SOL 1 ABEND

Die Kuppel war optimal angelegt. Am äußeren Rund lagen sich die beiden Luftschleusen gegenüber, das gesamte Lebenserhaltungssystem war in der Mitte, und in der einen Hälfte befanden sich die bogenförmig angeordneten, exakt aufgeteilten kleinen Zellen für jedes der zwölf Mitglieder des Teams. Mit ihren zwei Meter hohen Plastiktrennwänden hatten sie gewisse Ähnlichkeit mit einer Reihe von Büroalkoven in einer Bank, die mit lauter Basketballspielern besetzt waren. Die Psychologen hatten darauf bestanden, daß die hohen Trennwände in kühlen Pastelltönen gehalten wurden. Jamie hätte die lebhaften, warmen Töne seiner Wüstenheimat vorgezogen. Wir werden hier alle Wärme brauchen, die wir kriegen können, dachte er.

Zwei telefonzellengroße Badenischen schlossen die Privatkabinen zu beiden Seiten ab. Deren Benutzungsplan würde ein ziemliches Problem werden.

Um das Zentrum der Kuppel herum waren Gemeinschaftsräume gruppiert: eine Kombüse; eine Messe, nicht mehr als ein Trio von Tischen mit zierlichen, der Marsschwerkraft angemessenen Stühlen aus leichtem Plastik; und ein Kommunikationszentrum mit Tischcomputern und Bildschirmen. Die Arbeitsplätze der einzelnen Wissenschaftler reihten sich an der kreisförmigen Außenwand auf. Alle Wissenschaftler waren selbst dafür zuständig, ihre Ausrüstung auszupacken und sich ihren Arbeitsplatz einzurichten. Der größte Teil ihrer Ausrüstung war noch oben im Orbit; der zweite Lander würde ihn mitbringen.

Nach ihrem langen Arbeitstag begannen die vier Wissenschaftler und die beiden Astronauten, ihre Tornister abzulegen und sich aus den Raumanzügen zu schälen, die sie seit über zwanzig Stunden trugen.

Gleich darauf lagen die Anzüge wie abgelegte Teile bunter Rüstungen auf dem Boden herum, und die sechs Mitglieder des Teams standen in ihren braunen, olivgrünen oder aquamarinblauen Overalls da. Wir sehen wieder wie menschliche Wesen aus, dachte Jamie.

Wie ängstliche menschlichen Wesen. Jeder starrte die anderen stumm an, als sähe er sie zum ersten Mal. Jeder erkannte mit absoluter Endgültigkeit, daß sie über hundert Millionen Kilometer von zu Hause, von der Sicherheit entfernt waren, daß ein einziger fehlerhafter Transistor oder ein winziger Riß in der Plastikhaut der Kuppel sie alle gnadenlos und ohne Vorwarnung töten konnte.

Sie standen schweigend da, mit großen Augen und offenem Mund, die Hände steif vom Körper weggestreckt, als würden sie die Welt prüfen, auf der sie standen, und sich darüber klar zu werden versuchen, ob sie freundlich zu ihnen sein würde oder nicht. Wie Kinder, die es plötzlich an einen vollkommen neuen Ort verschlagen hatte, hielten sie den Atem an und blickten sich wortlos um.

Tony Reed brach das gespannte Schweigen. »Ich bringe ja nur äußerst ungern etwas so Prosaisches zur Sprache, aber ich könnte wirklich was zwischen die Zähne gebrauchen. Wie wär’s mit Abendessen?«


Wosnesenski schnaubte, Connors lachte laut, und die anderen grinsten breit. Sie ließen ihre abgelegten Anzüge auf dem Boden liegen und strömten zur Kombüse, wo sechs tiefgefrorene, vorgekochte Mahlzeiten flugs in der Mikrowelle erwärmt wurden, bis sie dampften und fertig waren.

Joanna Brumado verschwand kurz in ihrer Kabine und kam mit einer Flasche spanischem Sekt zurück.

»Haben Sie den aus Brasilien mitgebracht?« fragte Pete Conners.

»Natürlich nicht«, sagte Reed verächtlich. »Offenkundig hat Joanna die Trauben auf dem Weg hierher fermentiert.«

Der Korken flog knallend heraus, und Sekt ergoß sich schäumend über ihren Eßtisch.

»Er ist leider nicht richtig gekühlt«, entschuldigte sich Joanna.

»Das ist schon in Ordnung. Machen Sie sich deswegen keine Sorgen.«

Stellen wir ihn doch ein oder zwei Minuten raus, dachte Jamie. Dann ist er eiskalt.

Der Sekt reichte gerade für ein Glas pro Person. Reed saß zwischen der gertenschlanken, blonden Ilona und der dunkel

äugigen, kleinen Joanna. Die Israeli hatte selbst in dem graubraunen Overall das hagere, hochmütige Aussehen einer Aristokratin. Joanna sah wie ein Straßenkind aus; sie konnte die Nervosität, die dicht hinter ihren großen dunklen Augen lag, kaum unterdrücken.

Der rotblonde, athletisch gebaute Reed schien sich rundum wohlzufühlen. »…also haben wir wirklich den gleichen Komfort wie zu Hause, jedenfalls beinahe«, sagte er gerade.

»Beinahe«, bestätigte Ilona Malater.


»Essen, Luft, gute Gesellschaft«, scherzte Reed. »Was kann man mehr verlangen?«

»Das Wasser ist wiederaufbereitet«, sagte Ilona. »Stört dich das nicht?«

Reed fuhr sich mit einer Fingerspitze über den bleistiftdünnen, rotblonden Schnurrbart. »Ich muß zugeben, ich hätte lieber etwas, womit man das Wasser reinigen könnte. Whisky käme mir da durchaus gelegen.«

»Das ist nicht erlaubt«, sagte Joanna ernsthaft. »Ich habe schon mit meiner Flasche Sekt gegen die Vorschriften versto

ßen.«

»Ja«, sagte Ilona. »Es überrascht mich, daß er…« – sie neigte den Kopf leicht zu Wosnesenski, der am Kopfende des Tisches saß – »dich nicht getadelt und die Flasche für sich beschlagnahmt hat.«

»Ach, so schlimm ist er nicht«, sagte Reed. »Den biegen wir schon hin, keine Angst.«

Die israelische Biochemikerin machte eine skeptische Miene.

Dann sagte sie: »Ich wünschte, wir hätten wirklich Scotch Whisky hier.«

»Vielleicht könnte ich dir welchen aus den Vorräten für mein Krankenrevier mixen.«

Ilona zog eine Augenbraue hoch. Joanna machte ein entgeistertes Gesicht.

»Du mußte aber vorsichtig sein«, führ Reed fort. »Ich habe mal eine Flasche Scotch mit einem Schotten getrunken. Als ich ein bißchen Wasser dazugegeben habe, hat es den Mann doch tatsächlich geschüttelt!«

Beide Frauen lachten.


Die zwei Piloten saßen am Ende des kleinen Tisches und unterhielten sich über das Fliegen, nach ihren Handbewegungen zu urteilen. Ein hellhäutiger Russe und ein schwarzer Amerikaner, deren Nationalität, ja sogar Rassenzugehörigkeit hier weniger bedeutete als die Tatsache, daß sie eher Flieger als Wissenschaftler waren: bestenfalls Ingenieure. In der Rangordnung waren sie klar unterhalb der Wissenschaftler angesiedelt.

Der Amerikaner war schlaksig und hatte die dünnen Arme und Beine eines Tänzers. Der Russe war kleiner und dicker, und sein rotbraunes Haar war in seiner Kindheit wahrscheinlich ziegelrot gewesen. Sein fleischiges Gesicht, das normalerweise finster dreinschaute, war jetzt mit Leben erfüllt, und seine hellblauen Augen funkelten, als er über das Fliegen sprach.

Jamie wußte, daß er hier der Außenseiter war. Fast vier Jahre lang hatten diese Männer und Frauen mit Pater DiNardo trainiert, dem jesuitischen Geologen, der ursprünglich für die Marsexpedition ausersehen gewesen war. Jamie hatte unter ferner liefen rangiert und ebenfalls nahezu vier Jahre lang jede Sekunde jedes Tages gewußt, daß er nur der Form halber an dem Training für eine Mission teilnahm, bei der er garantiert nicht mit von der Partie sein würde. Und dann war DiNardo von seinem Gott mit einer Gallenblaseninfektion niedergestreckt worden, die operativ behandelt werden mußte, und sein designierter Ersatzmann war prompt politischen Ränken zum Opfer gefallen. Plötzlich, o Wunder, hatte James Waterman – der amerikanische Indianer – unglaublicherweise zu dem Team gehört, das tatsächlich den Fuß auf den Mars setzen würde.


Ein Roter auf dem Roten Planeten, sinnierte Jamie. Ich bin hier, aber nur durch blindes Glück. Sie akzeptieren mich, aber DiNardo war ihre erste Wahl; ich bin nur ein Ersatz.

Ja, hörte er die leise Stimme seines Großvaters. Aber du bist hier, auf dem Mars, und der Anglo-Priester nicht.

Jamie hätte beinahe gelächelt. Für seinen Großvater war sogar ein Jesuit aus dem Vatikan ein Anglo. Jamie freute sich, daß er zu dem ersten Forscherteam auf dem Mars gehörte, doch gerade diese Freude rief ein latentes Schuldgefühl in ihm wach. Er hatte dieses Vorrecht auf Kosten des Leids anderer errungen. Ein echter Navajo würde Angst vor Vergeltung haben.

Wosnesenksi stieß sich vom Tisch ab und stand auf.

»Wir sollten jetzt Schlafengehen«, sagte er barsch, als rechnete er mit Widerspruch. »Morgen müssen wir für die Ankunft des zweiten Teams bereit sein. Und bevor wir zu Bett gehen, müssen wir noch die Anzüge reinigen und ordentlich verstauen.«

Niemand widersprach, obwohl Tony Reed etwas murmelte, das Jamie nicht mitbekam. Sie waren alle müde, aber sie wußten, daß die Raumanzüge ordentlich gewartet werden mußten.

Das Programm für morgen würde genauso hart sein wie das dieses ersten Tages. Die Spannungen und Feindseligkeiten, die auf ihrem neunmonatigen Flug entstanden waren, hatten sich nicht in Luft aufgelöst, nur weil sie den Fuß auf den Mars gesetzt hatten. Vielleicht in den nächsten Tagen, dachte Jamie, wenn wir viel zu tun haben und draußen herumstreifen können, vielleicht ändern die Dinge sich dann. Vielleicht dann.

Nachdem er seinen Anzug mit dem Staubsauger vom Staub befreit und ordentlich an das Gestell neben der Luftschleuse gehängt hatte, kam Jamie auf dem Weg zu seinem Quartier an dem von Ilona Malater vorbei. Die Falttür zu ihrer Kabine war offen. Sie klebte gerade ein abgegriffenes altes Foto an die Trennwand neben ihrem Bett.

Sie bemerkte Jamie und sagte über die Schulter hinweg:

»Komm einen Moment herein.«

Jamie fühlte sich ein wenig unbehaglich. Er zögerte auf der Schwelle.

»Ich werde dich schon nicht verführen, roter Mann«, sagte Ilona leise, mit kehliger Stimme. »Nicht in unserer ersten Nacht auf dem Mars.«

Jamie blieb an der Tür stehen. Er wußte nicht, was er sagen sollte.

»Möchtest du mein Familienalbum sehen?« fragte Ilona mit einem herausfordernden Lächeln.

An der Wand hing nur das eine Foto. Jamie trat näher und sah einen hochgewachsenen, müden Mann in einer schmutzigen Soldatenuniform auf einer mit Trümmern übersäten Stra

ße stehen, die Hände über den Kopf erhoben; ein halbes Dutzend Soldaten in einer anderen Uniform bedrohten ihn mit Maschinenpistolen.

»Das ist mein Großvater, im Jahr 1956«, sagte Ilona. Ihre Stimme wurde plötzlich lauter und schrill. »In Budapest. Das sind russische Soldaten. Die Russen haben meinen Großvater schließlich aufgehängt. Sein Verbrechen war, daß er sein Land gegen dieses Volk verteidigt hat.«

»Wir sind jetzt auf dem Mars«, sagte Jamie sanft.

»Ja. Und?«

Jamie drehte sich um und verließ ihre Kabine ohne ein weiteres Wort. Ilona würde Wosnesenski weiterhin piesacken, wie sie es all die langen Monate ihres Fluges hindurch getan hatte.

Sie glaubte, sie hätte einen triftigen Grund, alle Russen zu hassen. Während der ganzen Jahre des Trainings hatte sie ihren Haß geschickt verborgen. Und ihn genährt. Jetzt trat er offen zutage. Jetzt, wo er uns alle umbringen könnte.

Wir bringen alles mit, sagte sich Jamie. Wir kommen mit Worten des Friedens und der Liebe zu einer neuen Welt, aber wir tragen all die alten Ängste und Abneigungen mit uns herum, wohin wir auch gehen.

Er ließ sich total erschöpft auf sein Feldbett fallen, ohne sich erst noch die Mühe zu machen, sich auszuziehen. Fast eine Stunde später lag er immer noch wach auf dem schmalen Feldbett in seiner Kabine und machte sich Gedanken über Ilona. Die Kuppel war jetzt dunkel, aber nicht still. Das Metall und der Kunststoff knarrten und ächzten, als die Kälte der Marsnacht ihre eisige Faust fester schloß. Die Pumpen tuckerten leise, und die Lüfter summten. Die Psychologen waren der Meinung gewesen, daß solche Geräusche auf die einsamen Forscher beruhigend wirken würden. Wenn die Maschinengeräusche plötzlich verstummten, würde sie dies warnen, ihnen signalisieren, daß sie sich in einer gefährlichen Situation befanden, so wie das jähe Aussetzen der Triebwerke eines Flugzeugs sofort das Adrenalin fließen läßt.

Als Jamie jedoch auf seinem Feldbett lag, hörte er ein anderes Geräusch. Ein rhythmisches Seufzen, das kam und ging, einsetzte und wieder aufhörte. Ein zartes Wispern, fast wie ein leises Stöhnen, so schwach, daß Jamie es zuerst für Einbildung hielt. Aber es kam immer wieder, ein seltsames, geisterhaftes Atmen, das über die Hintergrundgeräusche der von Menschen gemachten Ausrüstung hinweg nur andeutungsweise zu hören war.

Der Wind.

Eine Brise wehte sanft über ihre Kuppel, strich mit ihren Fingern sachte über dieses neue, fremde Artefakt. Der Mars streichelte sie, wie ein Kind die Hand ausstrecken mochte, um etwas Neues und Unerklärliches zu berühren. Der Mars hieß sie sanft willkommen.

Jamie ließ seine Gedanken schweifen, während er die Hände hinter dem Kopf verschränkte und dem leisen Marswind lauschte, bis er schließlich einschlief.

Er träumte, daß Raumschiffe in New Mexico landeten, aus denen ganze Indianerstämme herausstürmten – nackt –, um das rauhe, karge Land für sich zu beanspruchen.


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