DOSSIER M. A. WOSNESENSKI

»Warum kannst du nicht vernünftig sein, wie dein Bruder?«

Mikhail Andrejewitsch hatte diesen Ausruf seines Vaters sein ganzes Leben lang gehört, so schien es ihm. Nikolai war der ältere der beiden Jungen, das Musterkind der Familie. Er strengte sich in der Schule sehr an und hatte ausgezeichnete Noten. Er war ruhig; seine Lieblingsbeschäftigung bestand darin, Bücher zu lesen. Er hatte nur wenige Freunde, und alle waren sie so fleißig und hatten ebenso gute Manieren wie Nikolai.

Mikhail, der zweite Sohn (es gab noch eine jüngere Tochter), schaffte die Schule spielend, warf aber kaum je einen Blick in die Schulbücher. Irgendwie bekam er stets gute Noten; nicht ganz so gute wie sein älterer Bruder natürlich, aber sie reichten für die Aufnahme an die Ingenieursakademie. Statt zu studieren, hörte Mikhail Musik, meistens importierten amerikanischen Rock. Der Lärm machte seinen Vater wahnsinnig. Mikhail hatte viele Freunde, Mädchen und Jungen, und sie hörten alle gern laute Rockmusik und zogen sich Blue Jeans und Lederjacken an.

Und er spielte. »Der Fluch der Russen«, nannte es sein Vater.

Seine Mutter weinte. Mikhail spielte Karten mit seinen Freunden und manchmal mit älteren Männern, die sich gut kleideten und Gesichter aus Stein hatten. Seine Eltern befürchteten bereits das Schlimmste für ihn.

»Deine Mutter bekommt deinetwegen noch graue Haare!«

rief sein Vater, als Mikhail verkündete, er werde sich ein Motorrad kaufen. Er hatte zwei Jahre lang heimlich gearbeitet, hatte seine Nachmittage in einer Autowerkstatt verbracht und dem Mechaniker geholfen, statt zur Akademie zu gehen. Irgendwie war es ihm trotzdem gelungen, seine Prüfungen zu bestehen. Aber der Verdienst für zwei Jahre Arbeit reichte nicht, um die hübsche Maschine zu kaufen, die er haben wollte. Da setzte Mikhail jeden Rubel bei einem Kartenspiel und schwor, daß er nie wieder spielen würde. Er gewann, hauptsächlich weil er größere Risiken einzugehen bereit gewesen war und mehr Geld einzusetzen gehabt hatte als die anderen Spieler in jener Nacht.

Er wahrte seine selbstauferlegte Disziplin und spielte nie wieder. Trotz der Einwände seines Vaters und der strömenden Tränen seiner Mutter kaufte er sich das Motorrad. Es interessierte sie nicht, daß Mikhail jetzt von ihrer Wohnung zu seinen Seminaren an der Akademie fahren konnte, ohne zwei Stunden pro Tag in Stadtbussen herumsitzen zu müssen. Sie sahen ihn nur mit hübschen jungen Mädchen durch die Straßen von Wolgograd rasen, die schamlos ihre Beine zeigten, wenn sie hinter Mikhail saßen, und ihn fest umklammerten.

Seine Mutter hatte bereits graue Haare, und sein Vater war beinahe völlig kahl. Der alte Mann war Staatsbeamter gewesen, einer der zahllosen Apparatschiks, die im Namen der Perestroika aus der Regierungsbürokratie geworfen worden waren und sich einen anderen Job hatten suchen müssen. Für kurze Zeit hatte er als Verwalter in einer der größten Fabriken in Wolgograd gearbeitet. Dann ging er in die Politik und wurde bald in den Stadtrat gewählt, wo er den Rest seines Arbeitslebens in behaglicher Anonymität verbrachte.


»Warum kannst du nicht vernünftig sein, wie dein Bruder?«

rief sein Vater, als Mikhail erklärte, er werde Flugstunden nehmen. Er hatte in diesem Schuljahr gute Leistungen erbracht, hatte sogar einen akademischen Grad errungen, nachdem er den Mechanikerjob nun aufgegeben hatte.

Das war der Sommer, in dem Mikhail feststellte, daß er das Fliegen liebte und das Fliegen ihn. Er war gut darin, sehr gut.

Er habe ein so natürliches Verhältnis zur Luft wie ein Adler, erklärte ihm sein Lehrer. Tatsächlich war er gerade in der Luft, auf seinem ersten Alleinflug, als sein älterer Bruder bei einem sinnlosen Unfall ums Leben kam. Ein betrunkener Lastwagenfahrer krachte in den Stadtbus, in dem er saß. Vierzehn Verletzte und ein Toter. Nikolai.

Irgendwie schienen seine Eltern Mikhail die Schuld an Nikolais Tod zu geben. Sie erhoben keinen Einwand, als er ihnen erklärte, er sei zum Kosmonautentraining angenommen worden und werde aus Wolgograd weggehen. Während er in der Ausbildung war, starb seine Mutter still und leise im Schlaf.

Als er zu ihrer Beerdigung nach Hause fuhr, behandelten ihn sein Vater und seine Schwester so kühl, daß Mikhail nie wieder zu ihnen zurückkehrte.

Mikhail war noch nicht geboren, als Juri Gagarin seinen epochalen ersten Weltraumflug um die Erde unternahm. Aus seiner frühen Kindheit erinnerte er sich vage an unscharfe Fernsehbilder von den Amerikanern auf dem Mond. Während all der langen Jahre seiner Jugend hegte er den geheimen Ehrgeiz, der erste Mensch zu sein, der den Fuß auf den Mars setzte.

Er erzählte niemandem etwas von seinem Traum. Nur einmal, als er noch ein Kind war, in einer dunklen Herbstnacht, als der erste Schnee des Jahres sanft vom Himmel rieselte und das schmierige alte Wolgograd mit einer sauberen weißen Schicht bedeckte, sprach er darüber mit seinem Bruder, der halb schlafend im Bett neben dem seinen lag.

»Mars«, sagte sein Bruder verträumt und völlig schlaftrunken.

»Ich will der erste Mensch auf dem Mars sein«, flüsterte Mikhail.

»Der erste, was sonst.« Nikolai drehte sich in seinem Bett um. »In Ordnung, kleiner Miki. Du darfst der erste sein. Ich gebe dir meine Erlaubnis. Jetzt laß mich schlafen.«

Mikhail lächelte in der Dunkelheit, und als er träumte, träumte er vom Mars.


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