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Die Spieler, ausnahmslos mit nacktem Oberkörper, lösten sich in einer Reihe marschierend aus einer dichten Gruppe grimmig drein-blickender Gardisten mit schussbereiten Pfeilen. Jeder einzelne der sich zur Spielfeldmitte begebenden Männer war mit seltsamen, roten Symbolen bemalt, deren Linien, Schnörkel und Bögen ihre Gesichter, Oberkörper, Schultern und Arme bedeckten.

Sie sahen aus, als wären sie vom Hüter der Unterwelt höchstselbst mit Blut gezeichnet worden.

Kahlan fiel auf, dass die Körperbemalung des an der Spitze gehenden Spielers zwar ein ähnliches Muster aufwies, sich gleichwohl aber leicht von der der anderen unterschied. Außerdem trug er als Einziger einen Doppelblitz im Gesicht, dessen beide Hälften, beginnend jeweils an den Schläfen, spiegelbildlich im Zickzack über seine Brauen verliefen, anschließend Lider und Wangenknochen kreuzten und schließlich an einem Punkt in den Vertiefungen der Wange endeten. Ein Effekt, den sie als bis ins Mark beängstigend empfand. Mitten zwischen diesen Doppelblitzen funkelten zwei raubtierhaft stechende, graue Augen hervor.

Das verwirrende Geflecht von Linien erschwerte es, das Aussehen des Mannes darunter einzuschätzen, denn die seltsamen Symbole, vor allem aber die Blitze selbst, entstellten seine Züge. Plötzlich wurde ihr klar, dass er eine Möglichkeit gefunden hatte, seine Identität auch ohne eine Schlammschicht zu verbergen. Sie vermied es, auch nur das geringste Lächeln über ihre Züge huschen zu lassen. Sie war erleichtert, gleichzeitig hätte sie aber auch gerne sein Gesicht gesehen, gesehen, wie er tatsächlich aussah.

Obwohl von nicht ganz so riesiger Statur, wie einige seiner eher ungeschlachten Mitspieler, war er durchaus groß und muskulös, wenn auch auf andere Weise als einige der schwerfälligen, muskelbepackten bulligen Kerle. Vielmehr war sein Körper überall wohlproportioniert. Während sie ihn betrachtete, überkam sie plötzlich die Angst, alle könnten sehen, wie gebannt sie den Mann anstarrte. Sie spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht schoss.

Nichtsdestoweniger konnte sie nicht die Augen von ihm lassen. Aus irgendeinem Grund schien sie dagegen machtlos. Zum ersten Mal sah sie ihn deutlich vor sich, und irgendwie sah er genauso aus, wie sie erwartet, oder besser, wie sie es sich erträumt hatte. Auf einmal erschien ihr der erste Tag des Winters beinahe warm.

Sie fragte sich, wie dieser Mann wohl zu ihr stand, zwang sich dann aber, ihre Phantasie zu zügeln. Sie wagte nicht, sich in Tagträumen über Dinge zu ergehen, die niemals in Erfüllung gehen konnten. Während die andere Angriffsspitze unbekümmert lachte, stand der Mann mit den grauen Augen abwartend vor dem Schiedsrichter und fixierte sein Gegenüber mit stechendem Blick.

Im selben Moment, da sie die aufgemalten Muster sah, wurde ihr klar, dass diese Soldaten darin nichts als leere Prahlerei sehen würden. Die Bemalung war eine klare Ansage, die, sofern nicht untermauert von einem Mann mit entsprechendem Charakter, unter diesen Umständen als schlimmstmöglicher Hochmut ausgelegt werden würde, eine Anmaßung, die ihm eine überaus brutale, wenn nicht gar tödliche Behandlung eintragen würde.

Sein Gesicht zu verbergen, das war eine Sache, dies dagegen etwas völlig anderes. Durch diese mit Farbe aufgetragene Ankündigung brachte er sich und seine Mannschaft in allergrößte Gefahr. Fast schien es, als sollten die Blitze sicherstellen, dass niemand übersah, dass er die Angriffsspitze war, als wollte er die Aufmerksamkeit der anderen Mannschaft auf seine Person lenken. Der Grund für dieses Verhalten war ihr völlig unverständlich.

Die nicht bemalte Mannschaft war, dem Beispiel ihrer Angriffsspitze folgend, in Gelächter ausgebrochen, dem sich mittlerweile auch das Publikum angeschlossen hatte, das die angemalten Spieler, vor allem aber deren Angriffsspitze, nun unter lautem Johlen unflätig beschimpfte. Kahlan war jenseits allen Zweifels klar, dass man kaum einen verhängnisvolleren Fehler begehen konnte, als diesen Mann auszulachen. Regungslos wie aus Stein harrte die bemalte Mannschaft aus, während das Publikum sich in einer Orgie aus Spott und Gelächter erging und die gegnerische Mannschaft sie mit Beleidigungen und Schmähungen überhäufte.

Die gegnerischen Spieler überhäuften den Mann mit den Blitzen im Gesicht mit derart üblen Schmähungen, dass Kahlan Jillian unbewusst ein Ohr zuhielt und ihren Kopf an ihre Brust zog. Sie hüllte ihren Umhang um die Kleine. Was ihnen bevorstand, wusste sie nicht, sie wusste nur eins: Dieses Spiel war kaum der geeignete Aufenthaltsort für ein junges Mädchen.

Die Angriffsspitze mit dem Doppelblitz stand da mit ausdrucksloser Miene, die nichts über mögliche Gefühle verriet. Kahlan fühlte sich daran erinnert, wie sie selbst angesichts bestimmter grauenhafter Herausforderungen eine völlig ausdruckslose Miene aufsetzte, einen leeren Blick, der niemandem verriet, was sich in ihrem Innersten zusammenbraute.

Und doch sah sie den unterdrückten Zorn in seiner äußerlichen Ruhe. Er schaute kein einziges Mal in ihre Richtung - seine ganze Kon99

zentration galt allein seinem Widersacher -, aber ihn allein schon dort in seiner vollen Größe stehen zu sehen, sein Gesicht, das unter den aufgemalten Linien kaum zu erkennen war, seine Körperhaltung, und ihn längere Zeit betrachten zu können, ohne sofort wieder den Blick abwenden zu müssen ... ließ ihr die Knie weich werden. Kommandant Karg bahnte sich einen Weg durch die Mauer aus Gardisten, um sich am Spielfeldrand zu Kaiser Jagang zu gesellen, und verschränkte, offenbar nicht im Mindesten beeindruckt von dem Aufruhr, den seine Mannschaft verursachte, die muskulösen Arme vor der Brust. Kahlan fiel auf, dass Jagang nicht, wie alle anderen, lachte. Er lächelte nicht einmal. Kommandant und Kaiser steckten die Köpfe zusammen und unterhielten sich mit Worten, die Kahlan jedoch wegen des Gegröles, des Gelächters und der boshaften, von der Menge gejohlten Schmähungen nicht verstand.

Während dieser länger dauernden Unterredung ging die gegnerische Mannschaft dazu über, mit erhobenen Armen um das Feld zu tanzen und sich in der Gunst des Mobs zu suhlen, dabei hatte sie noch keinen einzigen Punkt erzielt.

Diese Soldaten, Anhänger dogmatischer Glaubensüberzeugungen, kannten nur ein einziges Motiv: den Hass. Selbstbewusste Gelassenheit eines Individuums empfanden sie als Arroganz, Können als ungerecht, und diese Ungleichheit als beängstigend. Jagangs Worte kamen ihr in den Sinn: »Die Bruderschaft der Ordnung lehrt uns: der Versuch, sich über andere zu erheben, bedeutet, dass man geringer ist als alle.«

Ebendieses Bekenntnis war es, woran die hier zuschauenden Soldaten glaubten, weshalb ihnen diese Männer allein schon wegen ihrer durch die Bemalung proklamierten Überlegenheit verhasst waren. Gleichzeitig waren sie gekommen, um eine Mannschaft triumphieren zu sehen. Solche jeder Vernunft hohnsprechenden Glaubensüberzeugungen, wie sie die Bruderschaft der Ordnung lehrte, konnten nur zu endlosen Verstrickungen in Widersprüche, Begehrlichkeiten und Gefühle führen. Selbst mit dem simpelsten gesunden Menschenverstand nachvollziehbare Unzulänglichkeiten wurden durch großzügige Auslegung der Glaubensinhalte überdeckt. Und wer in Fragen des Glaubens zweifelte, galt als Sünder.

Diese Männer waren in die Neue Welt aufgebrochen, um alle Sünder auszumerzen.

Zu guter Letzt stellte der Schiedsrichter die Ordnung wieder her, indem er die Menge aufforderte, sich zu beruhigen, damit das Spiel beginnen konnte.

Als die Zuschauer sich beruhigt hatten, zumindest einigermaßen, wies der Mann mit den grauen Augen auf die Strohhalme in der Hand des Schiedsrichters, eine Aufforderung an sein Gegenüber, zuerst zu ziehen. Der kam ihr auch nach, mit einem Lächeln über seine Wahl, da es sich seiner Meinung nach gewiss nur um den längeren handeln konnte. Der Mann mit den grauen Augen zog einen noch längeren Strohhalm. Unter dem missfälligen Gejohle des Publikums reichte der Schiedsrichter dem Mann mit dem bemalten Gesicht den Broc.

Doch anstatt sich in seine Hälfte des Spielfeldes zu begeben, um seinen Angriff zu beginnen, wartete er einen Moment ab, bis sich die Menge abermals ein wenig beruhigt hatte. Dann überließ er den Broc mit einer freundlichen Geste der gegnerischen Angriffsspitze - und verwirkte damit sein erstes Angriffsrecht und somit seine Möglichkeit zu punkten. Diese unerwartete Wendung ließ die Menge in schallendes Gelächter ausbrechen. In ihren Augen konnte es sich bei der bemalten Angriffsspitze nur um einen Dummkopf handeln, der der gegnerischen Mannschaft soeben den Sieg geschenkt hatte. Sie jubelte, als hätte ihre Mannschaft die Partie bereits gewonnen.

Innerhalb der eigenen Mannschaft rief die Aktion ihrer Angriffsspitze keinerlei Reaktion hervor. Stattdessen entfernten sich die Männer in ganz nüchtern geschäftsmäßiger Manier und nahmen ihre Positionen am linken Spielfeldrand ein, bereit, sich dem ersten Ansturm entgegenzustemmen.

Als das Stundenglas umgedreht wurde und das Horn erklang, verschwendete die angreifende Mannschaft keine Zeit. Auf einen schnellen Treffer aus, griffen sie augenblicklich an und stürmten, einen Schlachtruf auf den Lippen, über das Spielfeld. Unter dem ohrenbetäubenden Tosen der Menge rannte die bemalte Mannschaft ihnen entgegen. Kahlan spannte in Erwartung des fürchterlichen Zusammenpralls aus Fleisch und Knochen ihre Muskeln an. Doch dann kam alles völlig anders.

Die bemalte oder »rote« Mannschaft, wie die Gardesoldaten sie mittlerweile zu nennen beliebten, scherte aus ihrer Angriffsrichtung aus, teilte sich in zwei Hälften auf, umging die vorrückenden Blocker in zwei Gruppen und hielt stattdessen auf die Rückraumdecker zu. Normalerweise wäre ein solch ebenso unerwarteter wie amateurhafter Fehler ein Glücksfall für die zu punkten versuchende Mannschaft gewesen. Hinter ihren Blockern und Flügelstürmern brach die Angriffsspitze mit dem Broc durch die von der roten Mannschaft hinterlassene Lücke und spurtete in gerader Linie über das Spielfeld. Doch dann schwenkten die beiden Flügel der roten Mannschaft urplötzlich herum, so dass sich die Bresche in einer gewaltigen Zangenbewegung schloss, wodurch die angreifenden Blocker nach innen gedrängt wurden. Die rote Angriffsspitze hielt genau auf deren Mitte zu – mitten zwischen die ihr entgegenstürmenden Blocker. Just als diese den Mann zu Fall zu bringen versuchten, wich er einem aus, wirbelte herum und schlüpfte zwischen zwei weiteren hindurch.

Das soeben Beobachtete ließ Kahlan ungläubig blinzeln. Fast schien es, als hätte er sich, einem Melonensamen gleich, durch ein halbes Dutzend auf ihn zustürzender Gegenspieler hindurchgequetscht. Einer der größeren Spieler der roten Mannschaft, vermutlich ein Flügelstürmer, hielt auf die mit dem Broc heranstürmende Angriffsspitze zu, nur um unmittelbar vor dem Zusammenstoß vorzeitig abzutauchen, so dass sein Block zu tief geriet. Der Mann mit dem Broc sprang einfach über ihn hinweg. Die Menge bejubelte die Leichtfüßigkeit, mit der er sich der Attacke entzogen hatte.

Doch auch der Spieler mit dem Doppelblitz setzte in hohem Bogen über seinen Flügelstürmer hinweg. Er stieß sich von dessen Rücken ab, prallte mitten im Flug mit der gegnerischen Angriffsspitze zusammen, legte den Arm um seinen Gegenspieler und riss ihn in der Luft herum. Der Richtungswechsel erfolgte mit solcher Plötzlichkeit, dass ihm der Broc aus den Händen glitt. Während er auf den Boden schlug, bekam der Spieler mit den grauen Augen den nun herrenlosen Broc noch in der Luft zu fassen, ehe er mit dem Fuß auf dem Hinterkopf des anderen landete und dessen Gesicht in den Morast drückte.

Kahlan war sofort klar, dass er ihm mühelos das Genick hätte brechen können, aber ganz bewusst darauf verzichtet hatte.

Blocker stürzten sich von allen Seiten auf die nun den Broc führende Angriffsspitze. Sie drehte sich zur Seite und wechselte die Richtung, so dass ihr Ansturm ins Leere ging und sie stattdessen ihren eigenen Spieler unter sich begruben.

Auch wenn die rote Mannschaft in Ermangelung des Angriffsrechts trotz Brocbesitz nicht zu punkten vermochte, so konnten sie doch die gegnerische Mannschaft daran hindern. Aus irgendeinem Grund jedoch stürmte der Spieler mit den grauen Augen, flankiert von seinen beiden Flügelstürmern sowie der Hälfte seiner Blocker, in einer perfekten Keilformation quer über das Spielfeld. Kaum hatten die rot bemalten Spieler die Wurfzone in der gegnerischen Spielhälfte erreicht, schleuderte deren Angriffsspitze den Ball in eins der Netze.

Dann lief er dem Broc hinterher, fischte ihn aus dem Netz und behielt ihn nicht etwa in seinem Besitz, um dem Gegner die Möglichkeit zum Punkten zu verwehren, sondern trabte zurück über das ganze Spielfeld, ehe er ihn mit einem lockeren Unterarmwurf der noch immer auf den Knien kauernden und Schlamm spuckenden gegnerischen Angriffsspitze zuwarf.

Durch die Menge ging ein Aufschrei ungläubigen Staunens. Das soeben Gesehene bestätigte Kahlan, wovon sie von Anfang an überzeugt gewesen war, als sie in die raubtierhaften Augen des Mannes geblickt hatte: Dieser Mann war überaus gefährlich - gefährlicher noch als selbst Jagang, wenn auch auf andere Art.

Zu gefährlich, um ihn am Leben zu lassen. Hatte Jagang erst einmal erkannt, was sie bereits wusste - sofern es ihm nicht längst klar war -, war nicht auszuschließen, dass er diesen Mann töten lassen würde. Die Mannschaft im Besitz des ersten Angriffsrechts trug den Broc zu ihrem Ausgangspunkt in der rechten Spielfeldhälfte zurück und stürmte dann, wild entschlossen, diese Scharte auszuwetzen, übers Feld, um endlich einen zählbaren Erfolg zu erringen. Doch anstatt zu versuchen, den Angriff so weit vor ihrem Tor wie möglich zu stoppen, harrte die rote Mannschaft überraschenderweise aus. Ein vermeintlicher Fehler, nicht jedoch in Kahlans Augen.

Die Angreifer erreichten die rote Mannschaft und drangen mitten zwischen die Verteidiger. Diese stoben völlig unvermittelt in alle Himmelsrichtungen auseinander und entgingen so den Blockern, die sich ihrer Sache zu sicher gewesen waren. Dann schwenkten sie in vollem Lauf herum und bildeten eine Halbkreisformation, mit der sie die gegnerischen Flügelstürmer, Blocker und sogar ihre Angriffsspitze niedermähten. Der kräftige Flügelstürmer der bemalten Mannschaft entriss ihm den Broc und schleuderte ihn so hoch wie möglich in die Luft, so dass er von der Angriffsspitze mit den Doppelblitzen im Gesicht, die sich mithilfe mehrerer geschickter Körpertäuschungen einen Weg durch die Reihen der angreifenden Spieler gebahnt hatte und nun in vollem Lauf angerannt kam, abgefangen werden konnte, ehe er den Boden berührte.

Ganz allein hatte er die gesamte ihn verfolgende gegnerische Mannschaft hinter sich gelassen. Am gegenüberliegenden Spielfeldende angelangt, wuchtete er den Broc in das Netz des Tores gegenüber dem seines ersten Treffers. Fast mühelos wich er den sich ihm entgegenstürzenden Blockern aus, die hart neben ihm auf den Boden schlugen, trabte zum Tornetz und nahm den Broc abermals an sich.

»Wer ist dieser Bursche?«, erkundigte sich Jagang mit gesenkter Stimme. Kahlan wusste sofort, wen er meinte.

»Rüben lautet sein Name«, antwortete Kommandant Karg. Was nicht der Wahrheit entsprach.

Kahlan war sich völlig sicher, dass der Mann nicht so hieß. Obwohl sie keine Ahnung hatte, wie sein wahrer Name lautete, Rüben war es jedenfalls nicht. Rüben war eine Maskerade, genau wie zuvor der Schlamm und nun die rote Bemalung.

Plötzlich wunderte sie sich, was sie auf diesen Gedanken brachte. Seine Art, sie anzusehen, hatte ihr gleich bei der ersten Begegnung ihrer Blicke verraten, dass er sie kannte, was bedeutete, dass er höchstwahrscheinlich jemand aus ihrer Vergangenheit war. Sie selbst dagegen hatte kein Erinnerung an ihn. Sie wusste nur, dass sein wahrer Name nicht Rüben lautete.

Das Horn erklang und verkündete das Ende des ersten Spielabschnitts. Dann wurde das Stundenglas herumgedreht, und das Horn erschallte erneut. Die rote Mannschaft hatte sich bereits hinter den Startpunkt in ihrer Hälfte des Spielfeldes zurückgezogen, ohne sich die Mühe zu machen, den Vorteil zu nutzen und sich in jene Felder zu begeben, von wo aus sie ihren Angriff beginnen durfte. Stattdessen gab der Mann, der laut Kommandant Karg Rüben hieß und der den Broc bereits aufgenommen hatte, seiner Mannschaft ein verdecktes Handzeichen. Kahlan runzelte die Stirn und sah genauer hin. Noch nie hatte sie eine Angriffsspitze sich solcher Handzeichen bedienen sehen.

Für gewöhnlich funktionierten Ja’La-Spieler als loser Verbund mit einem Minimum an Koordination. Blocker, Flügelstürmer und Deckungsspieler, sie alle taten mehr oder weniger das, was ihre Position von ihnen verlangte - und was jeder Einzelne in der sich ergebenen Spielsituation für angemessen hielt. Der allgemein üblichen Taktik entsprechend war eine Mannschaft nur dann den unerwarteten sich im Spielverlauf ergebenden Abweichungen gewachsen, wenn jeder Spieler nach eigenem Gutdünken handelte. Jeder Einzelne, so schien es, reagierte demgemäß, was das Schicksal für ihn bereithielt.

Rubens Mannschaft ging anders vor. Auf das Zeichen wirbelten sie herum und liefen in geordneter Formation vor ihm her. Keineswegs traten sie als bestenfalls locker koordinierter Haufen auf, vielmehr bewegten sie sich wie eine disziplinierte Kampfformation auf dem Weg in eine Feldschlacht.

Die Spieler der gegnerischen Mannschaft, wütend und getrieben von dem Verlangen nach Rache, stürmten vor, um der brocführenden Mannschaft den Weg zu verstellen. Doch kaum hatte die rote Mannschaft die Mittellinie überquert, scherte sie geschlossen aus und hielt auf das Netz zu ihrer Rechten zu. Einer Meute reißender Bären gleich stürzten sich die Verteidiger auf sie. Ihre Blocker, die wussten, was sie zu tun hatten, waren fest entschlossen, die vorrückenden Angreifer noch vor Erreichen der Wurfzone zu stoppen.

Doch statt seinen Mitspielern hinterherzulaufen, scherte Rüben im letzten Augenblick nach links aus und rannte ganz alleine diagonal über das Spielfeld zum linken Netz. Der größte Teil beider Mannschaften prallte in einem gewaltigen Gedränge aufeinander, wobei einige der Verteidiger offenbar nicht einmal mitbekommen hatten, dass der Spieler, dem ihr Interesse galt, sich längst dem Pulk entzogen hatte. Lediglich ein Deckungsspieler, der ein Stück zurückgeblieben war, hatte Rubens Manöver mitbekommen und schaffte es, gerade noch rechtzeitig herumzuschwenken, um ihn zu blocken. Doch der erwischte ihn mit vorgeschobener Schulter mitten in der Brust, nahm ihm den Atem und schickte ihn zu Boden, ehe er ohne weitere Verzögerung die Wurfzone erreichte und den Broc ins Netz wuchtete.

Sofort spurtete die rote Mannschaft wieder in ihre Spielfeldhälfte zurück und nahm, solange noch Zeit blieb, ihre Positionen für einen zweiten Angriffszug ein. Während der Schiedsrichter mit dem Broc über das Spielfeld trabte, schauten sie bereits zu ihrem schwer atmenden Spielführer hinüber und erwarteten dessen Handzeichen. Das erfolgte in aller Knappheit und Kürze, ein Signal, in Kahlans Augen viel zu unscheinbar, um viel bedeuten zu können. Als der Schiedsrichter ihm den Broc zuwarf, sprintete er augenblicklich in vollem Tempo los. Seine Mannschaft war darauf vorbereitet und bildete vor ihm eine kurze, dicht geschlossene Linie.

Als der wutentbrannte, jegliche Ordnung vermissen lassende Haufen der anderen Mannschaft sie beinahe erreicht hatte, drehte die rote Mannschaft nach links ab, fing dadurch den Blockadeversuch ab und lenkte dessen ganze Wucht zur linken Seite hinüber. Rüben, der unmittelbar hinter der Reihe seiner Mitspieler lief, scherte aus nach rechts, rannte solo über das leere Spielfeld und schleuderte den Broc, ehe einer der Blocker ihn erreichen konnte, mit einem angestrengten Aufschrei von einem Punkt weit hinter der regulären Wurfzone. Es war überaus schwierig, einen Treffer aus der Tiefe des Rückraums heraus zu erzielen, weswegen ein gelungener Versuch von dort statt mit dem üblichen einen Punkt mit deren zwei belohnt wurde.

In hohem Bogen segelte der Broc über die Köpfe der Netzdecker hinweg, die ihn mit hektischen Sprüngen noch abzufangen versuchten. Verwirrt durch den auf gerader Linie vorgetragenen Angriff, hatten sie mit einem solchen Distanzwurf nicht gerechnet, so dass er sie vollkommen unvorbereitet traf.

Der Broc trudelte knapp bis ins Netz.

Augenblicke später erklang das Horn und verkündete das Ende des Angriffsrechts der roten Mannschaft.

Die Menge war wie vom Donner gerührt, viele starrten offenen Mundes. In ihrer ersten Angriffsphase hatte die rote Mannschaft drei Punkte errungen - ganz zu schweigen von den beiden ungültigen Versuchen, die Rüben zusätzlich erzielt hatte.

Bedrücktes Schweigen legte sich über die Arena, als die gegnerische Mannschaft zu einer geheimen Besprechung zusammenkam, um zu klären, wie man gegen die unerwartete Wendung der Dinge vorgehen solle. Ihre Angriffsspitze schien mit aufgebrachter Stimme einen Vorschlag zu machen, woraufhin seine Mitspieler feixend nickten und sich dann aufteilten, um ihren Spielabschnitt mit dem Broc in Angriff zu nehmen.

Als die Menge mitbekam, dass sie offenbar einen Plan ausgeheckt hatten, begann sie Anfeuerungen zu brüllen. Über diese Anfeuerungen hinweg erteilte die Angriffsspitze ihrer Mannschaft mit grimmiger Stimme Anweisungen. Zwei seiner Deckungsspieler reagierten mit einem Nicken auf die für Kahlan unverständlichen Kommandos.

Auf seinen Schrei hin stürmten sie über das Spielfeld nach vorn, ein dichtes Knäuel aus geballtem Ungestüm und Muskelkraft. Doch statt auf die Wurfzone zuzuhalten, schlug die Angriffsspitze unvermittelt einen Haken nach rechts und brachte den Angriff diagonal vom Kurs ab. Rüben und seine Mitspieler konnten gerade noch herumschwenken, um den Angriff abzufangen, aber nicht mehr rechtzeitig ihren vollen Schwung in die Waagschale werfen. Was folgte, war ein Zusammenprall mit brutaler Wucht, der einzig darauf abzielte, Rubens linken Flügelstürmer auszuschalten. Dabei gaben sich die Spieler nicht einmal mehr den Anschein, punkten zu wollen, sondern gaben dieses Vorhaben zugunsten der absichtlichen Verletzung eines gegnerischen Spielers auf, um die rote Mannschaft nachhaltig zu schwächen.

Als die Menge in der Erwartung, endlich Blut zu sehen, aufheulte, schälten sich die Männer einer nach dem anderen aus dem Gedränge hervor und rappelten sich wieder auf. Rot bemalte Spieler zerrten Gegenspieler aus dem Weg, um ihren unter dem Menschenberg begrabenen Mitspieler zu befreien. Wer als Einziger nicht mehr auf die Beine kam, war der linke Flügelstürmer der roten Mannschaft. Während die Mannschaft mit dem Broc zurückeilte, um für den nächsten Angriff in Position zu gehen, kniete Rüben neben dem gefoulten Spieler nieder und sah nach ihm. Sein Verzicht auf jegliche Eile machte deutlich, dass jede Hilfe zu spät kam. Sein linker Flügelstürmer lebte nicht mehr. Als er unter dem Jubel der Zuschauer fortgeschleift wurde, blieb eine breite Blutspur auf dem Geläuf zurück.

Rüben ließ seinen Raubtierblick an den Seitenlinien entlangwandern. Kahlan kannte dieses Taxieren. Fast konnte sie seine Gedanken spüren, denn sie hatte ebenfalls den Widerstand einzuschätzen versucht und die Möglichkeiten abgewogen. Als sich Rüben wieder erhob, spannten die Gardisten ihre Bögen mit den eingelegten Pfeilen.

»Was ist passiert?«, fragte Julian mit gedämpfter Stimme, während sie unter Kahlans Umhang hervorlugte. »Ich kann überhaupt nichts sehen.«

»Jemand ist verletzt worden«, gab Kahlan zurück. »Halt dich einfach warm. Es gibt nichts zu sehen.«

Jillian nickte und zog sich wieder in die Geborgenheit von Kahlans schützendem Arm und ihres wärmenden Umhangs zurück. Eine Ja’La-Partie wurde niemals unterbrochen, aus welchem Grund auch immer, und schon gar nicht wegen eines Toten auf dem Spielfeld. Eine tiefe Traurigkeit überkam Kahlan, dass der Tod eines Menschen offenbar fester Bestandteil dieses Spiels war und von den Zuschauern noch bejubelt wurde.

Mittlerweile sah es ganz so aus, als richteten die mit Bögen bewaffneten Soldaten rings um das Spielfeld, die die für die rote Mannschaft spielenden Gefangenen bewachen sollten, ihre Pfeile ausschließlich auf einen einzigen Mann. Damit hatten sie und der Mann mit den Blitzen im Gesicht etwas gemeinsam: Beide hatten sie Sonderbewacher. Als die Menge lautstark die Wiederaufnahme der Partie forderte, hatte Kahlan das Gefühl, dass eine seltsam angespannte Vorahnung in der Luft lag.

Der Broc wurde jener Mannschaft ausgehändigt, der noch immer ein kurzer Augenblick ihres Angriffsrechtes blieb. Als diese ihre Positionen einnahm, wusste sie, dass der Moment vorüber war.

Sie sah einen erbitterten Rüben seiner Mannschaft ein verdecktes Zeichen geben, das von jedem seiner Mitspieler mit einem kaum merklichen Nicken zur Kenntnis genommen wurde. Danach zeigte er ihnen, gerade lange genug, dass sie seine Absicht erkannten, heimlich drei Finger. Sofort nahmen sie in einer seltsamen Formation Aufstellung. Dann warteten sie kurz ab, während die gegnerische Mannschaft, von ihrem brutalen Spielzug befeuerte Schlachtrufe auf den Lippen, über das Spielfeld zu stürmen begann. Offenbar wähnten sie sich jetzt im Besitz eines taktischen Vorteils, der ihnen die Oberhand garantierte. Sie schienen überzeugt, von jetzt an das Spielgeschehen bestimmen zu können.

Die rote Mannschaft teilte sich in drei unabhängige Keilformati onen auf. Rüben setzte sich an die Spitze der kleineren in der Mitte und hielt auf die den Broc führende Angriffsspitze zu. Seine beiden Flügelstürmer, der Hüne rechts sowie ein frisch ernannter Mann auf seiner Linken, hatten die Führung des größten Teils der Blocker in den beiden Flankenkeilen übernommen. Einige Spieler aus der Mannschaft in Brocbesitz ließen sich während des Ansturms nach beiden Seiten hinaustragen, um die merkwürdige Auslegerformation abzublocken, für den Fall, dass diese versuchen sollte, in Richtung ihrer Angriffsspitze abzuschwenken.

Die seltsame Verteidigungstaktik rief unter den Gardisten Jagangs nicht wenige skeptische Blicke hervor. Nach ihren Kommentaren waren sie der Überzeugung, dass der roten Mannschaft wegen ihrer Aufteilung in drei Untergruppen die Stoßkraft einer ausreichenden Zahl von Blockern im Zentrum fehlte, um die Angriffsspitze mit dem Broc aufzuhalten, von der auf sie zustürmenden Übermacht ganz zu schweigen. Eine solche wenig wirksame Verteidigung würde den Angreifern einen leicht erzielten Treffer ermöglichen und die rote Mannschaft einen weiteren Spieler aus der Mittelgruppe kosten - sehr wahrscheinlich sogar die Angriffsspitze selbst, da sie nun praktisch schutzlos war.

Die beiden äußeren Keile der roten Mannschaft teilten die Flanken des Angriffs, ohne diesen jedoch in der erwarteten Manier zu blocken. Die Beine der Angreifer schnellten in die Höhe, als diese mit ungeheurer Gewalt herumgeschleudert wurden. Der von Rüben angeführte Mittelkeil prallte mit der Hauptgruppe der Blocker zusammen, die den Mann mit dem Broc sicherten. Der hielt ihn fest vor seinen Leib gepresst und setzte unmittelbar hinter einigen seiner Deckungsspieler über das übereinanderstolpernde Durcheinander seiner Männer hinweg. Rüben, jetzt im hinteren Teil seiner Keilformation, wich der heranstürmenden Reihe von Bewachern geschickt aus und sprang in vollem Lauf über die Ansammlung seiner Blocker hinweg. Sich mit einem Fuß abstoßend, drehte er sich in der Luft und konnte den Kopf der anderen Angriffsspitze mit seinem rechten Arm in den Schwitzkasten nehmen, als wollte er ihn zu Boden reißen. Stattdessen bewirkte seine schwungvolle Körperdrehung, dass dem Mann der Kopf mit einer ruckartigen Bewegung herumgerissen wurde.

Das Knacken, als das Genick der Angriffsspitze brach, war bis zu Kahlan zu hören. Beide Männer schlugen auf den Boden, Rüben obenauf, den Arm noch immer um den Hals des Mannes. Als die Spieler beider Mannschaften sich wieder aufrappelten, blieben zwei Mann der angreifenden Mannschaft liegen, einer auf jeder Seite des Spielfeldes. Die beiden wälzten sich mit gebrochenen Gliedern vor Schmerz am Boden.

Rüben erhob sich über der leblos in der Mitte des Spielfeldes liegenden Angriffsspitze, deren Kopf auf schaurige Weise verdreht war. Dann nahm er den herrenlosen Broc vom Boden auf, trabte durch die völlig verblüfften Spieler hindurch und gab einen Wurf ab, der jedoch nicht zählte.

Die Bedeutung dessen, was er soeben getan hatte, war offenkundig:

Sobald die gegnerische Mannschaft bewusst darauf abzielte, jemanden aus seiner Mannschaft zu verletzen, würde er dies erbarmungslos vergelten. Gleichzeitig gab er ihnen zu verstehen, dass sie ihr Schicksal selbst in der Hand hatten.

Nun waren auch Kahlans letzte Zweifel ausgeräumt, Rubens rote Bemalung könnte womöglich nur eine leere Drohung sein. Die Spieler der gegnerischen Mannschaft hatten ihr Leben ausschließlich seiner Gnade zu verdanken.

Umringt von einer nahezu unzählbaren Menge von Häschern, im Visier Dutzender Pfeile, hatte dieser Mann soeben seine eigenen Regeln aufgestellt, Regeln, die man weder missachten noch ignorieren konnte. Er hatte seinen Gegnern unmissverständlich klargemacht, wie sie gegen ihn und seine Mannschaft zu spielen hatten, und dass sie es durch ihr Verhalten selbst in der Hand hatten, über ihr Schicksal zu entscheiden. Kahlan musste sich zusammenreißen, um nicht zu lächeln, nicht ihre Freude über seine soeben gezeigte Großtat herauszuschreien -nicht als Einzige in der Menge diesem Mann zuzujubeln.

Sie wünschte, er würde in ihre Richtung blicken, doch das tat er nicht. Da ihre Angriffsspitze tot und zwei weitere Spieler ausgefallen waren – jene beiden, die hauptsächlich für den Mord - wobei sich jeder andere Begriff verbot - am linken Flügelstürmer der roten Mannschaft verantwortlich waren -, schien die favorisierte Mannschaft am Rande einer beispiellosen Niederlage zu stehen.

Kahlan fragte sich, mit wie vielen Punkten Differenz die rote Mannschaft wohl gewinnen würde. Sie vermutete, es würde eine deftige Schlappe werden.

Just in diesem Moment sah sie aus dem Augenwinkel einen Boten herbeieilen und den Kaiser, während er sich einen Weg durch die hünenhaften Gardisten bahnte, mit einem Arm winkend auf sich aufmerksam machen.

»Exzellenz!«, rief er aufgeregt mit atemloser Stimme. »Soeben sind die Männer eingetroffen. Die Schwestern auf der Baustelle meinten, Ihr möchtet bitte augenblicklich kommen.«

Während die Partie auf dem Spielfeld ihren Fortgang nahm, machte sich Jagang, ohne nachzufragen oder Zeit zu verlieren, augenblicklich auf den Weg. Kahlan drehte sich gerade noch rechtzeitig um, um einen Blick auf Rüben zu erhaschen, als dieser die neue gegnerische Angriffsspitze mit erschütternder Wucht zu Boden schmetterte. Die hünenhaften Gardisten scharten sich um den Kaiser und machten ihm den Weg frei. Kahlan war klug genug, nicht durch übertriebenes Zögern seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.

»Wir gehen«, sagte sie zu Jillian, die sich immer noch Wärme suchend unter ihren Umhang schmiegte.

Sich bei den Händen haltend, um nicht getrennt zu werden, wandten sie sich um und schlossen sich Jagang an. Kahlan warf einen letzten Blick über ihre Schulter - und als sich ihre Blicke für einen kurzen Moment trafen, dämmerte ihr, dass er, obwohl er sie während des ganzen Spiels keines Blickes gewürdigt hatte, die ganze Zeit genau gewusst hatte, wo sie stand.

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