TRAINING KASACHSTAN

Auf der Fahrt am Fluß entlang gestikulierte Juri Zawgorodny mit seiner freien Hand.

»Wie bei euch in New Mexico, nein?« fragte er in seinem stockenden Englisch.

Jamie Waterman rieb sich unbewußt die Seite. Erst gestern hatten sie die Fäden gezogen, und der Schnitt tat immer noch weh.

»New Mexico«, wiederhole Zawgorodny. »So wie hier? Ja?«

»Nein«, hätte Jamie beinahe geantwortet. Aber die Administratoren der Mission hatten sie alle ermahnt, den Russen – und allen anderen – gegenüber so diplomatisch wie möglich zu sein.

»Irgendwie schon«, murmelte Jamie.

»Ja?« fragte Zawgorodny über das Zischen des glühend hei

ßen Windes hinweg, der durch die Wagenfenster wehte.

»Ja«, sagte Jamie.

Das flache braune Land, das sich jenseits des Flusses erstreckte, hatte keinerlei Ähnlichkeit mit New Mexico. Der Himmel war von einem ausgewaschenen, blassen Blau, die Wüste in jeder Richtung öde und leer. Das ist ein altes, müdes Land, sagte sich Jamie, während er die Augen gegen den ofenheißen Wind zusammenkniff. Ausgelaugt. Ausgetrocknet.

Ganz anders als die lebhaften Berge und kräftigen Himmel meiner Heimat. New Mexico ist ein neues Land, rauh, magisch und mysteriös. Diese langweilige Staubwüste da draußen ist uralt; sie ist von zu vielen Heeren plattgetrampelt worden, die darüber hinweggezogen sind.

»Wie der Mars«, sagte einer der anderen Russen. Seine Stimme war tief und grollend, während die von Zawgorodny so durchdringend war wie die Flöte eine Schlangenbeschwörers.

Herrje, ich hoffe, der Mars ist nicht so langweilig, sagte sich Jamie im stillen.

Gestern war er im Bethesda Naval Hospital gewesen, wo man die Fäden seiner Blinddarmoperation gezogen hatte. Alle, die am Training für die Marsmission teilnahmen, hatten sich den Blinddarm herausnehmen lassen. Missionsvorschriften. Es hatte keinen Sinn, eine Blinddarmentzündung zu riskieren, wenn man sechzig Millionen Kilometer vom nächsten Krankenhaus entfernt war. Obwohl noch nicht entschieden war, wer tatsächlich zum Mars fliegen würde, büßten alle ihren Blinddarm ein.

»Wohin fahren wir?« fragte Jamie. »Wohin bringen Sie mich?«

Es war Sonntag, angeblich ein Ruhetag – sogar für die Männer und Frauen, die für den Flug zum Mars ausgebildet wurden. Erst recht für einen Neuankömmling, der mit der Zeitumstellung zu kämpfen hatte und eine frische Narbe am Bauch trug. Aber die vier Kosmonauten hatten Jamie aus seinem Hotelbett geholt und darauf bestanden, daß er mit ihnen kam.

»Flughafen«, sagte der Kosmonaut mit der tiefen Stimme links neben Jamie. Er hockte auf dem Rücksitz, eingezwängt zwischen zwei schwitzenden Russen, deren Körpergeruch selbst den scharfen Duft starker Seife durchdrang. Zwei weitere nahmen die Plätze vorne ein. Zawgorodny saß hinter dem Lenkrad.


Wie eine Bande von Mafiakillern, die mich in ein Auto gezerrt haben, dachte Jamie. Die Russen lächelten einander häufig zu, unterhielten sich grinsend und zogen bedeutsam die Augenbrauen hoch. Irgendwas war los. Und sie wollten dem amerikanischen Geologen nichts darüber sagen, ehe es nicht soweit war.

Sie waren kräftig gebaute Männer, alle vier. Klein und stämmig, wie Jamie selbst. Aber sie hatten viel hellere Haut als Jamie, der schließlich ein halber Navajo war.

»Ist das eine offizielle Angelegenheit?« hatte er sie gefragt, als sie in aller Frühe an die Tür seines Hotelzimmers geklopft hatten.

»Nix offiziell«, hatte Zawgorodny erwidert, während die anderen drei breit grinsten. »Spaß. Ja, Spaß, Vergnügen.«

Für sie vielleicht, grummelte Jamie vor sich hin, während der Wagen über den Asphalt der leeren Landstraße brummte. Der Wind trug den Geruch von sonnenheißem Staub heran. Die alte Stadt Tyuratam lag bereits kilometerweit hinter ihnen, ebenso wie Leninsk, die neue Stadt, die für die Raumfahrtingenieure und Kosmonauten erbaut worden war.

»Warum fahren wir zum Flughafen?« fragte Jamie.

Der Russe zu seiner Rechten lachte laut. »Für Spaß. Sie werden sehen.«

»Ja«, sagte der Mann zu seiner Linken. »Viel Spaß.«

Jamie war seit etwas über einem halben Jahr im Marstraining. Dies war seine erste Reise nach Rußland, obwohl ihn sein Trainingsprogramm bereits nach Australien, Alaska, Französisch-Guayana und Spanien geführt hatte. Sie hatten ihn endlos lange ärztlich untersucht und seine Reflexe, seine Kraft, sein Sehvermögen und seine Urteilsfähigkeit getestet.


Sie hatten seine Zähne geprüft und erklärt, er sei in hervorragender Form, und dann hatten sie ihm den Blinddarm herausgeschnitten.

Und jetzt nahm ihn ein Quartett von Kosmonauten, denen er noch nie zuvor begegnet war, in den frühen Morgenstunden eines stillen Sonntags mit auf eine Fahrt ins kasachstanische Nirgendwo.

Für viel Spaß.

Im Marstraining hatte es bisher herzlich wenig Spaß, dafür aber jede Menge Konkurrenz unter den Wissenschaftlern gegeben, da nur sechzehn von ihnen schließlich mit auf die Reise gehen würden: sechzehn von mehr als zweihundert Trainingsteilnehmern. Jamie wurde klar, daß die Konkurrenz unter den Kosmonauten und Astronauten genauso heftig sein mußte.

»Hat man euch allen auch den Blinddarm rausgenommen?«

fragte er.

Das Grinsen erlosch. Der Kosmonaut neben ihm antwortete:

»Nein. Ist nicht nötig. Wir fliegen nicht zum Mars.«

»Nein?«

»Wir sind Ausbilder«, sagte Zawgorodny über die Schulter hinweg. »Wir sind für Flugmission schon abgelehnt worden.«

Jamie wollte fragen warum, entschied sich jedoch dagegen.

Das war kein angenehmes Gesprächsthema.

»Ihr Blinddarm?« fragte der Mann zu seiner Linken. Er fuhr sich mit dem Finger über die Kehle.

Jamie nickte. »Gestern haben sie die Fäden gezogen.« Dann wurde ihm bewußt, daß er in Wahrheit am Freitag im Bethesda gewesen war und daß jetzt Sonntag war, aber es kam ihm wie gestern vor.

»Sie sind Indianer?«


»Halber Navajo.«

»Die andere Hälfte?«

»Anglo«, sagte Jamie. Er sah, daß die Russen mit dem Wort nichts anfangen konnten. »Weiß. Englisch.«

Der Mann, der vorne neben Zawgorodny saß, drehte sich zu ihm um. »Als sie Ihnen Blinddarm herausgenommen haben –

war da Medizinmann dabei, der Rasseln über Ihnen geschwenkt hat?«

Alle vier Russen brachen in brüllendes Gelächter aus. Zawgorodny lachte so heftig, daß der Wagen auf der leeren Landstraße ausschwenkte.

Jamie grinste sie gezwungen an. »Nein. Ich habe eine Betäubung bekommen, wir ihr sie auch kriegen würdet.«

Die Russen schwatzten miteinander. Jamie stellte sich vor, daß sie Witze über Indianer rissen, vielleicht über einen Roten, der zum Roten Planeten fliegen wollte. Es lag jedoch keine Boshaftigkeit darin, das spürte er. Sie waren einfach vier biertrinkende Flieger, die sich mit einem neuen Bekannten einen kleinen Spaß erlaubten.

Ich wünschte, ich verstünde Russisch, sagte er sich. Wenn ich bloß wüßte, was diese vier Clowns vorhaben. Viel Spaß.

Dann fiel ihm ein, daß keiner dieser Männer auch nur hoffen konnte, noch zum Mars fliegen zu dürfen. Sie waren zu Ausbildern degradiert worden. Ich habe noch eine Chance, an der Mission teilzunehmen. Ob sie mir das verübeln? Was, zum Teufel, haben sie bloß mit mir vor?

Zawgorodny fuhr von der Landstraße herunter und bog in eine zweispurige, unbefestigte Straße ein, die parallel zu einem hohen Drahtzaun verlief. In der Ferne sah Jamie Hangars und aufs Geratewohl abgestellte Flugzeuge. Wir sind also wirklich zu einem Flughafen unterwegs, stellte er fest.

Sie fuhren durch ein unbewachtes Tor und zu einer abgelegenen Ecke des weitläufigen Flughafens hinaus, wo ein einzelner kleiner Hangar stand, wie ein Ausgestoßener oder ein nachträglicher Einfall. Ein zweimotoriger Hochdecker mit niedrigem dreirädrigem Fahrwerk stand auf dem betonierten Vorfeld vor dem Hangar. Für Jamie sah er wie die russische Version einer Twin Otter aus, eines Flugzeugs, in dem er während seines einwöchigen Aufenthalts in der eisigen Brooks Range in Alaska geflogen war.

»Sie fliegen gern?« fragte Zawgorodny, als sie aus dem Wagen stiegen.

Jamie streckte die Arme und den Rücken, froh, nicht mehr in den Fond des Wagens gepfercht zu sein. Es war noch nicht einmal neun Uhr, aber die Sonne brannte sich schon in seine Schultern ein; sie fühlte sich heiß und gut an.

»Sogar sehr gern«, sagte er. »Ich habe aber keinen Pilotenschein. Ich bin nicht berechtigt…«

Zawgorodny lachte. »Gut so! Wir sind vier Piloten. Das sind drei zuviel.«

Die vier Kosmonauten trugen bereits einteilige Fliegeroveralls in einem verblichenen, abgenutzten Hellbraun. Jamie hatte ein weißes, kurzärmeliges Strickhemd und eine Jeans angezogen, als sie ihn im Hotel aus dem Bett geholt hatten. Er folgte den anderen in die plötzliche kühle Dunkelheit des Hangars.

Es roch nach Maschinenöl und Benzin. Zwei der Kosmonauten polterten eine Metalltreppe zu einem Büro hinauf, das auf dem Steg über ihnen thronte.


Zawgorodny winkte Jamie zu einem langen Tisch mit einer Reihe dicker, klobiger Fallschirmpackhüllen darauf, deren ausgebreitete Gurte den schlaffen Armen von Tintenfischen ähnelten.

»Wir müssen alle Fallschirm tragen«, sagte Zawgorodny.

»Vorschrift.«

»Um in dem Ding da zu fliegen?« Jamie reckte einen Daumen zu dem Flugzeug.

»Ja. Militärflugzeug. Vorschrift. Müssen Fallschirm tragen.«

»Wo fliegen wir denn hin?« fragte Jamie.

Zawgorodny nahm eine der unhandlichen Fallschirmpackhüllen und gab sie Jamie wie ein Arbeiter, der einen Sack Zement weiterreicht.

»Überraschung«, sagte der Russe. »Sie werden schon sehen.«

»Viel Spaß«, sagte der andere Kosmonaut. Er schnallte sich bereits die Bauchgurte seines Fallschirms um.

Viel Spaß für wen, fragte sich Jamie im stillen. Aber er schob die Arme durch die Schultergurte des Fallschirms und beugte sich vor, um die Bauchgurte festzuzurren.

Die anderen beiden kamen wieder die Metalltreppe herunter. Ihre Schritte hallten in dem nahezu leeren Hangar. Jamie folgte dem Kosmonautenquartett in den sengenden Sonnenschein hinaus zu dem Flugzeug, in dessen Seitenwand eine große Luke klaffte. Eine Treppe gab es nicht. Als Jamie den Fuß auf den Lukenrand setzte, fuhr ihm ein stechender Schmerz durch die Seite. Er hielt sich an den Rändern der Luke fest und zog sich ins Flugzeug. Ohne Hilfe. Ohne zusammenzuzucken.

Drinnen war es wie in einem Ofen. Zwei Reihen Schalensitze, nackt, ungepolstert. Die beiden Männer, die mit Jamie hinten im Wagen gesessen hatten, schoben sich an ihm vorbei und gingen ins Cockpit. Die Sitze des Piloten und des Copiloten waren dick gepolstert; sie sahen bequem aus.

Zawgorodny gab Jamie ein Zeichen, auf dem Sitz direkt hinter dem Piloten Platz zu nehmen. Er setzte sich auf den Sitz gegenüber und zog den Sicherheitsgurt über Schultern und Oberschenkel. Jamie tat es ihm gleich und vergewisserte sich, daß die Gurte straff saßen. Die Fallschirmpackhülle diente als eine Art Kissen, aber für Jamie fühlte sie sich unangenehm an: wie Unterwäsche, die sich verzogen hatte.

Die Motoren husteten, stotterten und erwachten dann dröhnend zum Leben. Das Flugzeug zitterte wie ein alter Mann.

Als die Propeller zu zwei undeutlich sichtbaren Scheiben verschwammen, hörte Jamie allerlei klappernde Geräusche, als ob das Flugzeug jeden Moment auseinanderfallen würde. Etwas knirschte, etwas anderes ächzte schrecklich. Das Flugzeug machte einen Satz nach vorn.

Die beiden Piloten hatten Kopfhörer aufgesetzt, aber falls sie Funkkontakt mit dem Kontrollturm hatten, so konnte Jamie bei dem Lärm der Motoren und des Windes, der durch die Kabine blies, kein Wort von dem hören, was sie sagten. Der vierte Kosmonaut saß hinter Jamie. Niemand hatte die Luke geschlossen. Jamie drehte sich auf seinem Sitz und stellte fest, daß sie gar keine Tür hatte; sie würden mit weit offener Luke fliegen.

Der Wind toste durch die Maschine, als diese die Startbahn entlang raste, wobei sie erst ein bißchen in die eine, dann in die andere Richtung schwankte.


Schrecklich langer Startweg für ein so kleines Flugzeug, dachte Jamie. Er schaute zu Zawgorodny hinüber. Der Russe grinste ihn an.

Und dann waren sie in der Luft. Jamie schaute aus seinem Fenster und sah, wie der Flughafen unter ihnen zurückfiel und die Flugzeuge und Gebäude zu Spielzeug schrumpften. Das Land breitete sich braun und völlig trocken unter dem wolkenlosen, blassen Himmel aus. Das Motorengeräusch wurde zu einem grollenden Brummen, und der Wind heulte so laut, daß Jamie sich über den Gang beugen und Zawgorodny ins Ohr schreien mußte: »Also, wo fliegen wir hin?«

»Muschestwo suchen«, rief Zawgorodny zurück.

»Mu… was?«

»Muschestwo!« brüllte der Kosmonaut lauter.

»Wo ist das? Wie weit ist es?«

Der Russe lachte. »Sie werden sehen.«

Etwa eine Stunde lang schienen sie stetig zu steigen.

Können nicht viel mehr als dreitausend Meter sein, sagte sich Jamie. Es war schwierig, vertikale Entfernungen abzuschätzen, aber wenn sie wesentlich höher als dreitausend Meter stiegen, würden sie Sauerstoffmasken aufsetzen müssen, das wußte er.

Es wurde kalt. Jamie wünschte, er hätte sich eine Windjacke mitgenommen. Sie hätten es mir sagen sollen, dachte er. Sie hätten mich warnen müssen.

Der Copilot schaute sich um und starrte Jamie direkt an. Er grinste, dann legte er eine Hand auf den Mund und machte

›Uu-uu-uu!‹. Seine Version eines indianischen Kriegsrufs. Jamie verzog keine Miene.

Plötzlich ging das Flugzeug in den Sinkflug und rutschte nach links weg. Jamie wurde gegen die gekrümmte Wand des Rumpfes geworfen und hätte sich beinahe den Kopf am Fenster angeschlagen. Während die Maschine an der linken Tragflächenspitze zu hängen schien und eine ganz langsame Kurve drehte, starrte er zu der braunen Landschaft tief unter sich hinaus, die von Hügeln und einem einzelnen funkelnden See gekräuselt war.

Dann tauchte das Flugzeug weg und zog hoch, wobei Jamie in den Sitz gepreßt wurde. Die Maschine stieg unbeholfen, schwankte in der Luft hin und her und legte sich dann auf den Rücken. Jamie fühlte, wie alle Schwere von ihm abfiel; er hing in seinen Gurten, aber er wog praktisch nichts. Das Flugzeug ging wieder in den Sturzflug, und das Gewicht kehrte zurück, schwer und drückend, als die Maschine mit kreischenden Motoren auf die kahlen braunen Hügel zuraste und der Wind durch die bebende, klappernde Kabine pfiff.

Und dann fing sie sich, die Motoren schnurrten, und alles war so normal wie bei einem Pendlerflug.

Zawgorodny starrte Jamie an. Der Copilot warf einen Blick über die Schulter nach hinten. Und Jamie verstand. Sie machten sich einen Jux mit ihm. Er war der Neue im Block, und sie probierten, ob sie ihm Angst einjagen konnten. Ihre kleine Version des Vomit Comet, sagte sich Jamie, jenes NASA-Flugzeugs, mit dem die Schwerelosigkeit simuliert wird. Sie wollen sehen, ob ich grün anlaufe oder gar kotze. Viel Spaß.

Jeder Stamm hat seine Initiationsriten, sagte er sich. Er war nie richtig zum Navajo initiiert worden; seine Eltern waren zu anglisiert, als daß sie es erlaubt hätten. Aber diese Jungs würden das wettmachen.

Jamie zwang sich, Zawgorodny anzugrinsen. »Das hat Spaß gemacht«, brüllte er und hoffte, daß die anderen drei ihn über die Motoren und den Wind hinweg hören konnten. »Ich wußte gar nicht, daß man mit so einer alten Kiste Loopings fliegen kann.«

Zawgorodny nickte heftig. »Nicht empfehlenswert. Tragflächen gehen manchmal zu Bruch.«

Jamie zuckte in seinen Gurten die Achseln. »Was kommt als nächstes?«

»Muschestwo.«

Sie flogen rund eine weitere Viertelstunde lang friedlich dahin, ohne Luftakrobatik und ohne miteinander zu sprechen.

Dann merkte Jamie, daß sie in weitem Bogen im Kreis geflogen waren und zu einer neuen Runde ansetzten. Er schaute aus dem Fenster. Der Boden unten war flach und leer, so trostlos wie der Mars, bis auf eine einzelne Straße, die geradeaus durch die braune, karge Einöde führte.

Zawgorodny löste seinen Sicherheitsgurt und stand auf. Als er in den Gang hinaustrat und zu der großen, weit offenen Luke hinüberging, mußte er sich ein bißchen bücken, weil die Decke so niedrig war.

Jamie drehte sich um und sah, daß der andere Kosmonaut ebenfalls auf den Beinen war und an der Luke stand.

Herrgott, die Kiste braucht bloß einmal zu schwanken, dann fliegt er Hals über Kopf raus!

Zawgorodny stand neben dem anderen Mann. Mit einer Hand hielt er sich an einer dünnen Metallstange fest, die an der ganzen Kabinendecke entlanglief. Sie schienen miteinander zu plaudern, hatten die Köpfe zusammengesteckt und nickten, als wären sie in ihrer Lieblingsbar und führten ein beiläufiges Gespräch. Nur einen Schritt von dreitausend Meter leerer Luft entfernt.


Zawgorodny winkte Jamie, gab ihm ein Zeichen, aufzustehen und zu ihnen zu kommen. Jamie spürte einen kalten Knoten im Magen. Ich will da nicht rübergehen. Ich will nicht.

Aber er ertappte sich dabei, wie er seinen Sitzgurt löste und unsicher zu den beiden an der offenen Luke hinüberging. Das Flugzeug bockte leicht, und Jamie packte die Stange an der Decke mit beiden Fäusten.

»Fallschirmspringerplatz.« Zawgorodny zeigte zur Luke hinaus. »Wir machen hier Übungssprünge.«

»Heute? Jetzt?«

»Ja.«

Der andere Kosmonaut hat sich einen Plastikhelm aufgesetzt.

Er schob das getönte Glasvisier über die Augen herunter, brüllte etwas auf Russisch und sprang aus dem Flugzeug.

Jamie umklammerte die Stange an der Decke noch fester.

»Sehen Sie!« brüllte Zawgorodny ihm zu und zeigte hin.

»Schauen Sie zu!«

Vorsichtig spähte Jamie durch die klaffende Luke. Der Kosmonaut fiel mit ausgebreiteten Armen und Beinen wie ein Stein in die Tiefe, schrumpfte zu einem winzigen hellbraunen Punkt vor dem dunkelbrauneren Land so tief unten.

»Ist viel Spaß«, brüllte Zawgorodny Jamie ins Ohr.

Jamie erschauerte, und das nicht nur wegen des eisigen Windes, der durch sein leichtes Hemd schnitt.

Zawgorodny drückte ihm einen Helm in die Hände. Jamie starrte ihn an. Das Plastik war zerkratzt und zerbeult, die rote und weiße Farbe fast vollständig abgewetzt.

»Ich bin noch nie gesprungen«, sagte er.

»Wissen wir.«


»Aber ich…« Er wollte sagen, daß ihm gerade die Fäden gezogen worden waren, daß man sich beim Fallschirmspringen leicht beide Beine brechen konnte, daß es ihnen nie und nimmer gelingen würde, ihn dazu zu bringen, aus diesem Flugzeug zu springen.

Doch er setzte den Helm auf und schnallte ihn unter dem Kinn fest.

»Ist leicht«, sagte Zawgorodny. »Sie haben Gymnastik gemacht. Steht in Ihrer Akte. Beugen Sie bei der Landung nur die Knie und rollen Sie sich ab. Leicht.«

Jamie zitterte. Der Helm fühlte sich an, als wöge er drei Zentner. Seine linke Hand war um die Stange über ihm geschlossen, als wäre sie bereits von der Totenstarre erfaßt. Seine rechte fummelte an den Fallschirmgurten herum und suchte blindlings nach dem D-Ring, der den Fallschirm öffnen würde.

Zawgorodny schaute jetzt sehr ernst drein. Das Flugzeug legte sich leicht in die Kurve und kippte sie zu dem gähnenden Loch in der Seitenwand des Flugzeugs. Jamie stemmte die Füße auf den Metallboden, so fest er konnte, froh, daß er wenigstens feste Stiefel angezogen hatte.

Der Russe nahm seine rechte Hand und legte sie an den DRing. Das Metall fühlte sich für Jamie so kalt an wie der Tod.

»Kein Grund für Sorge«, rief Zawgorodny. Seine Stimme wurde von Jamies Helm gedämpft. »Ich mache Aufziehleine oben fest. Öffnet Fallschirm automatisch. Kein Problem.«

»Ja.« Jamies Stimme zitterte. Seine Eingeweide kochten. Er fühlte, wie ihm der Schweiß die Rippen hinunterlief, obwohl ihm eiskalt war.


»Sie steigen aus. Sie zählen bis zwanzig. Verstanden? Wenn Fallschirm sich bis dahin nicht geöffnet hat, Sie ziehen Ring.

Verstanden?«

Jamie nickte.

»Ich springe gleich hinterher. Wenn Sie sterben, ich werde Sie begraben.« Sein Grinsen kehrte zurück. Jamie hätte sich am liebsten übergeben.

Zawgorodny warf ihm einen langen, prüfenden Blick zu.

»Sie wollen zurückgehen und hinsetzen?«

Jedes Atom in Jamies Wesen wollte darauf mit einem leidenschaftlichen ›Ja!‹ antworten. Aber er schüttelte den Kopf und machte einen zaghaften, ängstlichen Schritt zu der offenen Luke.

Der Russe langte nach oben und schob Jamie das Visier über die Augen. »Bis zwanzig zählen. Langsam. Wir sehen uns auf dem Boden, in zwei Minuten. Vielleicht drei.«

Jamie schluckte schwer und ließ sich von Zawgorodny unmittelbar an den Rand der Luke führen. Der Erdboden schien eisenhart und sehr, sehr weit weg zu sein. Sie standen nicht in der Sonne; die Tragfläche über ihnen beschattete sie, und der Propeller war zu weit vorn, als daß er eine Gefahr dargestellt hätte. Jamie nahm all das mit einem einzigen, wilden Blick in sich auf.

Ein leichter Klaps auf seine Schulter. Jamie zögerte einen Herzschlag lang und stieß sich dann mit beiden Beinen ab.

Nichts. Keine Bewegung. Kein Geräusch, außer dem Rauschen des Windes, der an ihm vorbeibrauste. Jamie hatte auf einmal das Gefühl zu träumen, einfach in der Leere zu hängen oder vielmehr zu schweben und darauf zu warten, daß er wohlbehalten und irgendwie enttäuscht im Bett aufwachte.


Das Flugzeug war irgendwo hinter und über ihm verschwunden. Der Boden lag kilometerweit unter ihm und rotierte langsam, ohne merklich näherzurücken.

Er trudelte und drehte sich träge, während er in der Luft schwebte. Es war beinahe angenehm. Fast ein Vergnügen. Einfach im Nichts hängen, losgelöst von der Welt, allein, völlig allein und frei.

Es war, als hätte er keinen Körper, gar keine physische Existenz. Nichts als der pure Geist, sauber und leicht wie die Luft selbst. Er erinnerte sich an die alten Sagen, die sein Großvater ihm erzählt hatte, die Sagen von den Navajo-Helden, die über die Regenbogenbrücke gegangen waren. Das muß genauso sein, dachte er, hoch über der Welt, schwebend, schwebend.

Wie Cojote, als er auf einem Kometen mitflog.

Mit einem Ruck, der ihm beinahe das Herz stillstehen ließ, erkannte er, daß er vergessen hatte zu zählen. Und seine Hand hatte sich von dem D-Ring gelöst. Er fummelte unbeholfen herum, sah jetzt, daß ihm der ausgedörrte, harte, trockene Boden entgegengerast kam, um ihn zu zerschmettern, zu pulverisieren, zu töten, zu töten, zu töten.

Eine gigantische Hand packte ihn und riß ihm beinahe den Kopf ab. Er drehte sich in der Luft, als überall um ihn herum neue Geräusche explodierten. Mit einem Knallen wie dem eines Segels öffnete sich sein Fallschirm und breitete sich über ihm aus, so daß Jamie in den Gurten hing und sanft dem kahlen Boden entgegenschwebte.

Das Herz hämmerte ihm in den Ohren, und dennoch war er enttäuscht. Wie ein Kind, das gerade die Schrecknisse seiner ersten Achterbahnfahrt hinter sich gebracht hatte und dann traurig ist, daß sie vorbei war.


Weit unten sah er die winzige Gestalt eines Mannes, der einen schmutzigweißen Fallschirm einsammelte.

Ich hab’s getan! dachte Jamie. Ich bin gesprungen. Er wollte einen echten indianischen Siegesschrei ausstoßen.

Aber der nüchterne Teil seines Verstandes warnte ihn: Du mußt erst noch landen, ohne dir die Knöchel zu brechen. Oder den verdammten Schnitt aufzureißen.

Der Boden raste ihm jetzt wirklich entgegen. Entspann dich.

Beuge die Knie. Laß die Beine den Stoß absorbieren.

Er schlug schwer auf, überschlug sich zweimal und spürte dann, wie der heiße Wind an seinem geblähten Fallschirm zerrte. Plötzlich war Zawgorodny neben ihm und zog an den Leinen, und der andere Kosmonaut schlang seine Arme um den Fallschirm wie ein Mann, der eine Tonne Einwickelpapier wieder in die Schachtel zu stopfen versucht.

Jamie stand mit weichen Knien auf. Sie halfen ihm, aus den Fallschirmgurten zu schlüpfen. Das Flugzeug kreiste träge über ihnen.

»Gut gemacht«, sagte Zawgorodny, der jetzt breit lächelte.

»Wie sind Sie so schnell runtergekommen?« fragte Jamie.

»In freiem Fall, an Ihnen vorbei. Haben Sie mich nicht gesehen? Ich war wie eine Rakete!«

»Juri ist nämlich Freifall-Meister«, sagte der andere Kosmonaut.

Das Flugzeug kam mit ausgefahrenen Klappen und hustenden Motoren herunter. Seine Räder setzten auf dem Boden auf und wirbelten enorme Staubwolken hoch.

»Und jetzt fliegen wir nach Muschestwo?« erkundigte sich Jamie bei Zawgorodny.


Der Russe schüttelte den Kopf. »Wir haben schon gefunden.

Muschestiwo bedeutet auf Englisch Mut. Sie haben Mut, James Waterman. Ich bin froh.«

Jamie holte tief Luft. »Ich auch.«

»Wir vier«, sagte Zawgorodny, »wir fliegen nicht zum Mars.

Aber einige Freunde von uns. Wir lassen nicht zu, daß jemand, der keinen Mut hat, zum Mars fliegt.«

»Wie könnt ihr…?«

»Andere prüfen Ihr Wissen, Ihre Gesundheit, wie Sie mit nötigen Geräten zurechtkommen. Wir prüfen Mut. Niemand ohne Mut fliegt zum Mars. Würde Gefahr für unsere Kosmonautenfreunde bedeuten.«

»Muschestwo«, sagte Jamie.

Zawgorodny lachte und klopfte ihm auf den Rücken, und sie machten sich auf den Weg über den kahlen, staubigen Boden zu dem wartenden Flugzeug.

Muschestwo, wiederholte Jamie im stillen. Ihre Version eines heiligen Rituals. Wie ein Reinigungsritus der Navajos. Ich bin jetzt einer von ihnen. Ich habe es ihnen bewiesen. Ich habe es mir bewiesen.


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