»Sieht doch ganz appetitlich aus«, witzelte Leonid Tolbukhin.
»Wie eine große Kartoffel.«
Isoruku Konoye schwieg. Der japanische Geochemiker war merkwürdig nervös, als er und der Kosmonaut sich dem klobigen, unregelmäßigen Klumpen des Marsmonds Deimos näherten. Für den Russen sah er vielleicht wie etwas Eßbares aus; für ihn wirkte er wie eine riesige, brütende, dunkle Masse, böse und äußerst gefährlich.
Der Mars hat zwei Monde, winzige Felsbrocken namens Phobos und Deimos, Furcht und Schrecken. Passende Gefährten für den Gott des Krieges.
Auf den ersten Blick sehen die Marsmonde tatsächlich wie unregelmäßig geformte Kartoffeln aus. Keiner von beiden ist rund. Wegen ihrer geringen Größe sind sie nicht jenen Kräften ausgesetzt gewesen, die einem Stein- und Metallklumpen sphärische Form verleihen. Beide sind von Meteoriteneinschlägen zernarbt. Phobos ist von unerklärlichen Schrammen überzogen, Furchen, die fast so aussehen, als wäre seine felsige Oberfläche von den Klauen einer titanischen Bestie zerkratzt worden.
Deimos, der kleinere der beiden, ist ungefähr so groß wie die Insel Manhattan: rund zehn mal zwölf mal sechzehn Kilometer. Er kreist in einer Höhe von etwas mehr als zwanzigtausend Kilometern um den Mars. Vom Boden aus sieht er wie ein sehr heller Stern aus, der zweieinhalb Sols am Himmel hängt, bevor er unter den Horizont sinkt.
Phobos mißt zwanzig mal dreiundzwanzig mal achtundzwanzig Kilometer und zieht in weniger als sechstausend Kilometer Höhe eine viel engere Kreisbahn um seinen Planeten.
Er überquert den Marshimmel in nur viereinhalb Stunden, jagt wie ein künstlicher Satellit (wofür man ihn früher tatsächlich einmal gehalten hat) von Westen nach Osten und geht etwa sechseinhalb Stunden später wieder auf.
Man glaubt, daß Deimos und Phobos ursprünglich Asteroiden waren; vielleicht gehörten sie zu dem großen Gürtel kleiner Stein- und Metallbrocken, die zwischen dem Mars und dem Riesenplaneten Jupiter kreisen. Vor undenklichen Zeiten drifteten sie so nah heran, daß sie vom Schwerefeld des roten Planeten eingefangen wurden und auf Satellitenbahnen um ihn herum gerieten.
Folglich kann uns das Studium von Phobos und Deimos viel über die weiter entfernten Asteroiden sagen.
Die meisten Meteoriten, die auf der Erde eingeschlagen sind, waren ursprünglich Asteroiden. Die Marsmonde ähneln jenem Typ von Meteoriten, die von Astronomen ›kohlstoffhaltige Chondrite‹ genannt werden. In solchen Meteoriten hat man nicht nur Kohlenstoffverbindungen gefunden, sondern auch Wasser, das in chemischen Zusammensetzungen – sogenannten ›Hydraten‹ – im Gesteinsmaterial des Meteoriten eingeschlossen war.
Falls die Marsmonde reich an Hydraten und Kohlenstoffverbindungen sind – selbst wenn das Wasser nicht in flüssiger Form vorliegt –, werden die Biologen auf den Monden bestimmt nach Spuren von Leben und dessen Vorläufern suchen wollen. Auch für Raumfahrtingenieure sind die Hydrate unermeßlich wertvoll. Sie könnten Wasser und Sauerstoff liefern, zwei lebensnotwendige Materialien. Und was noch wichtiger ist, Wasser läßt sich in Wasserstoff und Sauerstoff aufspalten, die in Raketentreibstoffen Verwendung finden könnten, um die bei künftigen Marsmissionen von der Erde in den Raum zu transportierenden Tonnagen zu halbieren.
Dann könnten die winzigen Marsmonde Oasen für Raumfahrer werden, wo sie die Vorräte für ihre Lebenserhaltungssysteme auffrischen und die Raketentriebwerke betanken können.
Falls sie Hydrate enthalten.
Deshalb hatten der japanische Geochemiker und der russische Kosmonaut die Mars 2 verlassen, um mit der Vor-Ort-Untersuchung von Deimos zu beginnen.
»Fünf Minuten bis zum Bodenkontakt«, sagte Tolbukhin in sein Helmmikrofon. »Ich entsichere den Penetrator.« Das war ein raketengetriebener Greifhaken, der sich in Deimos’ zernarbte Oberfläche graben und die beiden Männer fest verankern sollte. Wenn sie sich nicht auf diese Weise anseilten, konnten die Forscher bei jedem Schritt, den sie taten, von dem winzigen Mond abheben, so gering war dessen Schwerkraft.
Konoye sagte immer noch nichts. Sein Blick war nicht mehr auf die dunklen Umrisse von Deimos gerichtet, die sich vor ihnen abzeichneten. Statt dessen starrte er den riesigen roten Planeten an, der über ihnen hing. Er konnte den Blick nicht von ihm wenden.
Die beiden Männer hatten die Mars 2 eine Stunde zuvor in Druckanzügen verlassen. Mit den Metallrohrkonstruktionen der Raumschlitten, die ihre Körper umgaben, sahen sie wie bunte, dicke Roboter aus, die in Klettergerüsten steckten. Die Raumschlitten enthielten persönliche Ausrüstung, Lebenserhaltungssysteme sowie die Schubaggregate und Treibstoffe, mit denen sie von dem Raumschiff in der Umlaufbahn zu dem Marsmond fliegen konnten, der nach dem griechischen Wort für Schrecken benannt war.
Die mit einem Raumseil miteinander verbundenen, langsam um einen gemeinsamen Mittelpunkt kreisenden Mars 1 und Mars 2 sahen wie Miniaturraumschiffe aus, weiß und lautlos, leblos und schrecklich weit entfernt.
Für Konoye war Deimos ein häßlicher, unregelmäßiger, von Kratern zernarbter dunkelgrauer Steinklumpen, der die Sterne auslöschte und den halben Himmel einnahm. Riesenhaft. Bedrohlich. Und der Mars selbst wirkte furchteinflößend groß, erdrückend massiv. Aus Konoyes Perspektive ragte der immens große und schwere Rote Planet über ihm auf, leuchtete zornig über seinem Kopf, lastete auf ihm, preßte ihm die Luft aus den Lungen. Die drei gewaltigen Vulkane des Tharsis-Buckels und die noch größere Caldera von Olympus Mons schienen wie die vier monströs großen runden Augen eines Dämons mit bösem Blick auf ihn herabzustarren.
Der japanische Geochemiker hatte über drei Jahre für diesen Augenblick trainiert. Er hatte auf der Erde sämtliche Simulationen absolviert und lange Wochen in der Schwerelosigkeit an Bord der Raumstationen in der Erdumlaufbahn verbracht.
Er hatte sich gründlich darauf vorbereitet, die Vor-Ort-Untersuchung der beiden Marsmonde zu leiten. Ein russischer Geologe und ein amerikanischer Geophysiker warteten darauf, daß sie nach ihm an die Reihe kamen. Aber momentan war Japan vorn.
Konoye hatte jedoch nicht mit diesem ungeheuren roten Ding gerechnet, das wie eine mächtige, greifbare Kraft über ihm aufragte. Das war keine Simulation. Der Mars hing über ihm, und er spürte, wie er sich auf ihn herabsenkte, während sein vieläugiger Dämon ihn zornig und fordernd anstarrte. Etwas aus seiner Kindheit erwachte und begann zu schreien. Ein längst vergessener Alptraum zerrte an seinem Geist. Er mußte fliehen. Nichts wie weg von hier!
Blindlings feuerte Konoye die Schubaggregate seines Exkursionsgeräts ab. Voller Panik flüchtete er vor der überwältigenden Präsenz des Mars.
»Warten Sie!« rief Tolbukhin. »Was tun Sie?«
Konoye flog weg vom Mars, weg von Deimos, weg von dem Raumschiff, in dem er seit über neun Monaten lebte. Er schloß die behandschuhten Hände fest um die Steuerung der Schubaggregate, wie ein Katatoniker oder ein Mann, der bereits von der Totenstarre befallen ist.
»Halt!« brüllte Tolbukhin, der vor Aufregung in Russisch verfiel. »Sie Narr, Sie werden sich noch umbringen!«
Aber Konoye floh, von Panik erfüllt, unfähig zu sprechen.
Der Kosmonaut aktivierte seine eigenen Schubaggregate und flog ihm nach, obwohl in seinem Helmkopfhörer ein Feuerwerk hektischer Befehle des Teams in der Mars 2 explodierte, das ihre Exkursion überwachte.
Unter der unbarmherzigen Hand der blinden Natur war Konoye zu einem winzigen Asteroiden geworden. Bei vollem Schub erschöpfte sich der Treibstoff in seinen Tanks rasch. Im reibungslosen Vakuum des Weltraums flog er immer weiter in dieselbe Richtung, geradewegs hinaus in die endlose Leere zwischen den Welten.
Tolbukhin konnte ihn nicht einholen. Innerhalb von ein paar Sekunden machte sich sein Training geltend – unterstützt von den wilden Rufen des Überwachungsteams in seinem Helmkopfhörer. Er kehrte um und flog zur Mars 2 zurück, wo er in Sicherheit war.
Das Rettungsteam brauchte nicht mehr als zwei Stunden, um Konoye mit einem der für den Notfall vorgesehenen Transfer-Fahrzeuge zu erreichen, die sie alle ›Schlepper‹ nannten. Der japanische Wissenschaftler hatte noch Luft für mehrere Stunden in den Tanks seines Anzugs. Seine Heizung und das übrige Lebenserhaltungssystem funktionierten noch.
Aber er war tot. Bei der Autopsie, die Dr. Yang an Bord der Mars 2 unverzüglich durchführte, stellte sich heraus, daß die Todesursache eine Gehirnblutung gewesen war. Tolbukhin schüttelte den Kopf, als er das hörte.
»Er ist vor Angst gestorben«, sagte der Russe leise. » Deimos hat ihn getötet, der Schrecken.«