59

Als sie durch die prunkvollen, menschenleeren Hallen des Palasts des Volkes marschierten, wusste Richard sofort, wohin alle verschwunden waren, denn er hörte einen leisen Sprechgesang durch die Flure hallen.

»Führe uns, Meister Rahl. Lehre uns, Meister Rahl. In Deinem Licht werden wir gedeihen. Deine Gnade gebe uns Schutz. Deine Weisheit beschämt uns. Wir leben nur, um zu dienen. Unser Leben gehört Dir.«

Es war die Andacht zu Ehren des Lord Rahl. Selbst in Zeiten wie diesen, wenn das Ende ihrer Welt bevorstand, strömten die Bewohner des Palasts des Volkes auf den Klang der Glocke in Scharen zu dieser Andacht. Er nahm an, dass er gerade in solchen Zeiten gebraucht wurde, und die Andacht ihre Art war, diese Bande zu würdigen. Oder aber sie sollte ihn an seinen Teil dieser Bande erinnern, an seine Verpflichtung, ihnen Schutz zu gewähren.

»Führe uns, Meister Rahl. Lehre uns, Meister Rahl. In Deinem Licht werden wir gedeihen. Deine Gnade gebe uns Schutz. Deine Weisheit beschämt uns. Wir leben nur, um zu dienen. Unser Leben gehört Dir.«

Richard verdrängte seine Empfindungen angesichts der Andacht aus seinen Gedanken. Ihm war, als hätte er tausend Überlegungen gleichzeitig zu bewältigen, so dass er nicht mehr wusste, wo ihm der Kopf stand. Ihn bedrängte eine so ungeheure Vielfalt von Fragen, dass er das Gefühl hatte, diesen gewaltigen Berg an Problemen nicht mehr in eine sinnvolle Ordnung bringen zu können. Er wusste ja nicht einmal, wo er mit dieser kräfteraubenden Bewältigung anfangen sollte. Als Meister Rahl kam er sich vollkommen unzulänglich vor. Nichtsdestoweniger war er überzeugt, dass alle diese scheinbar niemals endenden Probleme irgendwie zusammenhingen, dass sie alle Teil ein und desselben Legespiels waren, und sich alles, sobald er nur auf den Kern dessen stieße, was ihn so bedrückte, zu einem Ganzen fügen würde. Eigentlich brauchte er, um das alles zu durchschauen, nichts weiter als ein paar Jahre Zeit. Er konnte von Glück reden, wenn ihm noch ein paar Stunden blieben.

Noch einmal zwang er sich, seine Gedanken wieder auf die wichtigen Dinge zu lenken. Baraccus hatte ihm in einem dreitausend Jahre alten Buch eine Nachricht hinterlassen, ein ungeschriebenes Gesetz, bloß wusste er nicht, was es damit auf sich hatte. Jetzt, da er endlich wieder auf seine Gabe zurückgreifen konnte, war endlich auch seine Erinnerung an den vollständigen Text des Buches der gezählten Schatten zurückgekehrt, allerdings handelte es sich höchstwahrscheinlich um eine fehlerhafte Abschrift. Das Original, wie auch die Kästchen, besaß Jagang. Wieso spielte eine Konfessorin bei alldem eine zentrale Rolle? Etwa, weil sie für die Kästchen der Ordnung von zentraler Bedeutung war, sofern eine der Abschriften Des Buches der gezählten Schatten zum Einsatz käme? Oder bildete er sich das alles nur ein? Glaubte er das alles nur, weil Kahlan eine Konfessorin war und sie in seinem eigenen Leben eine zentrale Rolle spielte?

Der Gedanke an Kahlan ließ ihn abschweifen und erfüllte ihn mit panischer Furcht. Es zerriss ihm fast das Herz, ihr all die Dinge verschweigen zu müssen, die er ihr so gerne erzählen wollte. Es brachte ihn fast um, sie nicht in die Arme nehmen, nicht küssen zu können. Er wollte nur eins: sie endlich wieder fest in seine Arme schließen. Doch wenn er das sterile Feld ihres Verstandes zerstörte, bestand keine Hoffnung mehr, dass sie durch die Macht der Ordnung wieder zu ihrem alten Selbst zurückfinden konnte. Also musste er ihr gegenüber weiterhin abweisend und vage bleiben.

Am meisten aber schreckte ihn der Gedanke, dass es schon zu spät sein und Samuel ihr steriles Feld bereits verunreinigt haben könnte. Er konnte Kahlan neben sich gehen spüren. Er erkannte den Klang ihrer Schritte, ihren Duft, ihre Gegenwart. Eben noch überglücklich, sie endlich zurückzuhaben, geriet er schon im nächsten Moment in Panik über ihren möglichen neuerlichen Verlust.

Er musste aufhören, seine Gedanken immer wieder zu den Problemen abschweifen zu lassen und sich stattdessen auf deren Lösung konzentrieren. Er musste die Antwort finden.

Wenn es sie denn überhaupt gab.

»Führe uns, Meister Rahl. Lehre uns, Meister Rahl. In Deinem Licht werden wir gedeihen. Deine Gnade gebe uns Schutz. Deine Weisheit beschämt uns. Wir leben nur, um zu dienen. Unser Leben gehört Dir.«

All diese Menschen würden sterben, es sei denn, er stand ihnen bei, indem er diese Antwort fand. Aber wie in aller Welt sollte er das bloß anstellen?

Er kehrte noch einmal zu dem Punkt zurück, der seiner Meinung nach den Kern der Lösung darstellte. Um den angerichteten Schaden wiedergutzumachen, würde er die Kästchen der Ordnung öffnen müssen - im Grunde war das schon alles. Tat er es nicht, würde die Welt des Lebens, durch die Feuerkettenreaktion und die durch sie verursachte Verunreinigung bereits geschädigt, vollends außer Kontrolle geraten. Öffnete nicht er das korrekte Kästchen, würden es die Schwestern in Jagangs Gewalt tun. Nur wusste er nicht, wie er das anstellen sollte, außerdem hatte nicht er die Kontrolle über sie, sondern Jagang.

Zumindest, sagte er sich, hatte er bereits eine ganze Reihe von Schritten erfolgreich zurückgelegt, die es zu bewältigen galt, sofern er überhaupt eine Chance haben wollte, das korrekte Kästchen zu öffnen. Seine Reise durch den Schleier war ein Erfolg gewesen, und auch seine Mitbringsel hatte er in der verlangten Weise mit zurückgebracht. Allein das war für sich genommen ein Rätsel gewesen, aber er hatte es gelöst. Für die tatsächliche Wiederherstellung war jetzt die Macht der Ordnung vonnöten.

Kahlan hatte seine Schnitzerei mit dem Namen Seele angenommen, also verfügte er nun auch über die unbedingt erforderliche Konfessorin. Konfessorin ... Irgendetwas daran stimmte nicht, bloß kam er einfach nicht darauf, was.

Wohl aber wusste er, dass es nur eine Möglichkeit gab, in die Nähe der Kästchen der Ordnung zu gelangen. Es war seine einzige Chance – vorausgesetzt er fand die Lösung, ehe Schwester Ulicia eines von ihnen öffnete.

Das raschelnde Geräusch hastiger Schritte ließ ihn aufblicken, und er sah Verna und Nathan auf sich zustürmen, Cara und General Meiffert dicht auf ihren Fersen. Gleich hinter ihm gingen Zedd, Tom und Rikka. Bei einer mit wunderschön geädertem grünem Marmor gepflasterten Brücke, die einen Andachtsplatz sowie eine Kreuzung weitläufiger Hallen überblickte, blieb Richard stehen. Unten lagen die Menschen, die Stirn auf dem gefliesten Boden, auf den Knien und stimmten ihren Sprechgesang an. Sie ahnten nicht, was er zu tun im Begriff war.

»Richard!« Verna war völlig außer Atem.

»Ich bin froh, dich wieder hier zu sehen«, begrüßte ihn Nathan, ehe er auch Zedd zunickte.

»Sechs wird uns keinen Ärger mehr machen«, erklärte Zedd an den Propheten gewandt.

Nathan stieß einen erleichterten Seufzer aus. »Eine Wespe weniger im Nest, ich fürchte allerdings, es herrscht nicht eben Mangel an ihnen.«

Ohne auf den hochgewachsenen Zauberer an ihrer Seite einzugehen, fuchtelte Verna hektisch mit ihrem Reisebuch vor Richards Gesicht herum. »Jagang schreibt, bei Neumond sei es so weit. Er verlangt deine Antwort. Bekommt er sie nicht, schreibt er, wüsstest du, welche Folgen das haben würde.«

Richards Blick ging zu Nathan. Der Prophet wirkte mehr als düster. Auch Cara und General Meiffert schienen angespannt. Zehntausende Menschen waren ihrem Schutz anvertraut, und sie mussten hilflos mit ansehen, wie ihnen allen schon in Kürze ein grausames Ende drohte. Von unten drang leiser Sprechgesang herauf.

»Führe uns, Meister Rahl. Lehre uns, Meister Rahl. In Deinem Licht werden wir gedeihen. Deine Gnade gebe uns Schutz. Deine Weisheit beschämt uns. Wir leben nur, um zu dienen. Unser Leben gehört Dir.«

Richard rieb sich mit den Fingerspitzen die Stirn und versuchte, den immer mehr anschwellenden Kloß in seiner Kehle hinunterzuschlucken. Aus mehr als einem Grund blieb ihm gar keine andere Wahl. Mit bedrohlicher Endgültigkeit blickte er auf zu Verna. »Richtet Jagang aus, dass ich seine Bedingungen akzeptiere.«

Vernas Gesicht verfärbte sich tiefrot. »Du akzeptierst?«

»Was redet ihr da eigentlich?«, fragte Kahlan rechts neben ihm. Es war ein wenig ermutigend, den Unterton erwachender Autorität in ihrer Stimme zu hören, dennoch überging er sie und wandte sich stattdessen an Verna.

Nur mit Mühe konnte er seine Stimme beherrschen. »Richtet ihm aus, ich hätte beschlossen, ihre Forderungen zu erfüllen. Ich bin mit seinen Bedingungen einverstanden.«

»Ist das dein Ernst?« Verna konnte ihre Aufgebrachtheit kaum unterdrücken. »Du willst, dass ich ihm ausrichte, wir kapitulieren?«

»Ja.«

»Was!« Kahlan krallte ihre Hand in seinen Hemdsärmel, drehte ihn herum und zog ihn zu sich heran. »Du darfst nicht vor ihm kapitulieren.«

»Ich muss. Es ist die einzige Möglichkeit, all die Menschen dort unten vor Folter und Tod zu bewahren. Wenn ich den Palast aufgebe, wird er sie am Leben lassen.«

»Und das glaubst du ihm auf sein bloßes Wort hin?«, wollte Kahlan wissen.

»Ich habe keine Wahl. Es ist die einzige Möglichkeit.«

»Hast du mich hierher zurückgebracht, um mich diesem Ungeheuer auszuliefern?« Tränen des Zorns, der Verletztheit standen in Kahlans grünen Augen. »Deswegen wolltest du mich unbedingt wiederfinden?«

Richard wandte den Blick ab. So ziemlich alles hätte er dafür gegeben, ihr endlich erklären zu können, wie sehr er sie tatsächlich liebte. Wenn er schon in den Tod ging, dann sollte sie wenigstens wissen, wie er in Wahrheit für sie empfand, und dass er sie nicht geheiratet hatte, weil er sich an eine Abmachung gebunden fühlte und sie jetzt als Unterpfand einer Kapitulation missbrauchte. Es zerbrach ihm das Herz, dass sie so dachte.

Trotzdem, er hatte keine Wahl. Sobald er das sterile Feld beeinträchtigte, wäre die Kahlan, die er kannte, für immer verloren - wenn das nicht schon Samuel besorgt hatte und sie längst für ihn verloren war. Er richtete sein Augenmerk auf etwas anderes. »Wo ist eigentlich Nicci?«, fragte er Nathan.

»Hinter Schloss und Riegel, wie du es mir aufgetragen hast, bis Jagang sie abholen kann.«

Kahlan fuhr ihn an. »Jetzt willst du auch noch die Frau, die du liebst, diesem ... diesem Schurken ausliefern ...«

Richard hob die Hand und bat um Ruhe.

Er entspannte sich und wandte sich herum zu Verna. »Tut, was ich sage.«

Sein Tonfall ließ keinen Zweifel daran, dass dies ein Befehl war, der weder diskutiert, geschweige verweigert werden durfte. Während alle schweigend, wie gelähmt, dastanden, machte sich Richard auf den Weg. »Ich erwarte euch im Garten des Lebens.«

Er musste nachdenken.

Kahlan war die Einzige, die ihm folgte.

Das allmählich schwindende Tageslicht fiel durch die bleiverglaste Decke. Es war die Nacht des Neumondes - die dunkelste Nacht des Monats. Richard hatte gehört, dass bei dieser Art von Dunkelheit die Welt des Lebens näher an das Totenreich heranrückte.

Während der Stunden des Wartens, bis Jagang es endlich bis hinauf zur Hochebene und in den Garten des Lebens geschafft haben würde, war Richard unablässig tief in Gedanken versunken auf und ab gegangen und hatte über die beiden Welten nachgedacht - die Welt des Lebens und das Totenreich.

Er sah zu seinem Großvater hinüber, der ganz in der Nähe schweigend auf dem niedrigen, rankenüberwucherten Mäuerchen saß. Zedd erwiderte seinen Blick, trotzdem war nicht zu übersehen, wie traurig es ihn stimmte, dass er ihm nicht helfen konnte.

»Tut mir leid«, sagte Kahlan.

Richard sah sie an. »Was?«

»Tut mir leid, es muss eine schlimme Entscheidung gewesen sein. Ich weiß, du versuchst nur zu verhindern, dass Jagangs Rohlinge all die Menschen hier abschlachten. Ich wünschte, ich könnte ihn mit meiner Konfessorinnenkraft überwältigen.«

Konfessorinnenkraft - zum ersten Mal ins Leben gerufen bei Magda Searus, jener Frau, die mit Baraccus verheiratet war. Nur war sie während des Großen Krieges mit ihm verheiratet gewesen, lange bevor sie Konfessorin wurde ...

»Bei den Gütigen Seelen«, sagte er leise bei sich, als ihm die Erkenntnis eiskalt durch die Adern schoss.

Baraccus hatte ihm das Buch hinterlassen, um ihm mitzuteilen, was er wissen musste.

Und genau das hatte er getan.

Mit zitternden Fingern holte er das weiße Tuch mit den beiden Tintenflecken hervor, faltete es auseinander und betrachtete die beiden genau gegenüberliegenden Flecken.

»Jetzt begreife ich. Bei den Gütigen Seelen, jetzt weiß ich, was ich tun muss.«

Kahlan beugte sich vor, um auch einen Blick auf das Tuch zu werfen.

»Was begreifst du?« Plötzlich war ihm alles klar.

Fast wäre er in irres Gelächter ausgebrochen. Plötzlich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen.

Zedd, die Stirn tief in Falten, betrachtete ihn ebenfalls. Er kannte ihn gut genug, um zu erkennen, dass er das Rätsel gelöst hatte. Als Richard ihn daraufhin ansah, bedachte ihn sein Großvater mit einem kaum merklichen Lächeln und einem stolzen Nicken, obwohl er keine Ahnung hatte, was Richard denn nun herausgefunden hatte. Der plötzliche, von in den Garten eindringenden Personen ausgelöste Tumult ließ alle den Blick heben. Ihren Anweisungen entsprechend, machten die wenigen Männer der Ersten Rotte augenblicklich Platz, ohne den geringsten Widerstand zu leisten. Richard erblickte Jagang an der Spitze einer durch die Tür hereinströmenden Menschenwoge, und neben ihm Schwester Ulicia. Dahinter folgten weitere Schwestern, in den Händen die Kästchen der Ordnung. Schwer bewaffnete Gardesoldaten marschierten im Gleichschritt durch die Doppeltür und verteilten sich wie eine dunkle Flut im Garten.

Jagangs Auftreten, sein glühender, niemals nachlassender Hass, entweihte nicht nur den Garten des Lebens, er bestimmte seine ganze Persönlichkeit.

Innerlich konnte sich Richard ein Lächeln nicht verkneifen. Als der Kaiser den Pfad zwischen den Bäumen entlangschritt, vorbei an den Beeten längst verwelkter Blumen und dem niedrigen, rankenbewachsenen Mäuerchen, war der Blick aus seinen vollkommen schwarzen Augen auf Richard gerichtet. Hinter ihm schwärmten seine kaiserlichen Gardetruppen aus, um einen Schutzring zu bilden. Ein herablassendes Lächeln im Gesicht, passierte Jagang den Zauberersand und überquerte die Rasenfläche.

Bestimmt von seinem Hass.

Die Schwestern stellten die drei tiefschwarzen Kästchen auf der breiten, von zwei kurzen, gekehlten Postamenten gestützten Granitplatte ab. Die anderen Anwesenden im Garten beachtete Schwester Ulicia gar nicht. Ganz auf ihre Aufgabe konzentriert, blickte sie nur kurz zu Richard, ehe sie das Buch auf den granitenen Altar vor die Kästchen legte. Unverzüglich entzündete sie mit ausgestreckter Hand ein Feuer in der Grube, dessen Licht den Schein der Fackeln noch verstärkte. Nacht brach herein. Der Neumond ging auf, und Dunkelheit senkte sich herab, eine Dunkelheit, die alles übertraf, was je ein Lebender erlebt hatte. Richard war diese Dunkelheit nur zu vertraut. Er war dort gewesen.

Gemessenen Schritts trat Jagang vor und baute sich vor Richard auf, so als wollte er ihn zum Zweikampf auffordern. Richard wich nicht zurück.

»Ich bin froh, dass du zur Vernunft gekommen bist.« Sein Blick wanderte zu Kahlan. Er betrachtete sie mit lüsternem Blick. »Und ich bin froh, dass du mir deine Frau mitgebracht hast. Um sie werde ich mich später kümmern.« Er sah wieder in Richards Augen. »Ich bin sicher, was ich vorhabe, wird dir nicht gefallen.«

Richard erwiderte den bohrenden Blick, verzichtete aber auf eine Erwiderung. Im Grunde gab es auch nichts zu sagen.

Trotz seiner furchteinflößenden Erscheinung, seiner vollkommen schwarzen Augen, seines kahlrasierten Schädels und seiner Art, seine Muskeln wie auch seinen erbeuteten Schmuck zur Schau zu stellen, wirkte Jagang mehr als müde, er wirkte ausgelaugt. Richard wusste, dass den Kaiser Albträume, mehr noch, unheimliche Träume über Nicci plagten. Er wusste es, weil er sie ihm selbst eingegeben hatte, durch Jillian, die Knochenpriesterin, die Traumwirkerin, die demselben Volk entstammte wie Jagang.

Der Kaiser stürmte hinüber zu der Stelle, wo Schwester Ulicia vor dem Zauberersand ausharrte. »Worauf wartest du? Fang an. Je früher es beendet ist, desto eher können wir damit beginnen, den letzten Widerstand gegen die Herrschaft des Ordens zu brechen.«

»Jetzt verstehe ich«, murmelte die dicht neben ihm stehende Kahlan bei sich, so als hätte auch sie eben eine Offenbarung gehabt. »Jetzt begreife ich, wen er durch mich verletzen will, und warum das so schrecklich wäre.«

Einen Ausdruck plötzlichen Begreifens im Gesicht, blickte sie auf und sah Richard in die Augen.

Doch gerade jetzt konnte er es sich nicht erlauben, abgelenkt zu werden. Er richtete sein Augenmerk wieder auf die Schwestern. Noch immer gab es ein, zwei Dinge, die es zu bedenken galt. Er musste sichergehen, dass alles zusammenpasste, denn sonst wäre dies ihr aller Tod - und er wäre schuld daran.

Mehrere Schwestern waren vor dem Zauberersand niedergekniet und strichen ihn zur Vorbereitung glatt. Aus ihrer perfekten Zusammenarbeit schloss Richard, dass sie, um sich vorzubereiten, das Original des Buches der gezählten Schatten bereits durchgearbeitet und die Verfahren und Zaubersprüche auswendig gelernt hatten.

Zu seiner Überraschung machten sie sich alle gemeinsam daran, die erforderlichen Elemente zu zeichnen, die er aus seinem Buch der gezählten Schatten bereits kannte. Eigentlich hatte er erwartet, dies würde Schwester Ulicia übernehmen, die auch die Kästchen ins Spiel gebracht hatte. Doch stattdessen ging sie, während die anderen ihre Arbeit taten, von einem Symbol zum nächsten und fügte die letzten vervollständigenden Linien hinzu. Ihm dämmerte, dass dies durchaus sinnvoll war. Es kam einzig darauf an, dass die Elemente gezeichnet wurden, und auf diese Weise ließe sich viel Zeit sparen. Da Schwester Ulicia diese Aufgabe übernommen hatte, nahm er an, dass der Text irgendeine Bedingung enthielt, der zufolge der Spieler beteiligt sein musste, möglicherweise, indem er die Bannformen vervollständigte. Sie war es, die die Macht der Ordnung heraufbeschwor, sie war die Spielerin. Doch Jagang hatte von ihrem Verstand Besitz ergriffen, somit war er es, der letztendlich die Macht der Ordnung kontrollierte. Richard erinnerte sich noch gut, wie lange Darken Rahl damals für die Durchführung sämtlicher Verfahren gebraucht hatte. So wie die Schwestern vorgingen, würde es diesmal nicht annähernd so lange dauern. Zudem ermöglichte ihnen die Arbeitsteilung, die Arbeit in einfachere Arbeitsgänge aufzuteilen.

Jagang kehrte zu Richard zurück. »Wo ist Nicci?«, fuhr er ihn knurrend und mit einem zornigen Funkeln in den schwarzen Augen an. Richard hatte sich schon gefragt, wie lange es wohl dauern würde, bis er die Frage stellte. Sie kam früher als erwartet.

»Sie wird, wie versprochen, für Euch hinter Schloss und Riegel gehalten.«

Jagangs zornige Miene wich einem Feixen. »Wirklich schade, dass du das Ja’La nicht wirklich beherrschst.« »Immerhin habe ich Euch geschlagen.«

Jagangs Feixen wurde nur noch breiter. »Letztendlich nicht.«

Als der Kaiser sein ungeduldiges Aufundabgehen wiederaufnahm, dirigierte Schwester Ulicia das Zeichnen der Elemente mithilfe des Buches und las, sofern erforderlich, die einschlägigen Textpassagen vor. Richard begriff, was sie dort zeichneten. Einige Teile entsprachen dem Tanz mit dem Tod. Als Darken Rahl sie damals gezeichnet hatte, waren sie ihm noch völlig rätselhaft erschienen, doch jetzt ergab ihre Sprache in seinen Augen durchaus Sinn.

Jagangs Gereiztheit schien mit jedem Moment zuzunehmen. »Ich werde Nicci holen gehen. Es gibt keinen Grund, warum ich hier herumstehen sollte, während ihr arbeitet. Durch eure Augen kann ich das Geschehen ebenso gut verfolgen.«

Schwester Ulicia verneigte ihren Kopf. »Sehr wohl, Exzellenz.«

Er richtete seinen funkelnden Blick auf Richard. »Wo ist sie?«

Richard wies auf einen nicht weit entfernt stehenden Offizier der Ersten Rotte, jenen Mann, den Richard zu ebendiesem Zweck abgestellt hatte. Es waren nur wenige Soldaten der Ersten Rotte anwesend, sie alle hatten mit Richard auf das Eintreffen der Imperialen Ordnung gewartet. Sie waren angetreten, um ihm bis zum bitteren Ende zur Seite zu stehen.

»Geleitet den Kaiser zu Niccis Zelle«, wies er den Offizier an. Der Mann salutierte mit einem Faustschlag auf sein Herz. Bevor er Jagang fortbegleitete, wandte sich der Kaiser, einen zufriedenen Ausdruck im Gesicht, noch einmal herum zu Richard.

»Wie es scheint, hast du nun auch die letzte Phase des Ja’La dh Jin verloren.«

Richard hätte gerne angemerkt, dass die Spielzeit noch nicht abgelaufen und das Spiel noch nicht vorüber war, stattdessen schaute er jedoch einfach zu, wie er sich entfernte, und wartete darauf, dass der Albtraum ernsthaft begann.

Kahlan stand schweigend neben ihm. Ihre Art ihn anzusehen, hatte etwas Beklemmendes.

Auch Zedd und Nathan schienen in ihre eigenen Gedanken versunken. Verna schien verärgert und verbittert, dass es so weit hatte kommen können. Richard konnte es ihr nicht verdenken. Cara, die neben Meiffert stand, ergriff dessen Hand. Mit den anderen aus seinem Gefolge hatte Jagang auch Jennsen in den Garten mitgebracht. Die kaiserlichen Gardisten hielten sie auf ihrer Seite des Raumes zurück. Tom ließ sie keinen Moment aus den Augen. Sie erwiderte seinen Blick, außerstande ihm all die Dinge zu sagen, die sie ihm ganz offenkundig mitzuteilen hatte.

Cara schob sich ein Stück näher. »Was immer jetzt geschieht, Lord Rahl, ich werde Euch bis zum letzten Atemzug zur Seite stehen.«

Richard antwortete mit einem anerkennenden Lächeln. Zedd, der nicht weit entfernt saß, nickte zum Zeichen, dass er die Dinge ähnlich sah. Benjamin schlug sich leicht mit der Faust aufs Herz. Selbst Verna rang sich schließlich ein Lächeln ab und nickte einmal kurz. Sie alle standen hinter ihm.

Kahlan, ganz nah bei ihm, meinte leise: »Wäre es in Ordnung, wenn du einfach meine Hand halten würdest?«

Richard konnte sich nicht vorstellen, wie allein sie sich in diesem Augenblick fühlen musste. Schweren Herzens, weil er sich ihr nicht erklären durfte, kam er ihrer Bitte nach.

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