WASHINGTON DAS WEISSE HAUS

In längst vergangenen Jahren war der Kartenraum von Franklin Delano Roosevelt als Lageraum benutzt worden, in dem er den Verlauf des Zweiten Weltkriegs hatte verfolgen können.

Er lag im Erdgeschoß des zentralen Teils des klassizistischen Baus und war vom Oval Office aus leicht zu erreichen, sogar mit dem Rollstuhl.

Jetzt benutzte der Präsident den Raum für seine wöchentlichen privaten Mittagessen mit der Vizepräsidentin, eine Tradition, die keiner von ihnen sonderlich schätzte.

Das Duo – der erste Latino-Präsident und die erste Frau, die das Vizepräsidentenamt bekleidete – hatte von der vorherigen Administration ein Marsprogramm geerbt, das sie gestrichen hätten, wenn es nicht schon zu weit gediehen gewesen wäre, als daß man es noch hätte stoppen können. Statt dessen arbeiteten sie nun darauf hin, daß man das Verdienst für die erste Landung von Menschen auf dem Mars ganz allein ihnen anrechnete, während sie die Ausgaben für das Programm zugleich bis zum Gehtnichtmehr beschnitten. Innerhalb der Bandbreite des politischen Zynismus war der ihre allerdings fast nicht der Rede wert.

Sie waren ein merkwürdiges Paar. Der Präsident war rundlich und kahlköpfig; er hatte einen dunklen Schnurrbart und große, weiche braune Augen. Seine Haut war nicht so dunkel, daß sie Wähler, die nicht dem Latino-Lager angehörten, abgeschreckt hätte. Im Fernsehen sah er wie ein freundlich lächelnder Onkel oder vielleicht wie der nette Kerl aus, der den Eisenwarenladen führte. Die Vizepräsidentin war drahtig, aschblond und streitbar. Wenn sie die Stimme erhob, klang diese so schrill und durchdringend wie ein Zahnarztbohrer.

Die Vizepräsidentin war wütend.

»Ist Ihnen klar, wie das für die Medien aussieht?« fragte sie und fuchtelte mit einer vergoldeten Gabel in der Luft herum.

Der Präsident schaute an ihrem zornigen Gesicht vorbei auf das Porträt von Franklin Pierce, das an der cremefarbenen Wand hinter ihr hing. Der unbekannteste all der Männer, die im Weißen Haus gelebt hatten. Pierces Porträt war dem Präsidenten lieb und teuer: Es diente ihm als Mahnung und Ansporn. Ich kann es wenigstens besser machen als er.

»Sie hören mir ja nicht einmal zu!«

Der Präsident wandte seine Aufmerksamkeit wieder seiner Vize zu. Sie hatte ihre Herkunft als Lehrerin an einer staatlichen Schule in New Jersey niemals ganz überwunden. Sie geriet rasch in Zorn und verzieh nur sehr zögernd.

»Ich verstehe die Situation«, sagte er sanft. »Mir sind ebenfalls alle möglichen Leute wegen dieser Indianergeschichte auf den Hals gerückt.«

»Nun, was wollen wir dagegen unternehmen? Wenn wir den Medien das Interview auf dem Band überlassen, wird er wie ein gottverdammter Heiliger dastehen. Wenn wir uns weigern, es ihnen zu geben, sind wir die Arschlöcher.«

Der Präsident zuckte bei ihrer Wortwahl zusammen. Er war im Grunde ein sanftmütiger Mensch, der sich zwischen den luxuriösen burgunderroten Vorhängen und schimmernden Chippendale-Möbeln des Kartenraumes wohl fühlte. Selbst der riesige Perserteppich übte mit seinen leuchtenden Farben und seinen komplizierten geometrischen Mustern eine wohltuende Wirkung auf ihn aus.

»Ich habe das Band gesehen«, antwortete er. »Der junge Mann hat einfach nur gesagt, daß er nicht politisch engagiert war. Ich wüßte nicht, inwiefern uns das schaden sollte.«

»Für die Indianer ist er ein Held geworden«, fauchte die Vizepräsidentin. »Und wenn wir dieses Band veröffentlichen, wird er für jede Minderheitengruppe in diesem Volk ein Held werden.«

»Aber das sind unsere eigenen Leute…«

»Ja! Genau! Unsere Leute. Aber wenn wir zulassen, daß die Medien einen Helden aus ihm machen, was glauben Sie, wie lange Masterson und diese anderen Scheißkerle dann brauchen werden, um ihn zur Galionsfigur ihrer Organisation aufzubauen?«

Der Präsident schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, dass ihnen das gelingt.«

»Ja natürlich! Sie gehen übernächstes Jahr in den Ruhestand.

Ich muß mich den ganzen Vorwahlen stellen. Als Frau habe ich es schon schwer genug, da möchte ich mich nicht auch noch mit einem Indianer herumschlagen müssen, der als Wissenschaftler auf dem Mars gewesen ist!«

»Aber er interessiert sich doch gar nicht für Politik«, wandte der Präsident ein.

»Warum hat er dann mit diesem Indianerquatsch angefangen?« Die Vizepräsidentin schäumte. Ihr Mittagessen stand unberührt vor ihr. »Er kommt gerade rechtzeitig zu den ersten Vorwahlen vom Mars zurück. Ich will nicht, daß er gegen mich eingesetzt wird!«


Der Präsident, der einiges von Politik verstand, überlegte rasch. »Angenommen, er wird einer von Ihren Unterstützern?«

Sie schüttelte verbissen den Kopf. »Masterson hat einen guten Draht zu dem High-Tech-Volk. Er wird sich diese Rothaut schnappen, bevor wir es können. Das wissen Sie. Denken Sie daran, ich war diejenige, die den Space Council dazu gebracht hat, gegen finanzielle Mittel für weitere Marsmissionen zu stimmen, solange nicht die Ergebnisse von dieser vorliegen!

Masterson wird mich dafür kreuzigen! Und dieser Indianer wird ihm dabei helfen. Er hilft ihm ja jetzt schon!«

Der Präsident schob seinen Stuhl ein kleines Stück zurück und sah sich Unterstützung heischend in dem Raum um. Keines der Porträts gewährte ihm auch nur die geringste Hilfe, nicht einmal das von Roosevelt mit seinem Navy-Umhang.

»Tja, was können wir dagegen tun?« fragte er.

»Ihn mundtot machen«, antwortete die Vizepräsidentin sofort. »Ihn aus dem Bodenteam da oben auf dem Mars abziehen und in eins der Schiffe im Orbit stecken. Dann werden die Medien ihn nicht weiter beachten. Die interessieren sich nur dafür, was auf dem Boden los ist.«

»Aber werden die Leute denn nicht denken, daß wir aus politischen Gründen gegen diesen Wissenschaftler vorgehen?«

»Wir können einen Grund finden, ihn aus dem Bodenteam herauszuholen. Nicht sofort, natürlich. In ein oder zwei Wochen. Dann bleibt uns noch reichlich Zeit. Die Medien werden ein großes Geschrei veranstalten, aber mir ist es lieber, sie meckern jetzt als in einem Jahr, wenn er hierher zurückkommt.«

»Glauben Sie, daß wir damit durchkommen?«


»In einem Jahr wird er vergessen sein. Niemand hat eine so lange Aufmerksamkeitsspanne.«

Der Präsident lächelte milde. »Sie schon.«

Seine Vizepräsidentin schnitt eine Grimasse. »In unserem Geschäft braucht man ein langes Gedächtnis. Und Krallen.«

»Und das Band?«

»Erzählen Sie den Medien, er hätte sich geweigert, sich interviewen zu lassen. Sorgen Sie dafür, daß er wie ein hochnäsiger Wissenschaftler dasteht und nicht wie eine edle Rothaut, die die Aufmerksamkeit auf die Not ihres armen Volkes zu lenken versucht.«

Der Präsident nickte bedächtig. Es konnte klappen. Und es konnte durchaus sein, daß diese machthungrige Frau, die ihm da gegenübersaß, die erste Präsidentin der Vereinigten Staaten werden würde. Sie hatte das nötige Feuer im Leib. Und die erforderlichen Krallen.


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