65

Kahlan hatte das Gefühl, bei jedem Schritt stehen zu bleiben müssen, um irgendjemanden zu begrüßen. Auf den Zehenspitzen stehend, versuchte sie über die Menge hinwegzuschauen und die Menschen ausfindig zu machen, die sie suchte, und die wiederzusehen sie kaum erwarten konnte. Es war, als hätte sich die ganze Welt in den ausgedehnten Fluren des Palasts des Volkes eingefunden. Sie konnte sich nicht erinnern, hier jemals so viele Menschen auf den Beinen gesehen zu haben. Allerdings war dies auch ein besonderes Ereignis, wie niemand es jemals zuvor erlebt hatte. Und das wollte niemand verpassen. Die Welt hatte sich vollkommen verändert. Jetzt, da so viele hasserfüllte Menschen aus dieser Welt in die andere verbannt worden waren, schien ein geistiger Neubeginn im Gange. Da jetzt weniger Menschen zur Verfügung standen, die durch ihre harte körperliche Arbeit die Versorgung sicherten, hatte der Bedarf an Lebensmitteln und anderen Gütern eine Reihe arbeitssparender Erneuerungen und Erfindungen hervorgebracht. Jeden Tag hörte sie von neuen Errungenschaften und Entwicklungen. Die Möglichkeiten des Einzelnen, etwas zu schaffen und Erfolg zu haben, unterlagen nicht länger unsinnigen Beschränkungen. Die Welt schien in voller Blüte zu stehen. Als jemand sie am Arm festhielt, blieb sie stehen, drehte sich um und erblickte Jillian und ihren Großvater. Kahlan schloss die Kleine fest in ihre Arme und erklärte ihrem Großvater, was für eine tapfere junge Frau sie gewesen war, und wie sie ihnen allen mit dem Wirken der Träume geholfen hatte. Ihr Großvater strahlte vor Stolz.

Kahlan war umlagert von Menschen, die ihr die Hand schütteln, ihr Komplimente machen und sich nach ihrem und Richards Befinden erkundigen wollten. Es war, als treibe sie einfach mit der Menge. Es war eine Wonne, diese Freude zu sehen, diese Zustimmung und Freundlichkeit.

Mehrere Angehörige des Grabmalpersonals stellten sich ihr in den Weg, nur um ihre Begeisterung über die Einladung auszudrücken. Eine der Frauen umarmte sie einfach, nur um ihren Redeschwall zu unterbinden. Seit Richard die Macht der Ordnung entfesselt und ihnen ihre Zungen wieder hatte wachsen lassen, schien keiner von ihnen mehr mit Reden aufgehört zu haben.

Dann sah sie Nathan durch den Flur schlendern, dessen volles, weißes Haar bis auf seine breiten Schultern mit dem blausamtenen Umhang und dem weißen Rüschenhemd darunter fiel. An der Hüfte trug er ein elegantes Schwert - angeblich, weil es ihn unwiderstehlich machte. Da sich auf beiden Seiten jeweils eine attraktive Frau bei ihm untergehakt hatte, schien es wohl zu stimmen. Sie hoffte nur, dass Richard im Alter von eintausend Jahren mit einem Schwert an seiner Seite noch ebenso gut aussähe.

Sie winkte Nathan über die Menschenmenge zu, worauf der ihr mit einem Fingerzeig zu verstehen gab, dass er sie zusammen mit Richard treffen wolle. Als sie in die angegebene Richtung steuerte, sah sie Verna und hielt die Prälatin am Arm fest.

»Verna, Ihr seid hier!«

Verna strahlte mit der Sonne um die Wette. »Ein solches Ereignis würde ich mir niemals entgehen lassen.«

»Wie ist das Leben in der Burg der Zauberer? Sind Eure Ordensschwestern glücklich dort?«

Vernas Lächeln wurde noch strahlender. »Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll, Kahlan. Wir haben neue mit der Gabe gesegnete Knaben gefunden, die bereits bei uns wohnen und von uns ausgebildet werden. Es ist so völlig anders als früher, so viel besser, jetzt, da ein Oberster Zauberer uns zur Hand geht. Es ist ein wunderbares Gefühl, all diese jungen Burschen zu sehen, die wegen ihrer Gabe zu uns kommen.«

»Und das Zusammenleben mit Zedd auf der Burg?«

»Ich glaube, er war noch nie so glücklich. Jetzt, da die Burg so voller Menschen ist, hätte man doch gedacht, er würde wieder den alten Griesgram herauskehren, aber ich sage Euch, Kahlan, der Mann ist wie neugeboren. Seit Chase und Emma mit all ihren Kindern dort leben, die Jungs in ihrer Gabe unterwiesen werden, ist er selbst fast wieder wie ein Kind. Das alte Gemäuer erblüht zu neuem Leben.«

Allein schon davon zu hören, rührte Kahlan zu Tränen. »Das hört sich herrlich an, Verna.«

»Wann kommt Ihr uns besuchen? Alle wollen Euch und Richard wiedersehen. Zedd hat Handwerker kommen lassen, um die Schäden am Palast der Konfessoren zu reparieren. Jetzt macht er wieder einen würdigen Eindruck. Er steht Euch zur Verfügung, wann immer Ihr Euer Heim besuchen wollt. Ihr glaubt gar nicht, wie viele vom alten Personal zurückgekehrt sind und darauf hoffen, dass Ihr und Richard eine Weile dort wohnt.«

Es war für Kahlan eine ungeheure Freude zu hören, wie sehr die Menschen sich wieder nach ihr sehnten. Sie war als von allen gefürchtete Konfessorin aufgewachsen, doch nun wurde sie um ihrer selbst willen geliebt, nicht zuletzt wegen Richard und all der jüngsten Ereignisse, aber auch als Mutter Konfessor.

»Bald, Verna, bald. Richard sprach auch schon davon, dass er hinauswill. Dieser Palast macht ihn ganz krank. Ringsum nichts als Marmor, und dabei sehnt er sich doch so sehr nach Wald.«

Zum Abschied gab Verna ihr noch einen Kuss auf die Wange, dann machte Kahlan sich wieder auf den Weg.

Schließlich erblickte sie Richard in der Menge. Er drehte sich zu ihr um, fast so, als hätte er ihr Kommen gespürt. Sie zweifelte keinen Moment daran.

Als sie ihn eingeholt hatte, er ihr sanft einen Arm um die Hüften legte und sie an sich zog, um sie zu küssen, versank die Welt rings um sie her – und mit ihr die Tausende von Menschen, die sie vermutlich in diesem Moment beobachteten.

»Ich liebe dich«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Du bist die Allerschönste hier.«

»Ich weiß nicht, Lord Rahl«, erwiderte sie mit einem neckischen Lächeln, »womöglich tauchen auch noch ein paar andere auf. Fälle kein vorschnelles Urteil.«

Dann erblickte sie Zedd. Sie schlang ihm die Arme um den Hals. »Zedd!«

»Du bringst mich ja fast um.«

Sie löste sich und fasste seine Arme. »Ich bin so froh, dass du gekommen bist.«

Sein Grinsen war ansteckend. »Das würde ich mir um nichts in der Welt entgehen lassen, meine Liebe.«

»Amüsierst du dich? Hattest du schon etwas zu essen?«

»Ich würde mich weit mehr amüsieren, wenn Richard mich endlich in Frieden ließe und ich ein paar von diesen köstlich aussehenden Speisen probieren könnte.«

Richard zog ein Gesicht. »Zedd, die Leute aus der Küche brauchen dich nur zu sehen, und schon ergreifen sie die Flucht.«

»Also, wenn ihnen das Kochen nicht zusagt, hätten sie sich einen anderen Beruf aussuchen sollen.«

Jemand ergriff ihre Hand. »Rachel!« Kahlan beugte sich hinab und schloss das Mädchen in die Arme. »Wie geht es dir?«

»Großartig. Zedd gibt mir Zeichenunterricht - wenn er nicht gerade mit Essen beschäftigt ist.«

Kahlan lachte. »Gefällt dir das Leben auf der Burg der Zauberer?«

Rachel strahlte. »So viel Spaß hatte ich noch nie. Ich habe jetzt Brüder und Schwestern und Freunde. Und natürlich Chase und Emma. Ich glaube, Chase gefällt der Posten als Burgaufseher.«

»Da möchte ich wetten«, sagte Richard.

»Und eines Tages«, fügte sie hinzu, »werden wir vielleicht nach Tamarang ziehen, um in der Burg dort zu wohnen. Aber Zedd meinte, ich wäre noch lange nicht so weit.«

Rachel war von königlichem Geblüt und besaß ein Talent für das Zeichnen der in den heiligen Höhlen befindlichen Banne. Genau genommen war sie sogar Königin von Tamarang.

»Zedd«, sagte Kahlan. »Hast du Adie schon gesehen?«

»Aber ja.« Ein Lächeln ging über sein Gesicht. »Sie ist sehr glücklich mit Friedrich, dem Goldschmied. Wenn je eine Frau es verdient hat, ihr Glück zu finden, dann sie. Sie kann wirklich von Glück reden, dass der Palast während ihrer Rückreise zur Burg der Zauberer belagert wurde und sie Friedrich begegnet ist. Jetzt, da Aydindril wieder voller Leben ist, kann er sich vor Arbeit kaum noch retten. Er kommt fast gar nicht mehr dazu, für mich in der Burg der Zauberer zu arbeiten.«

»Und dir geht es gut?«, wollte sie wissen.

Er zog die Brauen hoch. »Jedenfalls, wenn ihr beide mich endlich für eine Weile besuchen kommt.« Er drohte Richard mit erhobenem Finger.

»Eins sag ich dir, Richard, manchmal kommt es mir vor, als wärst du noch einmal in die Unterwelt entschwunden, um im Tempel der Winde zu leben.«

Richard bedachte ihn mit vollkommen nüchternem Blick. »Der Tempel der Winde steht nicht in der Unterwelt.«

»Aber sicher doch. Er wurde dorthin verbannt während de-«

»Ich habe ihn zurückgeholt.«

Zedd erstarrte. »Du hast was?«

Richard nickte, ein kaum merkliches Lächeln auf den Lippen. »Als ich vor dem Öffnen der Kästchen noch einmal in die Unterwelt hinabstieg, habe ich ein paar Veränderungen vorgenommen, so dass ich den Tempel durch die offenstehende Pforte wieder an seinen angestammten Platz zurückholen konnte - in diese Welt. Sowohl er selbst als auch die in ihm aufbewahrten Dinge sind Errungenschaften des menschlichen Geistes, deshalb ist er das Eigentum der Menschen. Ich habe ihn für all die zurückgeholt, die diese Genialität zu würdigen wissen.«

Zedd hatte kein einziges Mal geblinzelt. »Aber das ist sehr gefährlich.«

»Ich weiß. Ich habe dafür gesorgt, dass ihn niemand außer mir betreten kann. Ich dachte, wenn es deine Arbeit erlaubt, könnten wir beide ihn zusammen besuchen. Das Gebäude selbst ist ziemlich be merkenswert. Die steinerne Decke im Saal des Himmels gleicht einem Fenster, durch das man in den Himmel sieht. Er ist wunderschön. Ich wäre gern derjenige, der dir diesen Ort zeigt, den seit dreitausend Jahren kein Mensch mehr zu Gesicht bekommen hat.«

Zedds Mund stand offen. Er hob einen Finger. »Richard, hast du etwa sonst noch irgendetwas getan, als die Pforte offen stand?«

Er zuckte die Achseln. »So dies und das.«

»Zum Beispiel?«

»Nun, zum einen habe ich es so eingerichtet, dass die roten Früchte in den Midlands nicht mehr giftig sind, wie ich dir vor langer Zeit versprochen hatte.«

»Was sonst noch?«

»Nun, ich - oh, sieh doch, es fängt gleich an. Ich muss gehen. Wir reden später weiter.«

Zedds Miene verfinsterte sich. »Ich will hoffen, du meinst es ernst.«

Richard ergriff Kahlans Hand und stieg die Stufen zur Plattform des Andachtsplatzes empor. Egan und Ulic, die Hände locker verschränkt, erwarteten ihn bereits. Richard nahm seinen Platz ein, neben sich Kahlan.

Die über die weite Halle verstreute Menge verstummte. Als Kahlan sie schließlich hereinmarschieren sah, hatte sie ein so breites Lächeln im Gesicht, dass ihre Wangen schmerzten. Die Menge zu beiden Seiten des scheinbar endlosen roten Teppichs teilte sich für das auf die Plattform zuschreitende Paar, hinter dem in einem langen Zug ihre Begleitung folgte.

Cara war eine absolut strahlende Erscheinung, als sie an Benjamins Arm die Stufen emporstieg. Benjamin sah prächtig aus in seiner Ausgehuniform. Er war jetzt General Meiffert, Befehlshaber der Ersten Rotte im Palast des Volkes.

Wie alle hinter ihr folgenden Mord-Sith, trug Cara ihren weißen Lederanzug. Zusammen mit Benjamin in seiner dunklen Uniform bildeten die beiden ein prachtvolles Paar. Kahlan fühlte sich ein wenig an ihr weißes Konfessorinnenkleid und Richards schwarzen Kriegszaubereranzug erinnert.

Nicci, schön wie eh und je, stand lächelnd mitten unter den Mord-Sith, um Cara als deren offizielle Trauzeugin zu repräsentieren.

»Seid ihr bereit?«, fragte Richard.

Cara und Benjamin, viel zu übermütig, um ein Wort hervorzubringen, nickten nur.

Richard beugte sich ganz leicht vor und fixierte Benjamin mit seinem Raubtierblick. »Ben, wehe, Ihr krümmt ihr jemals auch nur ein Härchen, habt Ihr verstanden?«

»Lord Rahl, dazu wäre ich wohl kaum imstande, selbst wenn ich wollte.«

»Ihr wisst, wie es gemeint war.«

Benjamin strahlte über das ganze Gesicht.

»Gut.« Richard richtete sich wieder auf.

»Aber ich darf doch, wenn ich möchte, oder?«, fragte Cara. Richard hob eine Braue. »Nein.«

Cara schmunzelte.

Richard ließ seinen Blick über die erwartungsvoll schweigende Menge schweifen. »Sehr verehrte Anwesende, wir sind heute hier zusammengekommen, um Zeugen eines wunderbaren Ereignisses zu werden: dem Beginn des gemeinsamen Lebens von Cara und Benjamin Meiffert.

Die beiden haben sich als leuchtendes Vorbild für uns alle erwiesen: stark, klug, ihren Lieben treu verbunden und bereit, alles für den Schutz des höchsten Gutes zu geben, das wir kennen: das Leben. Nun haben die beiden den Wunsch, das ihre miteinander zu teilen.«

Mit leicht gebrochener Stimme fuhr er fort. »Darauf, und auf die beiden, ist niemand hier im Saal stolzer als ich selbst.

Cara, Benjamin, was euch beide verbindet, sind nicht die hier vor uns allen gesprochenen Worte, sondern eure Herzen. Dies sind einfache Worte, aber in den einfachen Dingen liegt große Kraft.«

Kahlan erkannte diese Worte von ihrer eigenen Trauungszeremonie wieder und fand, dass er ihnen kaum größeren Respekt erweisen hätte können, als sie jetzt mit denselben Worten zu vermählen. Richard räusperte sich und hielt einen Moment inne, um sich zu sammeln.

»Cara, willst du Benjamin zum Ehemann nehmen, und wirst du ihn für alle Zeiten ehren und lieben?«

»Ich will«, antwortete sie mit deutlich vernehmbarer Stimme, die über die Menge hinwegtrug.

»Benjamin«, sagte Kahlan, »willst du Cara zur Frau nehmen und sie für alle Zeiten ehren und lieben?«

»Ich will«, sagte er mit ebenso klarer Stimme.

»Dann seid ihr jetzt vor euren Freunden und Angehörigen, vor eurem Volk vermählt für alle Zeit«, schloss Richard.

Während die Mord-Sith hinter ihnen feuchte Augen bekamen, umarmten sich Cara und Benjamin und küssten sich unter dem tosenden Jubel der Menge.

Als der Lärm sich schließlich legte und der Kuss endete, forderte Richard sie mit ausgestreckter Hand auf, sich neben ihn und Kahlan zu stellen. Berdine weinte noch immer Freudentränen an Nydas Schulter. Kahlan sah, dass Rikka, Tränen in den Augen, ebenjenes rosa Band im Haar trug, das sie ihr einst geschenkt hatte.

Stolz und aufrecht ließ Richard den Blick über die ihm entgegenblickenden Gesichter schweifen. Hätte Kahlan all die Tausende von Menschen nicht mit eigenen Augen gesehen, sie hätte die Hallen für menschenleer gehalten, so still war es.

Dann sprach Richard, mit einer Stimme, die bis in den letzten Winkel trug.

»Das große Geschenk des Lebens besteht darin, für einen winzigen Augenblick an diesem gewaltigen Universum teilhaben zu dürfen. Es ist das einzige Leben, das uns je vergönnt sein wird. Das Universum wird ungeachtet unseres kurzen Daseins weiterexistieren, aber solange wir hier sind, sind wir nicht nur ein Teil dieser Unermesslichkeit, sondern auch des Lebens aller um uns her. Das Leben ist ein großes Geschenk, das jedem von uns zuteilwurde. Es gehört jedem selbst und niemandem sonst, es ist wertvoller, als sich je errechnen ließe. Es ist das höchste Gut, das uns je zuteilwerden wird. Haltet es in Ehren für das, was es wahrhaftig ist.«

Cara umarmte ihn. »Danke, Richard, für alles.«

»Es ist mir eine große Ehre, Cara«, sagte er, indem er ihre Umarmung erwiderte.

»Ach, übrigens«, flüsterte sie ihm ins Ohr. »Shota war vor Kurzem bei mir. Sie bat mich, Euch etwas auszurichten.«

»Tatsächlich? Was denn?«

»Sie meinte, sollte es Euch jemals wieder nach Agaden verschlagen, würde sie Euch umbringen.«

Richard wich überrascht zurück. »Tatsächlich? Das hat sie gesagt?«

Grinsend nickte Cara. »Aber sie hatte dabei ein Lächeln auf den Lippen.«

Und dann erklang die Glocke, die die Menschen zur Andacht rief. Aber noch ehe sich jemand von der Stelle rühren konnte, ergriff Richard erneut das Wort.

»Von nun an wird es keine Andachten mehr geben. Niemand wird mehr vor mir oder irgendjemandem sonst niederknien müssen. Euer Leben gehört euch allein. Steht auf und genießt es.«

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