiß und fauligem Abfall, die Ausdünstungen der Latrinen, der Pferde und anderen Tiere sowie des Mistes, die sich zu einem einzigen, allgegenwärtigen Gestank vermischten. Ganz so, wie die grauenhafte Erinnerung an all die madenzerfressenen, verfaulenden Körper, die sie auf ihrem Weg gesehen hatte, unweigerlich den unvergesslichen, unverkennbaren Todesgeruch ins Gedächtnis rief, war es unmöglich, an das Feldlager der Imperialen Ordnung zu denken, ohne an den einzigartigen, alles durchdringenden Gestank erinnert zu werden, eine Empfindung, ebenso abstoßend und widerwärtig wie die Imperiale Ordnung selbst.

Seit ihrer Ankunft im Lager hatte sie es stets zu vermeiden versucht, allzu tief einzuatmen. In ihrer Erinnerung würde der Gestank auf ewig mit all dem Leid, dem Elend und dem Tod verbunden sein, mit dem die Imperiale Ordnung alles überzog, mit dem sie in Berührung kam. In der Welt des Lebens und unter denen, die diese Welt zu würdigen wussten, gab es für die Menschen, die an die Überzeugungen der Imperialen Ordnung glaubten, sie unterstützten und für sie kämpften, in ihren Augen keinen Platz.

Durch die zarten Schleier vor den Lüftungsschlitzen oben in den Zeltwänden konnte Kahlan die wild zuckenden Blitze sehen, die den Himmel im Westen aufleuchten ließen und von dem heraufziehenden Unwetter kündeten. Im Innern des kaiserlichen Zeltes mit seinen Vorhängen, Teppichen und gepolsterten Zwischenwänden war es in Anbetracht des niemals nachlassenden Lärms draußen im weitläufigen Feldlager vergleichsweise still, weswegen das Donnern kaum zu hören war, gelegentlich jedoch spürte sie seinen Widerhall im Boden. Jetzt, mit Beginn der kalten Witterung, würde der Regen das allgemeine Elend nur noch verschlimmern.

Trotz ihrer Müdigkeit ging ihr der Mann von vorhin nicht aus dem Sinn, jener Mann, der aus dem Käfig hervorgelugt hatte, als dieser durch das Lager rollte, der Mann mit den grauen Augen, der sie gesehen – tatsächlich gesehen - und ihren Namen gerufen hatte. Es war ein erhebender Moment für sie gewesen.

Es grenzte an ein Wunder, dass jemand sie gesehen hatte, denn Kahlan war für beinahe jeden unsichtbar. Unsichtbar traf es eigentlich nicht ganz, denn die Menschen sahen sie durchaus, nur vergaßen sie diesen Umstand fast augenblicklich wieder. Obwohl sie letztlich nicht unsichtbar war, hätte sie es ebenso gut sein können.

Das frostige Gefühl der Vergessenheit war Kahlan nur zu vertraut. Ebenjener Bann, der die Menschen sie Augenblicke nach dem Erblicken wieder vergessen ließ, hatte auch ihre Erinnerung an die eigene Vergangenheit gelöscht. Was immer ihr Leben vor dem Auftreten der Schwestern der Finsternis ausgemacht haben mochte, es war ihr entfallen.

Unter den Millionen von Soldaten, die sich über diese endlose, öde Ebene verteilten, hatten ihre Häscher nur eine Handvoll Soldaten ausfindig machen können, die sie sehen konnten - dreiundvierzig, um genau zu sein. Diese dreiundvierzig Männer standen nun zwischen ihr und der Freiheit - genau wie der Ring um ihren Hals, die Schwestern sowie Jagang selbst.

Kahlan hatte es sich zur Aufgabe gemacht, jeden dieser dreiundvierzig Männer genau kennenzulernen, sich ein Bild von seinen Stärken und Schwächen zu machen. Schweigend beobachtete sie sie und machte sich in Gedanken Notizen über jeden Einzelnen von ihnen. Sie alle besaßen bestimmte Eigenarten - eine bestimmte Art zu gehen oder die Umgebung wahrzunehmen, aufmerksam oder nachlässig zu sein, ihre Arbeit zu verrichten. Sie hatte alles nur Erdenkliche über ihre individuellen Eigenheiten in Erfahrung gebracht.

Nach Ansicht der Schwestern war eine Anomalie des von ihnen verwendeten Banns dafür verantwortlich, dass eine Handvoll Personen sie wahrzunehmen vermochte. Gut möglich, dass in der gewaltigen Armee der Imperialen Ordnung auch noch andere existierten, die sie sehen und sich an sie erinnern konnten, bislang jedoch hatte Jagang keine weiteren entdeckt. Diese dreiundvierzig Männer waren also die Einzigen, die als ihre Bewacher in Frage kamen.

Jagang selbst konnte sie natürlich ebenso gut sehen wie die Schwestern, die sie überhaupt erst mit diesem Bann verzaubert hatten. Zu ihrer großen Bestürzung hatte Jagang sie verschleppt, so dass es sie, wie Kahlan, ebenfalls in das erbärmliche Feldlager der Imperialen Ordnung verschlagen hatte. Außer ihnen und Jagang kannte sie keiner der wenigen, die sie zu sehen vermochten, wirklich - schon gar nicht aus ihrer Vergangenheit, an die sie selbst keine Erinnerung hatte. Anders besagter Mann im Käfig - er hatte sie eindeutig wiedererkannt. Da sie sich nicht erinnern konnte, ihm jemals begegnet zu sein, konnte dies nur bedeuten, dass er sie von früher kannte.

Sobald sie ihre Vergangenheit wiedergefunden hätte und wieder wüsste, wer sie war, würde ihre Qual, so hatte Jagang es ihr versprochen, erst richtig beginnen. Er machte sich einen Spaß daraus, ihr in lebhaften Farben zu schildern, was er mit ihr zu tun gedachte, wie er ihr Leben zu einer niemals endenden Tortur machen würde. Wegen des Fehlens jeglicher Erinnerungen an ihre Vergangenheit setzten ihr seine Racheversprechungen nicht ganz so zu, wie es ihm lieb gewesen wäre. Gleichwohl waren seine Versprechungen auch für sich genommen schlimm genug.

Wenn sich Jagang in seinen Racheversprechungen erging, betrachtete ihn Kahlan nur mit leerem Blick. Es war ihre Art, sich gefühlsmäßig gegen ihn abzuschirmen. Sie wollte ihm nicht die Genugtuung geben, Zeuge ihrer Gefühle, ihrer Angst zu werden. Ungeachtet der Folgen war sie stolz darauf, sich die Abscheu dieses Mannes verdient zu haben. Es gab ihr die Zuversicht, dass ihre Überzeugungen, was immer sie in der Vergangenheit getan haben mochte, sie nur zu einer aufrichtigen Gegnerin der Ziele der Imperialen Ordnung gemacht haben konnten. Wegen Jagangs scheußlicher Racheschwüre hatte Kahlan größte Angst, sich an ihre Vergangenheit zu erinnern. Doch jetzt, da sie die freimütigen Gefühle in den Augen dieses Gefangenen gesehen hatte, sehnte sie sich danach, alles über sich selbst in Erfahrung zu bringen. Seine freudige Reaktion bildete einen krassen Gegensatz zu der aller anderen ringsum, die für sie nur Abscheu und Verachtung empfanden. Sie musste unbedingt herausfinden, wer sie war, wer die Frau war, die sich die Wertschätzung dieses Mannes verdient hatte.

Gern hätte sie den Mann länger angesehen als nur diesen einen kurzen Augenblick. Sie hatte sich jedoch rasch abwenden müssen, denn wäre sie dabei ertappt worden, dass sie sich für einen Gefangenen interessierte, hätte Jagang ihn zweifellos getötet. Sie hatte das Gefühl, ihn beschützen zu müssen. Einen Menschen, der sie kannte und der von ihrem Anblick so offenkundig überwältigt war, wollte sie nicht durch eine Unachtsamkeit in Gefahr bringen.

Abermals versuchte Kahlan ihre fieberhaften Gedanken zu beruhigen. Gähnend betrachtete sie das Flackern der Blitze in dem winzigen Ausschnitt des dunklen Himmels. Die Morgendämmerung war nicht mehr fern, und sie brauchte dringend Schlaf.

Doch mit der Dämmerung würde der erste Tag des Winters heraufziehen, und dieser Gedanke beunruhigte sie, warum, wusste sie nicht. Irgendetwas am ersten Tag des Winters schnürte ihr vor Sorge die Eingeweide zusammen. Es war, als lauerten Gefahren unter der Oberfläche ihres Erinnerungsvermögens, die sie sich nicht einmal ansatzweise vorzustellen vermochte.

Das Geräusch eines umstürzenden Gegenstandes ließ sie den Kopf heben. Der Lärm war aus dem Vorraum gekommen, dem Raum vor Jagangs Schlaf gemach. Sie stützte sich auf einen Ellbogen, wagte aber nicht, ihren Platz auf dem Fußboden neben dem Bett des Kaisers zu verlassen. Die Folgen einer Missachtung seiner Befehle waren ihr nur zu bekannt. Wenn sie schon die Schmerzen ertragen musste, die er ihr über den Ring um ihren Hals zufügen konnte, dann wenigstens für etwas Wichtigeres als das unerlaubte Entfernen von ihrem Teppich. Sie hörte, wie sich Jagang im Dunkeln unmittelbar über ihr auf dem Bett aufrichtete.

Plötzlich brach auf der anderen Seite der wattierten Zwischenwände des Schlafgemachs ein Gewimmer und Gestöhne los. Es klang, als könnte es sich um Schwester Ulicia handeln. Seit ihrer Gefangennahme hatte Kahlan sie bereits mehrfach schluchzen und weinen hören. Nicht selten war Kahlan selbst in Tränen ausgebrochen, und stets waren diese Schwestern der Finsternis schuld daran gewesen, allen voran Schwester Ulicia.

Jagang schlug seine Bettdecke zurück. »Was geht da draußen vor?«

Kahlan wusste, dass das Vergehen, Kaiser Jagang gestört zu haben, Schwester Ulicia schon bald noch mehr Grund zum Stöhnen eintragen würde.

Jagang stieg aus seinem Bett und stellte sich breitbeinig über seine auf dem Teppich liegende Gefangene. Dabei senkte er ohne Hast den Blick, um sich zu vergewissern, dass Kahlan ihn im trüben Schein der auf der Truhe glimmenden Laterne auch ja nackt in seiner ganzen Pracht zu sehen bekam. Zufrieden über seine stumme, unausgesprochene Drohung, griff er sich seine Hosen von einem nahen Stuhl und streifte sie, bereits auf dem Weg zur Türöffnung, von einem Bein aufs andere hüpfend über. Er machte sich nicht die Mühe, sich weiter anzukleiden. Am schweren Vorhang der Türöffnung hielt er inne, wandte sich herum und winkte Kahlan mit dem Finger zu sich. Offenbar wollte er sie im Auge behalten. Als sie sich erhob, schlug er die schwere Abdeckung zurück. Kahlans Blick wanderte zur Seite, auf die letzte Gefangene, die man als Beute für den Kaiser herbeigeschleppt hatte, und die nun auf dem Bett kauerte, die Decke mit beiden Händen bis unters Kinn gezogen. Wie die meisten, so hatte auch sie Kahlan nicht gesehen und am Abend zuvor verängstigt und verwirrt reagiert, als Jagang sich mit dem Phantom unterhielt, das offenbar das Zimmer mit ihm teilte. Es war an jenem Abend noch ihr geringster Grund gewesen, sich zu ängstigen.

Ein schmerzhaftes Kribbeln breitete sich entlang den Nervenbahnen in Kahlans Schultern und Armen aus - Jagangs ihr über den Halsring vermittelte Warnung, bei der Ausführung seiner Anordnungen nicht zu trödeln. Sie ließ sich die ungeheuren Schmerzen nicht anmerken und eilte ihm hinterher.

Draußen im Vorraum bot sich ihr ein verwirrender Anblick. Schwester Ulicia wälzte sich wild mit den Armen schlagend am Fußboden und gab ein unverständliches, von Stöhnen und Geschrei unterbrochenes Gebrabbel von sich. Bei ihren Füßen stand über sie gebeugt Schwester Armina und folgte den Bewegungen der am Boden liegenden Frau, hin und her gerissen zwischen der Angst, sie anzufassen, es nicht zu tun und der Frage, was denn nur das Problem sein könnte. Sie schien Schwester Ulicia in die Arme nehmen und beruhigen zu wollen, um zu verhindern, dass sie einen Tumult verursachte, der die Aufmerksamkeit des Kaisers erregte, hatte aber noch nicht begriffen, dass es dafür längst zu spät war. Litt normalerweise eine der beiden irgendwelche Schmerzen, dann solche, die Jagang ihnen über die Kontrolle ihres Verstandes zufügte, doch nun stand er selbst daneben und betrachtete das seltsame Schauspiel, sichtlich unschlüssig, was dieses Verhalten verursacht haben könnte.

Bereits über die sich am Boden wälzende Frau gebeugt, bemerkte Schwester Armina plötzlich Kaiser Jagang und verbeugte sich noch tiefer.

»Ich habe keine Ahnung, was ihr fehlt, Exzellenz. Es tut mir leid, dass sie Euern Schlaf gestört hat. Ich werde versuchen, sie zu beruhigen.«

Als Traumwandler brauchte Jagang mit denen, deren Verstand seiner Kontrolle unterlag, nicht zu sprechen. Sein Bewusstsein konnte nach Belieben zwischen ihren intimsten Gedanken umherwandern. Schwester Ulicia warf sich herum und stieß mit ihrem ungezügelt um sich schlagenden Arm einen Stuhl um. Die Wachen - jene Männer, die man eigens ausgewählt hatte, weil sie zu den wenigen gehörten, die Kahlan sehen konnten und sich an sie erinnerten - hatten einen Kreis um die sich am Boden wälzende Frau gebildet. Ihre Aufgabe war es, dafür zu sorgen, dass Kahlan das Zelt nur in Jagangs Begleitung verließ, die Schwestern fielen nicht in ihre Verantwortung. Andere Gardesoldaten, die Leibwache Jagangs - brutal aussehende Hünen, über und über mit Tätowierungen und die Haut durchbohrenden Metallstiften bedeckt -, harrten Statuen gleich neben der Türöffnung des Zeltes aus. Sie hatten die Aufgabe, dafür zu sorgen, dass niemand unaufgefordert das Zelt betrat, und zeigten sich nur mäßig interessiert an dem, was sich soeben mitten unter ihnen abspielte.

Die Schwestern, Hexenmeisterinnen allesamt, waren Jagangs persönliche Waffen und sein Privatbesitz, und als solche mit einem Ring in ihrer Unterlippe gekennzeichnet. Sie fielen nicht in die Verantwortung irgendwelcher Wachen, es sei denn, es existierte eine gesonderte Anweisung. Jagang hätte Schwester Ulicia die Kehle durchschneiden, sie vergewaltigen oder zum Tee einladen können, keiner aus seiner Elitegarde hätte auch nur mit der Wimper gezuckt. Hätte der Kaiser nach Tee verlangt, so hätten ihn die Sklaven pflichtschuldig serviert. Und hätte er unmittelbar vor ihren Augen einen Mord begangen, hätten sie gewartet, bis er fertig gewesen wäre, und die Schweinerei anschließend beseitigt, ohne dass ein Wort über ihre Lippen gekommen wäre. Als Schwester Ulicia zum wiederholten Male aufschrie, erkannte Kahlan, dass es entgegen ihrer ursprünglichen Annahme keineswegs so aussah, als habe sie Schmerzen. Vielmehr schien sie ... besessen zu sein. Jagangs albtraumhafter Blick wanderte von einem Gardisten zum nächsten. »Hat sie irgendwas gesagt?«

»Nein, Exzellenz«, bemerkte einer der Elitewachen. Die Übrigen, zumindest soweit Kahlan sie sehen konnte, schüttelten zustimmend den Kopf. Die kaiserliche Elitegarde äußerte keinerlei Zweifel an der Schilderung der rangniederen Soldaten.

»Was stimmt nicht mit ihr?« Jagang wandte sich an die Schwester, die aussah, als wollte sie sich ihm jeden Moment unterwürfig vor die Füße schmeißen.

Die Verärgerung in seiner Stimme ließ Schwester Armina zusammenzucken. »Ich schwöre, ich habe keine Ahnung, Exzellenz.« Sie wies zur gegenüberliegenden Seite des Gemachs. »Ich habe geschlafen und darauf gewartet, mich nützlich machen zu können. Schwester Ulicia schlief ebenfalls. Ich dachte, sie hätte etwas zu mir gesagt.«

»Was hat sie denn gesagt?«, wollte Jagang wissen.

»Das konnte ich nicht verstehen, Exzellenz«.

In diesem Augenblick dämmerte Kahlan, dass Jagang keine Ahnung hatte, was Schwester Ulicia gesagt hatte. Normalerweise war er über die Äußerungen, Gedanken oder Pläne der Schwestern bestens informiert. Er war ein Traumwandler, der die Landschaften ihres Verstandes durchstreifte, und war stets in alles eingeweiht.

Und doch hatte er hiervon nichts gewusst.

Oder aber, überlegte Kahlan, er mochte nicht offen aussprechen, was er ohnehin längst wusste. Er liebte es, Menschen auf die Probe zu stellen, indem er ihnen Fragen stellte, deren Antwort er bereits kannte. Jemanden bei einer Lüge zu ertappen, erregte unweigerlich sein höchstes Missfallen. Erst am Tag zuvor hatte er einen frisch gefangenen Sklaven in einem Wutanfall erdrosselt, weil dieser ihn angelogen hatte, indem er behauptete, er hätte nicht von einem für das Abendessen des Kaisers vorgesehenen Tablett genascht. Jagang, ebenso muskelbepackt wie jeder seiner Elitegardisten, hatte die Tat ausgeführt, indem er den schmächtigen Kerl mit einer seiner kräftigen Hände bei der Kehle packte. Die übrigen Sklaven hatten geduldig abgewartet, bis der Kaiser sein schauerliches Tun beendet hatte, und den Körper dann beiseitegeschafft. Mit einer seiner fleischigen Hände fasste Jagang nun die Schwester bei den Haaren und zog sie auf die Beine. »Was hat das zu bedeuten, Ulicia?«

Die Frau verdrehte die Augen, ihre Lippen bewegten sich stumm, und ihre Zunge irrte ziellos in ihrem Mund umher.

Jagang packte sie bei den Schultern und schüttelte sie so brutal, dass Schwester Ulicias Kopf hin und her geschleudert wurde. Kahlan glaubte schon, er würde ihr glatt das Genick brechen. Was ihr sogar ganz lieb gewesen wäre, denn dann gäbe es eine Schwester weniger, über die sie sich den Kopf zerbrechen musste.

»Exzellenz«, sagte Schwester Armina im Tonfall einer behutsamen Ermahnung, »wir brauchen sie noch.« Als der Kaiser sie daraufhin mit einem wütenden Blick durchbohrte, setzte sie hinzu: »Sie ist die Spielerin.«

Nicht übermäßig glücklich über ihre Bemerkung, dachte er darüber nach, ohne ihr jedoch zu widersprechen. »Der erste Tag ...«, murmelte Schwester Ulicia.

Jagang zog sie näher heran. »Der erste Tag wovon?«

»Des Winters ... Winters ... Winters«, murmelte Schwester Ulicia. Jagang blickte um sich und betrachtete die Anwesenden mit gerunzelter Stirn, so als verlange er von ihnen eine Erklärung. Einer der Soldaten wies zur Türöffnung des riesigen Zeltes. »Soeben bricht die Dämmerung an, Exzellenz.«

Jagang durchbohrte ihn mit wütendem Blick. »Was?«

»Es dämmert gerade zum ersten Tag des Winters, Exzellenz.«

Jagang ließ Schwester Ulicia los, die daraufhin schwer auf die den Boden bedeckenden Teppiche sackte.

Er starrte auf die Türöffnung. »Tatsächlich.«

Durch einen schmalen Spalt seitlich neben der schweren Türabdeckung konnte Kahlan draußen die ersten Farbstreifen am Himmel erkennen – sowie weitere jener allgegenwärtigen Elitegardisten, mit denen Jagang sich stets umgab. Keiner von ihnen konnte sie sehen, sie waren sich ihrer Anwesenheit in keiner Weise bewusst. Die Sonderbewacher im Innern des Zeltes, die stets in ihrer Nähe waren, hatten damit allerdings keine Mühe. Gut möglich, dass sich draußen, unter den Elitegardisten, noch mehr von ihrer Sorte befanden. Immerhin war es ihre Aufgabe, darauf zu achten, dass sie das Zelt niemals ohne Begleitung verließ. Auf dem Fußboden murmelte Schwester Ulicia wie in Trance: »Ein Jahr ... ein Jahr.«

»Ein Jahr ... und weiter?«, brüllte Jagang. Mehrere der näher stehenden Gardisten zuckten zusammen.

Schwester Ulicia richtete sich auf und verfiel in eine pendelnde Bewegung. »Beginnt es von neuem. Ein Jahr. Es beginnt von neuem. Es muss von neuem beginnen.«

Er blickte die andere Schwester an. »Was plappert sie da?«

Schwester Armina breitete die Hände aus. »Ich bin nicht sicher, Exzellenz.«

Sein Blick verdüsterte sich. »Das ist gelogen, Armina.«

Ein Teil der Farbe wich aus ihrem Gesicht, und sie benetzte sich die Lippen. »Was ich damit sagen wollte, Exzellenz, ist, ich könnte mir denken, dass sie sich auf die Kästchen bezogen haben muss. Immerhin ist sie die Spielerin.«

Jagang verzog voller Ungeduld den Mund. »Aber wir wissen doch längst, dass uns von dem Moment, da Schwester Ulicia sie ins Spiel brachte, ein Jahr bleibt« - mit einer knappen Handbewegung wies er in die Richtung des aufragenden Hochplateaus -, »und zwar seit Kahlan sie von dort oben entwendet hat.«

»Ein neuer Spieler!«, stieß Schwester Ulicia mit geschlossenen Augen hervor, wie um ihn zu widerlegen. »Ein neuer Spieler. Das Jahr beginnt von neuem!«

Ihre Worte schienen Jagang aufrichtig zu überraschen. Kahlan fragte sich, wie es möglich war, dass dergleichen den Traumwandler überraschte. Und doch schien er aus irgendeinem Grund außerstande, sein Talent bei Schwester Ulicia anzuwenden - vorausgesetzt, das Ganze war nicht irgendein Täuschungsmanöver. Nicht immer ließ sich Jagang anmerken, was genau er wusste und was nicht. Kahlan selbst hatte nie das Gefühl gehabt, er könnte ihre Gedanken lesen, trotzdem war sie stets auf der Hut - gut möglich, dass er sie genau in diesem Glauben lassen wollte.

Trotzdem, so recht mochte sie es nicht glauben. Sie hätte kein einzelnes Detail zu benennen gewusst, das ihr Anlass zu der Vermutung gab, er könne sein Talent als Traumwandler bei ihr nicht anwenden; vielmehr beruhte dieser Eindruck auf der Summe vieler einzelner Beobachtungen.

»Wie kann es sein, dass es einen neuen Spieler gibt?«, fragte Jagang in einem Ton, der bei Schwester Armina sofort ein leichtes Zittern auslöste. Sie musste zweimal schlucken, ehe sie ein Wort über die Lippen brachte.

»Exzellenz, wir sind ... nicht im Besitz aller drei Kästchen. Wir haben lediglich deren zwei. Bleibt also das dritte, jenes, das Tovi bei sich hatte.«

»Mit anderen Worten, jenes Kästchen, das gestohlen wurde, weil ihr dämlichen Gänse Tovi damit alleine habt losziehen lassen, statt dafür zu sorgen, dass sie bei euch blieb.« Es war ein Wutausbruch, keine Frage. Schwester Armina, der Panik nahe, stieß einen Finger Richtung Kahlan.

»Das war ihre Schuld! Hätte sie sich an unsere Anweisungen gehalten und alle drei Kästchen auf einmal mitgebracht, wären wir zusammengeblieben und hätten alle drei Kästchen gehabt. Aber das war ja offenbar zu viel verlangt. Es ist ihre Schuld!«

Obwohl Schwester Ulicia sie angewiesen hatte, alle drei Kästchen in ihrem Rucksack zu verstecken, hatte Kahlan aus Platzmangel zunächst nur eines mitgebracht und die beiden anderen später holen wollen. Schwester Ulicia war, vorsichtig ausgedrückt, alles andere als erfreut gewesen und hatte sie fast totgeprügelt, weil sie es nicht geschafft hatte, das Unmögliche zu vollbringen und alle drei in einem viel zu kleinen Rucksack zu verstauen.

Sie hatte sich nicht die Mühe gemacht, ihr zu widersprechen. Es war sinnlos, Menschen überzeugen zu wollen, denen mit Vernunft nicht beizukommen war.

Jagang blickte über seine Schulter zu Kahlan, die seinen Blick mit leerer Miene erwiderte. Er wandte sich wieder um und fragte Schwester Armina: »Na und? Schwester Ulicia hat die Kästchen ins Spiel gebracht. Das macht sie zur Spielerin.«

»Ein neuer Spieler!«, schrie Schwester Ulicia am Boden zwischen ihnen liegend. »Jetzt sind es zwei! Das Jahr beginnt von neuem. Das kann nicht sein!« Schwester Ulicia warf sich nach vorne. »Kann nicht sein!«

Doch da war nichts, und ihre Arme griffen ins Leere. Schwerfällig ließ sie sich wieder auf den Fußboden sinken. Ihr Atem ging in schnellen Stößen. Dann schlug sie sich die zitternden Hände vors Gesicht, als hätte sie das soeben Geschehene vollends überwältigt. Jagang wandte sich gedankenversunken ab und dachte nach. »Ist es überhaupt möglich, dass zwei Personen gleichzeitig die Kästchen im Spiel haben?«, fragte er bei sich.

Schwester Arminas Augen zuckten unsicher umher. Sie schien unschlüssig, ob man von ihr den Versuch einer Antwort erwartete. Schließlich blieb sie stumm.

Schwester Ulicia rieb sich die Augen. »Er ist weg.«

Jagang blickte stirnrunzelnd auf sie herab. »Wer?«

»Sein Gesicht konnte ich nicht erkennen.« Sie gestikulierte vage. »Er war einfach da und erklärte es mir, doch dann ist er verschwunden. Ich weiß nicht, wer es war, Exzellenz.«

Sie wirkte bis ins Mark erschüttert.

»Was hast du gesehen?«, wollte Jagang wissen.

Als hätte ein plötzlicher Stoß sie aufgerüttelt, sprang sie auf die Füße. Ihre Augen waren schmerzhaft geweitet, Blut sickerte aus einem ihrer Ohren.

»Was hast du gesehen?«, wiederholte Jagang.

Kahlan hatte auch früher schon mitbekommen, wie er den Schwestern Schmerz bereitete. Ob er zuvor imstande gewesen war, in Schwester Ulicias Verstand einzudringen oder nicht, jetzt wurde deutlich, dass er nicht die geringste Mühe hatte, sie seine Anwesenheit spüren zu lassen.

»Da war jeman-«, stieß Schwester Ulicia keuchend hervor. »Jemand war einfach da, Exzellenz. Im Zelt. Er erklärte mir, es gebe einen neuen Spieler, und dass deswegen das Jahr von neuem beginnen müsse.«

Auf Jagangs Stirn hatte sich ein angespannter Knoten gebildet. »Ein neuer Spieler für die Macht der Ordnung?«

Schwester Ulicia nickte, als hätte sie Angst, es zuzugeben. »Ja, Exzellenz. Irgendjemand anderes hat die Kästchen ebenfalls ins Spiel gebracht. Und nun warnt man uns, dass das Jahr von vorn beginnen müsse. Vom heutigen Tag an, dem ersten Tag des Winters, bleibt uns noch ein Jahr.«

Jagang, offenbar tief in Gedanken, begab sich Richtung Tür. Zwei der Elitegardisten rissen den beidseitigen Vorhang auf, so dass ihr Kaiser ungehindert durch die Öffnung treten konnte. Kahlan, die nur zu gut wusste, dass ihr jeden Moment der Schmerz des Halsrings drohte, wenn sie nicht dichtauf blieb, folgte ihm nach draußen, ehe er sie auf diese Weise ermahnen konnte. Schwester Ulicia und Armina mussten sich beeilen, um mit ihr Schritt zu halten.

Die hünenhaften Elitesoldaten draußen vor dem Zelt traten rechts und links zur Seite, um ihrem Kaiser Platz zu machen. Die anderen Soldaten – Kahlans Sonderbewacher - gingen unmittelbar hinter ihnen auf und ab. Kahlan stand dicht hinter Jagang und rieb sich die Arme, um sich ein wenig aufzuwärmen. Im Westen ragte eine dunkle Wolkenwand empor. Trotz des im Lager herrschenden Gestanks konnte sie den Regen riechen, der von der feuchten Luft herangetragen wurde. Der Sonnenaufgang des ersten Tags des Winters hatte die feinen, nach Osten fliehenden Wolkenschleier blutrot verfärbt.

Schweigend betrachtete Jagang das gewaltige Hochplateau in der Ferne. Oben auf diesem Tafelberg erhob sich der Palast des Volkes, der, obwohl unzweifelhaft ein Bauwerk von Menschenhand, von nahezu unfassbaren Ausmaßen war. Gleichzeitig war er eine Stadt, eine Metropole, die den Sitz der Macht über ganz D’Hara beherbergte. Diese Stadt galt als das letzte Bollwerk des Widerstandes gegen die Gier der Imperialen Ordnung nach Weltherrschaft und ihren Drang, den Menschen ihren Glauben aufzuzwingen. Ihre Armee erstreckte sich einem giftigen See gleich über die gesamte Azrith-Ebene rings um das Hochplateau und nahm den Menschen dort jede Hoffnung auf Rettung oder Entsatz.

Soeben streiften die ersten Lichtstrahlen den fernen Palast und ließen die marmornen Mauern, Säulen und Türme gülden im Licht des Sonnenaufgangs erstrahlen. Es war ein Anblick von atemberaubender Schönheit. Bei den Männern der Imperialen Ordnung jedoch löste der Anblick des Palasts, diese von ihren gierigen Händen noch unbesudelte Pracht, nichts als Neid und Hass aus. Ihr sehnlichster Wunsch war es, ihn zu zerstören, seine majestätische Erhabenheit auszulöschen, und so sicherzustellen, dass die Menschheit nie wieder solche Vollkommenheit erreichen konnte.

Kahlan war dort oben - im Palast des Lord Rahl - gewesen, als die vier Schwestern der Finsternis ihr den Befehl gaben, die Kästchen aus dem Garten des Lichts zu stehlen. Es war ein Ort von ehrfurchtgebietender Pracht. Kahlan hatte sich gesträubt, sie aus dem persönlichen Garten des Lord Rahl zu entwenden. Zum einen, weil sie den Schwestern nicht gehörten, vor allem aber, weil diese von übelsten Absichten geleitet waren.

Auf dem Altar, der den Kästchen als Sockel diente, hatte Kahlan an ihrer Stelle ihren wertvollsten Besitz zurückgelassen, eine kleine Holzschnitzarbeit einer Frau mit in den Nacken geworfenem Kopf, zu Fäusten geballten Händen und durchgedrücktem Rücken - so als wollte sie sich einer Macht widersetzen, die sie zu unterwerfen suchte. Jetzt vermochte sie sich nicht einmal mehr vorzustellen, wie ein Gegenstand von solcher Schönheit jemals in ihren Besitz gelangt sein sollte. Es hatte ihr das Herz gebrochen, ihn dort zurückzulassen, aber sonst hätten die beiden letzten Kästchen nicht in ihrem Rucksack Platz gefunden. Hätte sie es nicht getan, hätte Schwester Ulicia sie umgebracht. So sehr ihr die kleine Statuette am Herzen lag, ihr Leben war ihr wichtiger. Sie hoffte nur, Lord Rahl würde, wenn er sie fand, irgendwie verstehen, wie leid es ihr tat, dass sie sein Eigentum gestohlen hatte.

Nachdem Kahlan auch noch Schwester Cecilia getötet hatte, waren von ihren vier ursprünglichen Verfolgerinnen nur noch die Schwestern Ulicia und Armina übrig. Selbstverständlich hatte Jagang noch andere Schwestern in seiner Gewalt.

»Wer wäre imstande, ein Kästchen ins Spiel zu bringen?«, fragte Jagang, den Blick starr auf den Palast hoch oben auf dem Hochplateau gerichtet. Es war nicht vollkommen ersichtlich, ob er von den Schwestern eine Antwort erwartete oder nur laut nachgedacht hatte.

Die beiden Schwestern wechselten einen Blick. Die Elitegardisten standen regungslos und wie versteinert da. Kahlans Sonderbewacher gingen gemächlich auf und ab, wobei der jeweils nächste von Kahlan Notiz nahm, indem er sie bei jedem Kehrtschwenk mit einem herablassenden, selbstgefälligen Blick bedachte. Kahlan kannte ihn und seine Eigenarten. Er gehörte zu den weniger intelligenten unter ihnen, die arrogantes Gehabe mit Autorität verwechselten.

»Nun«, brach Schwester Ulicia schließlich das beklemmende Schweigen, »es müsste jemand mit beiden Seiten der Gabe sein - sowohl mit additiver wie subtraktiver Magie.«

»Ich wüsste nicht, wer, außer den Schwestern der Finsternis hier bei Euch im Lager, zu so etwas fähig wäre, Exzellenz«, fügte Schwester Armina hinzu.

Jagang warf einen Blick über seine Schulter. Der Soldat war nicht der Einzige mit einem Hang zu arroganter Überheblichkeit. Jagang war erheblich klüger als Schwester Armina, diese war jedoch zu dumm, das zu erkennen - allerdings klug genug, den Ausdruck in Jagangs Augen richtig zu deuten, und der besagte, er wusste, dass sie log. Von seinem wütenden Blick zum Schweigen gebracht, verließ sie aller Mut. Schwester Ulicia, ebenfalls bedeutend klüger als Schwester Armina, erfasste blitzschnell den Ernst der Situation und ergriff das Wort.

»Es kommt nur eine Handvoll Personen in Frage, Exzellenz.«

»Es kann nur Richard Rahl gewesen sein«, beeilte sich Armina einzuwerfen, bestrebt sich reinzuwaschen.

»Richard Rahl«, wiederholte Jagang im ausdruckslosen Tonfall kalten Hasses. Die Äußerung der Schwester schien ihn nicht im Mindesten zu überraschen.

Schwester Ulicia räusperte sich. »Oder Schwester Nicci. Sie ist als einzige der nicht in Eurer Gewalt befindlichen Schwestern imstande, mit subtraktiver Magie umzugehen.«

Einen Moment lang fixierte er sie mit seinem wütenden Blick, schließlich wandte er sich wieder dem Palast des Volkes zu, den die Sonne jetzt so beschien, dass er wie ein Fanal über der noch dunklen Ebene erstrahlte.

»Schwester Nicci ist über alles im Bilde, was ihr dummen Gänse getan habt«, erklärte er schließlich.

Schwester Armina blinzelte erstaunt. Sie konnte sich nicht bremsen, den Mund aufzumachen. »Wie ist das möglich, Exzellenz?«

Jagang verschränkte die fleischigen Hände hinter seinem Rücken. Sein muskulöser Hals und Rücken schienen eher zu einem Bullen als zu einem Mann zu passen, ein Eindruck, der von seiner schwarzen, krausen Körperbehaarung noch unterstrichen wurde. Sein kahlrasierter Schädel ließ ihn nur noch bedrohlicher erscheinen.

»Nicci war bei Tovi, als diese, nachdem man auf sie eingestochen und ihr das Kästchen abgenommen hatte, im Sterben lag«, erklärte er. »Ich hatte Nicci längere Zeit nicht gesehen und war überrascht, sie plötzlich aus heiterem Himmel auftauchen zu sehen. Ich war die ganze Zeit zugegen, in Tovis Verstand, und habe die Zusammenkunft verfolgt. Tovi wusste allerdings nichts davon, ebenso wenig wie ihr. Auch Nicci wusste nichts von meiner Anwesenheit. Nicci verhörte Tovi, indem sie deren Verletzung ausnutzte, um ihr deinen Plan zu entlocken, Ulicia. Nicci tischte ihr eine ziemliche Geschichte auf. Angeblich habe sie den Wunsch, sich meiner Kontrolle entziehen zu können, eine Lüge, mit der sie Tovis Vertrauen gewann. Tovi verriet ihr alles - über den von dir ausgelösten Feuerkettenbann, die Kästchen, die du mit Kahlans Hilfe gestohlen hast, und wie diese in Verbindung mit dem Feuerkettenbann funktionieren sollten, alles.«

Schwester Ulicia wirkte von Minute zu Minute elender. »Es ist also sehr gut möglich, dass Nicci es getan hat. Entweder sie oder dieser Richard Rahl.«

»Oder beide zusammen«, schlug Schwester Armina vor. Jagang, den Blick starr auf den fernen Palast gerichtet, schwieg. Schwester Ulicia beugte sich ein winziges Stück vor. »Wenn die Frage erlaubt ist, Exzellenz, wie kommt es, dass Ihr nicht imstande seid ... nun, wieso ist Nicci nicht hier, bei Euch?«

Jagang richtete seine schwarzen Augen auf sie. Trübe Schatten trieben durch die tiefschwarzen Globen, ein sich zusammenbrauendes Unwetter.

»Sie war bei mir, ging dann aber fort. Im Gegensatz zu euren plumpen und wohl kaum ganz ernst gemeinten Versuchen, euern Verstand durch eure Bande zu Lord Rahl vor mir abzuschirmen, haben sie bei Nicci funktioniert. Aus mir völlig schleierhaften Gründen war es ihr offenbar ernst, und deshalb hat es funktioniert. Sie gab alles auf, worauf sie ihr Leben lang hingearbeitet hatte - sogar ihre moralische Pflicht!«

Mit einem Rollen seiner Schultern gab er sich erneut den Anschein gelassener Autorität. »In Niccis Fall haben die Bande funktioniert. Ich kann nicht mehr in ihren Verstand eindringen.«

Es war nicht bloß schlichte Angst vor diesem Mann, die Schwester Armina erstarren ließ, offenbar war sie auch verdutzt über das soeben Gehörte.

Schwester Ulicia nickte vor sich hin, den Blick auf ihre Erinnerungen gerichtet. »Im Nachhinein ist das vermutlich nicht mal eine Überraschung. Vermutlich war mir schon immer klar, dass sie Richard liebt. Uns oder den anderen Schwestern der Finsternis gegenüber hat sie natürlich nie ein Wort davon erwähnt, aber damals, im Palast der Propheten, hat sie auf eine Menge verzichtet - Dinge, die ich mir bei ihr nie hätte vorstellen können -, nur damit ich sie zu einer seiner sechs Ausbilderinnen ernannte. Der Preis, den sie dafür bezahlte, weckte meinen Argwohn, was sie wohl dazu getrieben haben mochte. Bei einigen der anderen war es schlicht Habgier. Sie wollten ihm einfach die Gabe entziehen, um sie für sich selbst zu nutzen. Aber darauf hatte sie es nicht abgesehen. Also behielt ich sie im Auge.

Sie hat sich nie etwas anmerken lassen - bei den Gütigen Seelen, ich bezweifle, dass sie sich dessen damals überhaupt bewusst war -, aber sie hatte diesen Ausdruck in den Augen. Sie war in ihn verliebt. Damals habe ich den Blick nie recht verstanden, wahrscheinlich, weil sie sich ihres Hasses auf ihn und alles, wofür er stand, so sicher war, und doch war sie in Richard Rahl verliebt. Selbst damals schon.«

Jagang war tiefrot angelaufen. Versunken in ihre Erinnerungen, hatte Schwester Ulicia seinen stummen Zorn nicht bemerkt. Schwester Armina hatte sie immer wieder warnend am Arm berührt, bis Ulicia schließlich aufblickte. Sie erbleichte, als sie den Ausdruck im Gesicht des Kaisers sah, und wechselte sofort das Thema.

»Wie gesagt, sie hat nie eine entsprechende Bemerkung fallen lassen, also bilde ich es mir vielleicht nur ein. Ja, wenn ich es mir recht überlege, bin ich sogar sicher. Sie hasste ihn. Sie wollte seinen Tod. Sie hasste alles, wofür er stand. Sie hat ihn gehasst, jetzt ist es sonnenklar. Sie muss ihn gehasst haben.«

Schwester Ulicia klappte den Mund zu, sichtbares Zeichen dafür, dass sie sich zwingen musste, ihr Geplapper einzustellen.

»Alles habe ich ihr gegeben.« Jagangs Stimme klang wie mühsam unterdrücktes Donnergrollen. »Ich habe sie gewissermaßen zu meiner Königin gemacht. Kraft meines Amtes als Jagang, der Gerechte, habe ich ihr die Machtbefugnis als ausführendes Organ der Bruderschaft der Ordnung überlassen. Wer sich den rechtschaffenen Wegen des Ordens widersetzte, lernte sie als Herrin des Todes kennen. Dass sie diesem tugendhaften Appell an ihre Pflicht nachkommen konnte, hatte sie allein meiner Großzügigkeit zu verdanken. Es war töricht von mir, ihr so viele Freiheiten zu gewähren. Sie hat mich verraten, und das wegen dieses Kerls.«

Kahlan hätte nie gedacht, Jagang jemals in den Klauen eines glühenden Eifersuchtsanfalls zu erleben, doch genau das war jetzt der Fall. Gewöhnlich nahm er sich einfach, wonach es ihn gelüstete, er war es nicht gewohnt, dass man ihm etwas abschlug. Aber diese Frau, diese Nicci, konnte er offenbar nicht haben. Und zwar, weil Richard Rahl ihr Herz gewonnen hatte. Kahlan unterdrückte ihre verworrenen Gefühle für diesen Richard Rahl, einen Mann, dem sie nie begegnet war, und betrachtete ihre auf und ab schlendernden Wachen.

»Aber ich werde sie mir zurückholen.« Die Muskelstränge in seinem Arm schwollen an, als er seine geballte Faust in die Höhe reckte. Die Adern an seinen Schläfen traten vor. »Früher oder später werde ich den ungehörigen Widerstand dieses Richard Rahl brechen, anschließend werde ich mir Nicci vornehmen. Sie wird für ihre Vergehen büßen.«

»Und die Kästchen der Ordnung, Exzellenz?«, hakte Schwester Ulicia nach.

Er ließ den Arm sinken und bedachte sie mit einem grimmigen Lächeln. »Schätzchen, es spielt gar keine Rolle, ob es einer von den beiden geschafft hat, die Kästchen ins Spiel zu bringen. Es wird ihnen nichts nützen.« Mit dem Daumen wies er über die Schulter auf Kahlan.

»Ich habe sie - und damit alles, was wir brauchen, um die Macht der Ordnung in den Dienst der Bruderschaft der Imperialen Ordnung zu stellen.

Wir haben das Recht auf unserer Seite, der Schöpfer ist auf unserer Seite. Sobald wir die Macht der Ordnung entfesseln, werden wir die Blasphemie der Magie vom Antlitz der Welt tilgen. Wir werden die Menschen zwingen, sich den Lehren der Imperialen Ordnung zu beugen. Sie werden sich der göttlichen Gerechtigkeit unterwerfen und eines Glaubens sein. Es wird der Beginn einer neuen Menschheit sein, der Anbeginn eines Zeitalters, in dem die menschliche Seele nicht länger den Makel der Magie in sich trägt. Die Menschen werden frohlocken, dass sie jenes Ruhms teilhaftig werden, der das Ziel der Imperialen Ordnung ist. In dieser neuen Welt werden alle Menschen gleich sein. Alle werden sich in den Dienst ihrer Mitmenschen stellen können, wie es der Wille des Schöpfers ist.«

»Ganz recht, Exzellenz«, bekräftigte Schwester Armina, die nur auf eine Gelegenheit gelauert hatte, sich wieder bei ihm einzuschmeicheln.

»Exzellenz«, wagte sich Schwester Ulicia vor, »wie ich bereits erklärte, verfügen wir zwar, wie Ihr durchaus richtig hervorgehoben habt, über viele der erforderlichen Mittel, dennoch benötigen wir nach wie vor alle drei Kästchen, wenn es uns gelingen soll, die Macht der Ordnung für die Zwecke der Bruderschaft zu nutzen. Uns fehlt noch immer das dritte Kästchen.«

Sein schauerliches Grinsen kehrte zurück. »Ich sagte doch bereits, ich war in Tovis Verstand dabei. Und habe möglicherweise auch schon eine Idee, wer an dem Diebstahl beteiligt gewesen sein könnte.«

Die Mienen der beiden Schwestern wirkten eher neugierig denn überrascht.

»Tatsächlich, Exzellenz?«, fragte Armina.

Er nickte. »Mein Berater in spirituellen Dingen, Bruder Narev, hatte eine Freundin, mit der er von Zeit zu Zeit verkehrte. Ich vermute, dass sie damit zu tun haben könnte.«

Schwester Ulicia schien skeptisch. »Ihr denkt, eine Freundin der Bruderschaft der Ordnung hatte ihre Finger im Spiel?«

»Nein, ich sagte nichts von einer Freundin der Bruderschaft, sondern eine Freundin Bruder Narevs. Eine Frau, mit der auch ich früher in Bruder Narevs Namen zu tun hatte. Ich könnte mir denken, du hast bereits von ihr gehört.« Er betrachtete sie mit hochgezogener Braue. »Sie ist unter dem Namen Sechs bekannt.«

Schwester Armina stockte der Atem. Sie erstarrte.

Schwester Ulicia riss die Augen auf, und der Unterkiefer klappte ihr herunter. »Sechs ... Exzellenz, Ihr meint doch nicht etwa die Hexe dieses Namens?«

Ihre Reaktion schien Jagang zu amüsieren. »Ah, du kennst sie also.«

»Ich hatte einmal Gelegenheit, ihren Weg zu kreuzen. Wir hatten eine Art Unterredung. Ich würde es allerdings nicht als angenehme Unterhaltung bezeichnen. Exzellenz, mit dieser Frau ist jede Zusammenarbeit ausgeschlossen.«

»Nun, siehst du, Ulicia, das ist ein weiterer Punkt, in dem wir verschiedener Ansicht sind. Du hast ihr nichts von Wert zu bieten -außer deinem knochenlosen Körper, den sie an die Wesen mit einer Vorliebe für Menschenfleisch verfüttern kann, die sie in ihrem Unterschlupf unterhält. Ich dagegen habe einen recht guten Begriff davon, was diese Frau will und braucht. Ich bin in der Lage, ihr die Privilegien zu gewähren, auf die sie es abgesehen hat. Im Gegensatz zu dir, Ulicia, kann ich durchaus mit ihr zusammenarbeiten.«

»Aber wenn entweder Richard Rahl oder Nicci das Kästchen ins Spiel gebracht haben, kann das nur bedeuten, dass es sich derzeit in ihrem Besitz befindet«, wandte Schwester Ulicia ein. »Wenn Sechs das Kästchen also irgendwann nach Tovi hatte, ist es jetzt nicht mehr in ihrem Besitz.«

»Du glaubst also, eine Frau wie sie würde ihre glühendsten Wünsche aufgeben? Alles, wonach sie sich verzehrt?« Jagang schüttelte den Kopf.

»Nein, es wird ihr nicht passen, dass ihre Pläne ... durchkreuzt wurden. Sechs ist eine Frau, die sich nichts abschlagen lässt. Wer sich ihr in den Weg stellt, dem begegnet sie nicht eben mit Freundlichkeit. Ist das korrekt, Ulicia?«

Schwester Ulicia schluckte, schließlich nickte sie.

»Eine Frau von ihren finsteren Talenten und ihrer grenzenlosen Entschlossenheit wird vermutlich nicht eher ruhen, bis sie das Unrecht wiedergutgemacht hat, und dann wird sie mit der Imperialen Ordnung zusammenarbeiten müssen. Du siehst also, alles ist bestens unter Kontrolle. Dass einer dieser beiden Widersacher, Nicci oder Richard Rahl, jenes Kästchen ins Spiel gebracht haben, ist letztendlich bedeutungslos. Die Imperiale Ordnung wird obsiegen.«

Schwester Ulicia, die ihre Finger seit der Erwähnung von Sechs’ Namen fest ineinander verhakt hatte, um das Zittern zu unterbinden, senkte kurz ihr Haupt. »Sehr wohl, Euer Exzellenz. Wie ich sehe, habt Ihr tatsächlich alles bestens im Griff.«

Als er sah, dass sie sich geschlagen gab, richtete Jagang seine Aufmerksamkeit auf einen der hemdlosen Sklaven, die im Hintergrund in der Nähe des Eingangs zum königlichen Zelt warteten, und schnippte mit den Fingern.

»Ich bin hungrig. Heute beginnt das Ja’La-Turnier. Ich möchte ein herzhaftes Mahl, ehe ich mir die Spiele ansehen gehe.«

Der Mann machte eine tiefe Verbeugung von der Hüfte abwärts. »Sehr wohl, Exzellenz. Ich werde mich augenblicklich darum kümmern.«

Nachdem er davongeeilt war, um den Auftrag auszuführen, ließ Jagang den Blick über das Meer von Männern schweifen. »Jetzt brauchen unsere tapferen Kämpfer erst mal eine Ablenkung von ihrer mühevollen Arbeit. Eine der Mannschaften dort draußen wird sich beizeiten die Chance verdienen, gegen meine eigene Mannschaft anzutreten. Hoffen wir, dass die Mannschaft, die sich dieses Vorrecht erwirbt, gut genug ist, meinen Männern wenigstens den Schweiß auf die Stirn zu treiben, ehe diese sie vernichtend schlagen.«

»Sehr wohl, Euer Exzellenz«, antworteten die Schwestern wie aus einem Munde.

Genervt von ihrer kriecherischen Art, winkte Jagang einen der vorüberschlendernden Sonderbewacher zu sich. »Dich wird sie als Ersten töten.«

Der Mann erstarrte, Panik in den Augen. »Exzellenz?«

Mit einem Nicken wies Jagang auf die nur einen halben Schritt entfernt stehende Kahlan. »Sie wird dich als Ersten töten, und das vollkommen zu Recht.«

Der Mann neigte unterwürfig sein Haupt. »Ich verstehe nicht, Exzellenz.«

»Natürlich nicht - weil du dumm bist. Seit einer Weile schon zählt sie deine Schritte. Vor jeder Kehrtwende legst du die gleiche Anzahl Schritte zurück, dann blickst du bei jedem Kehrtschwenk kurz in ihre Richtung, um nach ihr zu sehen, ehe du weitergehst.

Da sie die Anzahl deiner Schritte kennt, muss sie, steht dein nächster Schwenk bevor, nicht in deine Richtung schauen, denn der Zeitpunkt ist ihr längst bekannt. Sie weiß, dass du unmittelbar vorher nach ihr schauen, sie in die entgegengesetzte Richtung blicken sehen und demzufolge beruhigt sein wirst.«

Der Blick des Mannes fiel auf das in seinem Gürtel steckende Messer, das er daraufhin schützend unter seiner Hand verbarg. »Aber Exzellenz, ich würde niemals zulassen, dass sie mein Messer an sich nimmt. Das schwöre ich. Ich würde sie daran hindern.«

»Sie daran hindern?« Jagang schnaubte spöttisch. »Sie weiß, dass sie gerade mal zwei Schritte von deinem Wendepunkt entfernt steht, zwei Schritte, um dir dein Messer einfach aus der Scheide zu ziehen. Wahrscheinlich bekämst du nicht mal etwas davon mit, ehe du stirbst.«

»Aber ich würd-«

»Du würdest zu ihr hinschauen, sie in die andere Richtung blicken sehen und kehrtmachen. Drei Schritte später hätte sie dein Messer und würde dir die Klinge einen winzigen Augenblick später in deine empfindliche rechte Niere rammen. Du wärst so gut wie tot, ehe du überhaupt wüsstest, wie dir geschieht.«

Trotz der Kälte traten dem Mann die Schweißperlen auf die Stirn. Jagang blickte sich zu Kahlan um. Sie zeigte ihm nur ihren leeren Gesichtsausdruck, bar jeder Gefühlsregung.

Jagang hatte sich geirrt. Der Mann würde als Zweiter sterben. Er war dumm, und dumme Menschen waren einfacher zu töten. Schwieriger war es, kluge, aufmerksame Männer umzubringen. Kahlan kannte jeden ihrer Sonderbewacher ganz genau. Der, der vor dem Zelt auf und ab marschierte, gehörte zu den Schlauesten.

Sie würde den Dummen nicht zuerst töten, sondern ihm, wie Jagang korrekt vermutet hatte, das Messer abnehmen. Anschließend würde sie sich zu dem Klugen herumwenden, da er aufmerksamer war und über schnellere Reaktionen verfügte. Es war die Aufgabe ihrer Sonderbewacher, sie an der Flucht zu hindern, allerdings ohne Anwendung tödlicher Gewalt. Stürzte sich der Kluge dann auf sie, um sie festzuhalten, hätte sie das Messer bereits in der Hand und würde, den Schwung ihrer beider sich aufeinander zubewegenden Körper nutzend, herumwirbeln, um ihm die Kehle aufzuschlitzen. Seinem erschlafften Körper nach links ausweichend, würde sie sich abermals drehen und dem dummen Kerl das Messer in die Niere rammen, genau wie Jagang angedeutet hatte.

»Ihr habt mich genau durchschaut«, erklärte Kahlan dem Kaiser mit tonloser Stimme. »Nicht übel.«

Ein kaum merkliches Zucken in seinem linken Auge verriet ihr, dass er nicht wusste, ob sie die Wahrheit sagte oder log.

Загрузка...