Cara, die neben ihm auf den Fersen hockte, legte ihm voller Mitgefühl eine Hand auf die Schulter, als er sich über Nicci beugte. Ihm war selbst, als wäre alles Leben aus ihm gewichen. Er nahm Nicci schützend in die Arme, ohne ihr aber wirklich Schutz oder Rettung bieten, sie von Jagangs Anspruch auf ihr Leben erlösen zu können.
Die Ereignisse, die ihn an diesen Punkt seines Lebens gebracht hatten, schienen ihm über den Kopf zu wachsen. Was er auch tat, die gläubigen Anhänger der Imperialen Ordnung brachten ihre Sache unaufhaltsam weiter voran. In ihrem Fanatismus waren sie entschlossen, das Leben jeglicher Freude und jeglichen Sinns zu berauben, bis das nackte Dasein zu unerträglichem Leid verkümmerte.
Nicci, obwohl weitgehend teilnahmslos, schlang ihm den Arm ein wenig fester um den Hals, so als wollte sie ihn in seinem Kummer trösten, ihm sagen, dass sie bald ihren ewigen Frieden jenseits aller Schmerzen finden werde. Und obwohl er wusste, dass sie dann endlich von diesem entsetzlichen Leid erlöst und für Jagang unerreichbar sein würde, fand er die Vorstellung unerträglich, dass sie aus der Welt des Lebens scheiden könnte.
In diesem Moment erschien ihm alles sinnlos. Alles Gute im Leben wurde systematisch zerstört von Menschen, die inbrünstig glaubten, ihr frommer Lebenszweck bestünde darin, jeden hinzumetzeln, der sich nicht den Glaubensüberzeugungen des Ordens unterwarf. Die Welt befand sich in der Gewalt vollkommenen Irrsinns. Und nun wurde auch Nicci nach und nach alles Leben entzogen. Als Richard in Gedanken der Welt den Rücken kehrte und den Blick nach innen richtete, spürte er plötzlich ein heftiges, ruckartiges Reißen in seinem Innern, das ihn für einen Moment in einem seltsamen, lautlosen Jenseits gefangen hielt, ehe es ihn in einen inneren Sturm zurückstieß. Er wusste nicht, woher diese innere Wirrnis plötzlich rührte, doch plötzlich war ihm, als hätte er sich zwischen unzähligen Meteoren verloren. Bis diese plötzlich von irgendeinem Ort in den unergründlichen Tiefen seines Seins explosionsartig auseinanderstoben. Cara packte ihn am Arm und rüttelte ihn. »Lord Rahl! Was ist denn nur? Lord Rahl!«
Er merkte, dass er schrie und nicht mehr aufhören konnte. Und mitten in diesem Zustand äußerster Erregung überkam ihn die Erkenntnis.
Schlagartig war ihm jenseits allen Zweifels der Grund für die Empfindung klar.
Es war wie ein Erwachen.
Die strahlende Kraft dieser Wiedergeburt war überwältigend. Jede Faser seines Seins brannte plötzlich vor einer ihr innewohnenden Lebendigkeit, und gleichzeitig war er bis ins Mark eines jeden einzelnen Knochens erfüllt von einem so monumentalen Schmerz, dass er fast das Bewusstsein verlor.
Er konnte sein Erbe wieder in seinem Innern brennen spüren, fühlte sich seit scheinbar einer Ewigkeit zum ersten Mal wieder vollständig. Fast war es, als hätte er vergessen, wer er war, als wäre er von seinem Weg abgekommen, und all das wäre in einem einzigen Moment gleißender Klarheit zurückgekehrt.
Seine Gabe war wieder da. Er hatte keine Ahnung, wie oder warum, aber sie war zurückgekehrt. Was ihn jedoch bei Bewusstsein hielt, die Konzentration seines Geistes aufrechterhielt, war der brodelnde Hass auf alle, die durch die Selbstrechtfertigung ihrer verdrehten Glaubensüberzeugungen anderen Leid zufügten.
In diesem Moment, da sein blindwütiger Zorn auf alle, deren Daseinszweck sich im Hass und dem Zufügen von Leid erschöpfte, durch diese entscheidende Verbindung mit seiner Gabe strömte, vernahm er ein metallisches Knallen.
Nicci stöhnte auf.
Richard, sich des Geschehens kaum bewusst, merkte, dass sie die Arme um ihn geschlungen hatte und keuchend nach Atem rang.
»Lord Rahl!« Cara rüttelte ihn. »Seht doch! Der Halsring hat sich gelöst! Und auch der goldene Ring in ihrer Unterlippe ist verschwunden.«
Richard lehnte sich zurück, um in Niccis blaue Augen sehen zu können. Sie starrte zu ihm hoch. Der Rada’Han war auseinandergeplatzt und lag in Trümmern unter ihrem Hals.
»Deine Gabe ist zurückgekehrt«, hauchte sie, kaum bei Bewusstsein. »Ich kann sie spüren.«
Es stimmte, wie er jenseits allen Zweifels wusste. Völlig unerklärlicherweise war seine Gabe zurückgekehrt.
Als er sich umsah, bemerkte er einen Wald von Beinen. Männer der Ersten Rotte hatten ihn umringt, blankgezogene Waffen in den Händen. Zwischen ihnen und ihm selbst hatten sich, getrennt durch eine Wand aus rotem Leder, Egan und Ulic aufgepflanzt.
Jetzt erst dämmerte ihm, dass er, als der sengende Schmerz in seinem Innern explodierte, geschrien haben musste. Wahrscheinlich hatten sie gedacht, jemand wolle ihm ans Leben.
»Richard.« Nicci machte ihn auf sich aufmerksam, mit einer Stimme, die kaum mehr als ein kraftloses Wispern war. »Hast du den Verstand verloren?«
Mehrmals musste sie sich zwingen, die Augen zu öffnen. Ihre’Stirn war mit Schweißperlen bedeckt. Sie war von ihren schweren Qualen völlig erschöpft und brauchte dringend Ruhe, wenn sie sich wieder vollends erholen wollte. Trotzdem war es zutiefst ermutigend, endlich wieder einen Funken Leben in ihren Augen zu sehen.
»Wie meint Ihr das?«
»Warum in aller Welt hast du dich über und über mit diesen Symbolen in roter Farbe bemalt?«
Cara warf ihm einen Blick zu. »Mir gefällt’s.«
Die über ihn gebeugte Berdine nickte. »Mir auch. Erinnert mich ein bisschen an unsere roten Lederanzüge, nur eben ohne die Anzüge.«
»Steht ihm wirklich ausgezeichnet«, bestätigte Nyda. Bei aller Erschöpfung war Niccis Gesichtsausdruck anzusehen, dass sie das gar nicht komisch fand. »Wo in aller Welt hast du das nur gelernt? Ist dir überhaupt klar, welche Gefahr diese Symbole bedeuten?«
Richard zuckte die Achseln. »Natürlich. Warum, glaubt Ihr, hätte ich sie sonst aufgetragen?«
Nicci ließ sich zurückfallen. Offenbar war sie zu erschöpft, um zu widersprechen. »Hör zu. Wenn ich nicht... wenn überhaupt... hör zu - du darfst Kahlan auf keinen Fall von euch beiden erzählen.«
Richard legte die Stirn in Falten und beugte sich näher, um sie besser verstehen zu können. »Was meint Ihr damit?«
»Es ist ein steriles Feld vonnöten. Das musst du wissen, für den Fall, dass mir etwas zustößt und ich es nicht schaffe. Du darfst ihr nicht von euch beiden erzählen. Wenn du ihr von eurer gemeinsamen Vergangenheit erzählst, wird sie nicht funktionieren.«
»Was wird nicht funktionieren?«
»Die Macht der Ordnung. Sollte sich dir jemals die Gelegenheit bieten, die Macht der Ordnung zu beschwören, bedarf sie eines sterilen Feldes, wenn sie funktionieren soll. Was bedeutet, dass Kahlan keinerlei Vorwissen über eure Liebe haben darf, da diese Erinnerungen sonst nicht wiederhergestellt werden können. Erzählst du ihr davon, ist sie für dich endgültig verloren.«
Richard nickte, nicht ganz sicher, wovon sie redete, gleichwohl zutiefst besorgt. Er befürchtete, sie könnte sich nach den Qualen in dem Halsring im Fieberwahn befinden. Was sie sagte, klang alles andere als schlüssig, trotzdem war dies kaum der rechte Ort und Augenblick, um darauf einzugehen. Zuerst musste sie wieder vollständig hergestellt und bei klarem Verstand sein.
»Hörst du mir überhaupt zu?« Immer wieder fielen ihr die Augen zu, während sie darum kämpfte, bei Bewusstsein zu bleiben. Er war unsicher, ob er sie noch rechtzeitig von dem Halsring befreit hatte. Auf jeden Fall war sie längst noch nicht wieder sie selbst.
»Ja, alles in Ordnung. Ich höre zu. Steriles Feld, hab schon verstanden. Und nun entspannt Euch, bis wir Euch irgendwohin gebracht haben, wo Ihr Euch ausruhen könnt. Dann könnt Ihr mir alles erklären. Jetzt seid Ihr erst einmal in Sicherheit.«
Richard erhob sich, während Cara und Berdine Nicci aufhalfen.
»Sie braucht dringend ein ruhiges Fleckchen, wo sie sich ausruhen kann«, erklärte er den beiden.
Berdine legte ihr stützend einen Arm um die Hüfte. »Ich werde mich darum kümmern, Lord Rahl.«
Es war schon eine Weile her, dass er jemanden ihn »Lord Rahl« hatte nennen hören. Dann kam ihm der Gedanke, dass es Nathan womöglich übel aufstoßen könnte, plötzlich als Lord Rahl abgesetzt zu sein. Immerhin war er nicht zum ersten Mal in die Rolle des Lord Rahl genötigt worden, nur um mit ansehen zu müssen, wie Richard den Titel bei seiner Rückkehr wieder für sich selbst beanspruchte. Doch ehe er richtig darüber nachdenken konnte, vernahm er ein seltsames Geräusch - ein Knistern, so als ob etwas brannte, gefolgt von einem dumpfen Schlag. Als sich der Ring aus Soldaten um ihn teilte, um ihn und Nicci durchzulassen, sah er einen Mann auf sie zukommen. Doch auf den zweiten Blick war er sich des Gesehenen nicht mehr ganz so sicher. Es schien ein Soldat der Ersten Rotte zu sein, und doch auch wieder nicht. Die Uniform wirkte ein wenig ... beliebig. General Trimack, bemüht, Richard zu helfen, schob einige seiner Männer mit ausgestrecktem Arm aus dem Weg, um ihn durchzulassen, doch der war stehen geblieben und schaute zu, wie der Soldat sich nicht allzu weit entfernt einen Weg durch das Blutbad bahnte.
Der Mann hatte kein Gesicht.
Sein erster Gedanke war, dass er womöglich fürchterliche Verbrennungen erlitten hatte, dass sein Gesicht sozusagen weggeschmolzen war. Doch seine Uniform war unversehrt, und auch sonst wirkte seine Haut weder verbrannt, noch wies sie Blasen auf. Vielmehr schien sie glatt und gesund. Auch ging er nicht, als wäre er verwundet.
Und doch hatte er kein Gesicht.
Wo seine Augen hätten sein sollen, befanden sich nur leichte Ver tiefungen in der glatten Haut, und darüber nur der Ansatz einer Stirnwulst. Anstelle der Nase war nur eine leichte senkrechte Erhebung zu erkennen, nicht mehr als die Andeutung des Riechorgans. Mund hatte er keinen. Er sah aus, als wäre sein Gesicht eine tönerne, noch nicht zu vollständigen Zügen ausgestaltete Masse. Auch seine Hände wirkten unfertig. Er besaß keine einzelnen Finger, nur die Daumen, so dass seine Hände wie fleischige Fäustlinge wirkten.
Der Anblick war so verstörend, dass einen unwillkürlich Angst überkam. Ein Soldat der Ersten Rotte, der gerade einen Verletzten versorgte und nur die oberflächliche Ähnlichkeit mit einer Uniform der Ersten Rotte von schräg hinten nahen sah, richtete sich auf und drehte sich mit ausgestrecktem Arm ein Stück zur Seite, so als wollte er den Mann am Rande seines Gesichtsfeld bitten, zurückzubleiben. Der Gesichtslose hob die Hand und berührte den Soldaten am Arm.
Sofort wurden Gesicht und Hände des Soldaten schwarz und rissig, als hätte eine gewaltige Hitze sein Fleisch schlagartig zu einer verkohlten Kruste verbrannt. Er hatte nicht einmal mehr Zeit zu schreien, ehe er zu völliger Unkenntlichkeit verkohlte und mit einem dumpfen Schlag auf dem Boden landete - es war ebenjenes Geräusch, das Richard einen Augenblick zuvor vernommen hatte.
Unterdessen hatte der Gesichtslose erkennbarere Züge angenommen. Seine Nase hatte an Gestalt gewonnen, und er besaß die Andeutung eines Schlitzes als Mund. Es war, als habe er seine Züge dem soeben genommenen Leben abgewonnen.
Im Nu stellten sich weitere Soldaten der Ersten Rotte der nahenden Gefahr in den Weg. Der Gesichtslose streifte sie auf seinem mühelosen Marsch durch ihre Verteidigungslinie nur leicht, worauf ihre Gesichter augenblicklich ebenfalls zu schwarz verkohlten, keinerlei menschliche Züge mehr aufweisenden Runzeln zusammenschrumpften, ehe die Männer leblos zu Boden sanken.
»Die Bestie«, stöhnte Nicci unmittelbar neben Richard, der sie stützen half. Ihr Arm lag über seiner Schulter. »Die Bestie«, stöhnte sie erneut, ein wenig lauter diesmal, für den Fall, dass er sie beim ersten Mal nicht gehört hatte. »Deine Gabe ist zurückgekehrt. Die Bestie kann dich wieder finden.«
Schon führte General Trimack ein halbes Dutzend Männer gegen die neue Bedrohung, die, unbeeindruckt von den sich von allen Seiten auf sie stürzenden Soldaten, weiterhin auf Richard zuhielt. Mit einem gewaltigen Aufschrei ließ er seine Klinge in einem mächtigen Hieb sirrend auf die anrückende Bedrohung niedergehen, doch der Mann machte keinerlei Anstalten, dem Schlag auszuweichen. Die Klinge bohrte sich dicht am Hals einen guten Fuß weit in die Schulter und trennte diese fast gänzlich ab - eine Verletzung, die jeden gestoppt hätte, zumindest jeden Lebenden.
Die Hände noch am Schwert, zerfiel der General augenblicklich zu einem Klumpen geschrumpelten, verkohlten, rissigen und blutigen Fleisches, der augenblicklich zu zerfließen begann. Ohne ein Zucken, ohne auch nur zu schreien, brach er am Boden zusammen, entstellt zu völliger Unkenntlichkeit, hätte er nicht seine Uniform getragen. Der Gesichtslose, das Schwert noch immer tief in der Schulter, geriet nicht einmal ins Stocken. Sein Gesicht hatte weiter an Kontur gewonnen, jetzt waren bereits die ersten Andeutungen von Augen in den Höhlen zu erkennen. Seitlich im Gesicht begann sich eine Narbe abzuzeichnen, ganz ähnlich der des Generals.
Nun begann die Schwertklinge zu rauchen und sich weißglühend zu verfärben, als wäre sie soeben aus der Esse eines Schmieds gezogen worden, dann bogen sich die Enden nach unten, als es zu zwei Hälften zerschmolz und dort, wo es in der Brust des Mannes steckte, auseinanderbrach. Die Schwertspitze fiel scheppernd hinter seinem Rücken auf den Boden, das Heft prallte einmal ab und landete dann zischend und dampfend auf einem in der Nähe liegenden Toten. Von allen Seiten stürmten jetzt Soldaten herbei, um die nahende Bedrohung aufzuhalten.
»Zurück!«, schrie Richard. »Alle miteinander! Zurück!«
Eine der Mord-Sith rammte ihm den Strafer gegen den Halsansatz, verwandelte sich schlagartig in einen zischenden und rauchenden Leichnam und kippte nach hinten weg.
Wo eben noch die Andeutung von Behaarung auf der Bestie zu sehen gewesen war, wuchsen jetzt blonde Strähnen, wie die Mord-Sith sie noch einen Augenblick zuvor getragen hatte.
Zu guter Letzt blieben alle stehen und begannen zurückzuweichen, um die Gefahr zumindest einzugrenzen, ohne in ihre Reichweite zu gelangen. Von einem in der Nähe stehenden Soldaten der Ersten Rotte schnappte sich Richard eine Armbrust, die bereits mit einem jener tödlichen rot befiederten Pfeile bestückt war.
Und als der Mann mit dem sich entwickelnden Gesicht weiterhin entschlossen auf ihn zuhielt, riss er die Armbrust hoch und betätigte den Auslöser.
Der rot befiederte Bolzen traf ihn mitten in der Brust. Der Mann - die Bestie - stockte. Seine vormals glatte Haut begann sich schwarz zu verfärben und zu verkohlen, ganz so, wie die der zuvor von ihm gestreiften Männer. Dann gaben seine Knie nach, und die Bestie brach, scheinbar nicht anders als all seine Opfer zuvor, schmauchend zusammen. Im Gegensatz zu ihnen jedoch glomm sie weiter. Zwar züngelten keine Flammen empor, doch das ganze Wesen, auch die Uniform, die, wie Richard jetzt erkannte, nicht aus Stoff, Leder und Panzerung bestand, sondern tatsächlich ein Teil der Bestie war, zerlief Blasen bildend, bis die sich auflösende Masse zu einem schwarzverkohlten Brei gerann. Unter den Augen der völlig verdutzten Umstehenden verbrannte sie flammenlos, trocknete ein, wurde rissig und warf sich auf, bis nur noch Asche übrig war.
»Du hast deine Gabe benutzt«, hauchte Nicci mit schlaff herabhängendem Kopf. »Deshalb hat sie dich gefunden.«
Richards Nicken galt niemand Bestimmtem. »Berdine, bringt Nicci bitte irgendwohin, wo sie ein wenig ausruhen kann.«
Er hoffte sehr, dass sie sich erholen und wieder gesund werden würde, denn er mochte sie nicht nur, sondern er war dringend auf sie angewiesen. Adie hatte recht gehabt, sie war seine einzige Hoffnung.