›Live‹-Interviews unmöglich. Wie sollte man ein Interview führen, wenn man zwischen jeder Frage und der Antwort darauf zwanzig Minuten warten mußte?

Die Medienproduzenten hatten ihre Lösung: Jeder Forscher bekam eine Liste von Fragen. Die beantwortete er dann vor der Kamera, eine nach der anderen. Auf der Erde schnitt man die Antworten auseinander und fügte an den entsprechenden Stellen die Fragen eines Reporters ein. Das Ergebnis sah aus, als ob der Reporter und der Forscher auf dem Mars tatsächlich

›live‹ miteinander sprechen würden. Beinahe. Was ein bißchen fehlte, war die Spontaneität eines echten Interviews von Angesicht zu Angesicht. Aber das Publikum in aller Welt war an hölzerne Auftritte von Wissenschaftlern und Astronauten gewöhnt, das versicherten die Fernsehproduzenten jedenfalls den Managern ihrer Sender.

Außerdem befanden sich die Leute, die da sprachen, auf dem Mars!

Müde glitt Jamie auf den knarrenden Plastikstuhl vor dem Hauptbildschirm. Er trug immer noch seinen Thermo-Unteranzug, die wie von Schläuchen überzogene weiße Unterwäsche aussah. Abell setzte sich abseits hin, um die Geräte zu beaufsichtigen. Er grinste, als würde es ihm Spaß machen, einem Wissenschaftler dabei zuzuschauen, wie er sich mit den Fragen der Journalisten herumschlug.

Als der Bildschirm hell wurde, zeigte er zu Jamies Verblüffung jedoch nicht Li Chengdu oben im Kommandoschiff in der Marsumlaufbahn oder einen der Flugkontrolleure in Kaliningrad. Jamie stellte fest, daß er in die traurigen grauen Augen von Alberto Brumado schaute.


Brumado war am Morgen nach der stürmischen Feier von Rio nach Washington geflogen. In der amerikanischen Öffentlichkeit schlugen die Wellen hoch, und niemand Geringeres als die Vizepräsidentin persönlich erhob die ungeheuerliche Forderung, daß einer der Wissenschaftler vom Forscherteam auf dem Mars abgezogen werden sollte.

Er hatte zwei Tage damit verbracht, die Politiker zu beschwichtigen, aber er konnte nicht leugnen, daß in den amerikanischen Medien helle Aufregung darüber herrschte, daß ein amerikanischer Ureinwohner unter den Marsforschern war und sich geweigert hatte, die Ansprache zu halten, welche die Public-Relations-Leute von der Raumfahrtagentur für ihn verfaßt hatten.

Brumado hatte sich nicht nur mit den Politikern, sondern auch mit Medienvertretern getroffen und festgestellt, daß die Medien wie vom Blutgeruch angelockte Haie um die Person von James Waterman kreisten und bereit waren, sich auf ihn zu stürzen und ihn zu erledigen.

Brumado hatte nur ein einziges Ziel: Die erste Marsmission mußte ein solcher Erfolg werden, daß die Menschen auf der Erde sich für die Fortsetzung der Forschungsarbeiten auf dem Roten Planeten aussprachen. Er würde nicht zulassen, daß ein einzelner Mann – ob dieser nun ein Narr, ein sturer Bock oder schlicht ein Opfer der Umstände war – zunichte machte, wofür er dreißig Jahre lang gekämpft hatte. Er würde verhindern, daß ein einzelner Mann – sei er rot, gelb, weiß oder grün – die öffentliche Meinung gegen den Mars aufbringen würde.

Jetzt saß er vor einem Bildschirm in einem Büro in Washington. Durch die halb geschlossenen Jalousien konnte er die modernistische, gedrungene Fassade des Luft- und Raumfahrtmuseums sehen, durch dessen Eingangstüren Tausende von Menschen strömten.

»Fertig zur Übertragung zum Mars, Sir«, sagte die junge Frau, die ihm auf der anderen Seite des Büros gegenübersaß.

Sie trug einen Kopfhörer auf ihren lockigen, dunklen Haaren, und auf dem Schreibtisch vor ihr häufte sich ein Wirrwarr grauer Elektronikkästen.

Auf dem Bildschirm sah Brumado einen Mann in einem wei

ßen Overall mit einem lächelnden Froschgesicht. Das NASA-Abzeichen auf seiner Brust identifizierte ihn als den Astronauten Abell. Er wirkte entspannt und ganz locker; seine Lippen bewegten sich. Brumado erkannte, daß diese Übertragung schon über zehn Minuten alt war und daß die Techniker den Ton abgedreht hatten, um ihn nicht zu verwirren. Sie wollten, daß er jetzt zu sprechen begann, weil sie wußten, daß es fast zehn Minuten dauern würde, bis seine Worte und sein Bild den Mars erreichten. Dann sollte James Waterman dort sitzen, wo jetzt der Astronaut noch saß.

Brumado lächelte unbewußt, als er zu sprechen begann.

»Doktor Waterman, das hier ist aus mehreren Gründen sehr unangenehm für mich. Erstens sehe ich Sie nicht auf dem Bildschirm, weil es so lange dauert, Botschaften hin und her zu schicken. Zweitens muß ich Sie um einen Gefallen bitten. Ich erinnere mich, daß wir uns während Ihres Trainings einmal begegnet sind, und ich bedaure, daß wir keine Gelegenheit hatten, mehr Zeit miteinander zu verbringen und uns besser kennenzulernen.« Brumado zögerte und sprach dann rasch weiter. »Ich nehme an, Sie wissen, daß Sie hier in den Vereinigten Staaten einen ganz schönen Aufruhr verursacht haben.«


Jamie betrachtete Brumados Gesicht mit dem ordentlich gestutzten Bart: freundlich, ein bißchen traurig, das graue Haar ein wenig zerzaust. Nur drei lausige Worte, dachte Jamie, während Brumado zu ihm sprach. Drei kleine Worte anders als geplant, und daheim ist der Teufel los.

»… Ich habe mich also mit den großen Networks zusammengesetzt und die Wogen für Sie so weit wie möglich geglättet.

Die werden jedoch erst dann Ruhe geben, wenn sie die Chance bekommen, Sie zu interviewen. Die Networks haben sich einverstanden erklärt, die Fragen von einem einzigen Reporter stellen zu lassen, und ich habe mir die Fragen auf dem Band angesehen. Wir haben keine Einwände dagegen, daß Sie alle beantworten. Natürlich haben die Medien von der Agentur ihre kompletten biographischen Unterlagen bekommen, und es hat bereits etliche Interviews mit Ihren Eltern und anderen Leuten gegeben, die Sie aus der Schule oder privat kennen. Bis jetzt ist die Berichterstattung sehr wohlwollend gewesen, sehr positiv für Sie. Aber jetzt will man mit Ihnen sprechen.«

Brumado holte tief Luft und fuhr fort: »Ich weiß, dort, wo Sie jetzt sind, und angesichts der Arbeit, die vor Ihnen liegt, klingt es für Sie bestimmt beinahe lächerlich, aber Sie müssen verstehen, daß Sie hier einen sehr empfindlichen Nerv getroffen haben. Indianeraktivisten erklären Sie bereits zum Helden. Die Vizepräsidentin ist höchst erbost über die Raumfahrtagentur, weil diese zugelassen hat, daß Sie mit zum Mars geflogen sind.

Sie hält Sie für einen Unruhestifter, obwohl sie ungleich stärkere Worte dafür benutzt hat. Ich habe sie darauf hingewiesen, daß ich selbst mich für Ihre Aufnahme ins Team eingesetzt habe, aber das hat sie nur noch zorniger gemacht, glaube ich.

Also – was sollen wir tun?«


Jamie hätte beinahe zu einer Antwort angesetzt, aber dann merkte er, daß Brumado keine erwartete. »Wir übertragen Ihnen die Fragen der Medien, sobald ich mit meiner kleinen Rede fertig bin. Wir möchten, daß Sie die Fragen so ehrlich und offen beantworten, wie Sie können. Der Space Council hier in Washington wird sich das Band mit Ihren Antworten ansehen, bevor es an die Medien weitergegeben wird. Die Vizepräsidentin persönlich wird die Entscheidung treffen, ob Ihr Band veröffentlicht werden soll oder nicht. Ich schlage vor, Sie lassen zunächst einmal das ganze Band durchlaufen, hören sich jede Frage sorgfältig an, gehen dann zurück und beantworten sie einfach alle der Reihe nach.«

Brumado schien sich näher zum Bildschirm zu beugen. Sein Gesicht nahm einen eindringlicheren, besorgteren Ausdruck an. »Ich muß Sie warnen: Die Qualität Ihrer Antworten wird darüber entscheiden, ob Sie beim Bodenteam bleiben dürfen oder nicht. Ich habe ein ausführliches Gespräch mit Li Chengdu geführt, und er ist vehement dagegen, daß Sie aus politischen Gründen ausgewechselt werden. Aber wenn die Vizepräsidentin darauf besteht, bleibt uns keine andere Wahl, als Sie zum Orbiter heraufzuholen und den Australier, Doktor O’Hara, an Ihrer Stelle hinunterzuschicken.«

Brumado lehnte sich wieder zurück und sagte: »Tja, das war’s. Ich bedaure, daß dies geschieht, aber wir müssen versuchen, damit so rasch und so ehrlich wie möglich fertigzuwerden. Gleich im Anschluß kommen die Fragen des Interviewers. Auf Wiedersehen einstweilen. Und viel Glück.«

Der Bildschirm flackerte kurz, dann erschien das glatte, lächelnde Gesicht eines Moderators. Jamie erkannte das Gesicht, konnte sich aber nicht an den Namen erinnern. Von irgendwo in der Kuppel wehte ‘eise Musik an sein Ohr: nichts Geringeres als ein Klavierkonzert von Rachmaninow. Düster und melancholisch. Muß eins der Bänder der Russen sein, dachte er.

Komisch, daß Brumado gar nicht mit seiner Tochter sprechen wollte. Vielleicht hat er’s schon getan. Vielleicht hat Paul ihm auch erzählt, daß Joanna in ihrem Labor zu tun hat.

Der Moderator machte sich nicht die Mühe, sich vorzustellen; vielleicht hielt er sich für so berühmt, daß er darauf verzichten konnte.

»Doktor Waterman, ich werde Ihnen eine Liste von Fragen vorlesen, die wir gern von Ihnen beantwortet hätten. Soweit ich weiß, werden Ihre Antworten von der Regierung überprüft, bevor sie uns ausgehändigt werden. Bitte antworten Sie ruhig so ausführlich, wie Sie wollen. Machen Sie sich keine Gedanken wegen der Zeit. Wir können alle Wiederholungen, Huster oder Nieser aus dem fertigen Interview herausschneiden.«

Sein Lächeln wurde breiter, aber seine Augen wirkten hart und stechend, wie die eines Wolfs. Jamie erinnerte sich an Ediths Warnung, man könne ein aufgezeichnetes Interview so bearbeiten, daß der Interviewte entweder gut oder schlecht aussehe, aber er hatte kaum die Zeit, darüber nachzudenken, bevor der Moderator seine erste Frage stellte.

»Ihre Unterlagen aus Berkeley und von der University of New Mexico enthalten keinen Hinweis darauf, daß Sie an pro-indianischen Aktivitäten oder überhaupt an irgendwelchen politischen Aktivitäten beteiligt waren – abgesehen von Ihrem Einsatz um ausreichenden Wohnraum für Studenten –, obwohl Sie in Ihrem letzten Jahr in Albuquerque Vorsitzender des Studentenausschusses gewesen sind. Waren Sie insgeheim politisch aktiv? Wenn nicht, wann sind Sie aktiv geworden?«

Und so ging es weiter. Jamie befolgte Brumados Rat und sah sich das gesamte Band an, bevor er versuchte, die einzelnen Fragen zu beantworten. Das Ganze war ein einziger, großangelegter Versuch, Jamie zu einer Stellungnahme zur Indianerfrage und zu einer Kritik an der Art und Weise zu bewegen, wie die Regierung diese behandelte. Der Anglo besaß sogar die Frechheit, Wounded Knee und General Custer ins Spiel zu bringen.

Abell lachte bei mehreren Fragen laut auf. Als das Band zu Ende war, zeigte er Jamie, wie er es zurückspulen und dann am Ende jeder Frage anhalten konnte, um seine Antwort zu geben.

»Und wann haben Sie aufgehört, Ihre Frau zu verprügeln?«

fragte Abell hämisch. »Die Frage hat er vergessen.«

Jamie lehnte sich auf dem zierlichen Plastikstuhl zurück und starrte auf den leeren Bildschirm. In seinem Kopf herrschte ein einziges Chaos. Viele Minuten lang sagte er gar nichts und rührte sich auch nicht.

Schließlich fragte Abell: »Sind Sie soweit?«

Hinter sich hörte Jamie die Stimmen der anderen und Rachmaninows düstere Melodien. Über sich sah er die Rundung der Kuppel, die jetzt gegen die heranrückende Kälte der Marsnacht abgedunkelt war. Jenseits dieser dünnen Barriere war eine andere Welt, die darauf wartete, erforscht zu werden.

Er nickte Abell zu. »Ich bin soweit.«

Das Gesicht des Moderators erschien wieder auf dem Bildschirm, wiederholte die erste Frage mit dem ernsten kleinen Lächeln, das Aufrichtigkeit vermitteln sollte, und fror dann ein, als Jamie antwortete.

»Ich war nie an irgendwelchen politischen Aktivitäten beteiligt, weder auf dem Campus noch danach. Ich gehe regelmä

ßig zur Wahl, aber das ist auch schon so gut wie alles. Ich betrachte mich als amerikanischen Bürger, genau wie Sie. Meine Vorfahren sind einerseits amerikanische Ureinwohner, andererseits Yankees aus New England – eine Mischung aus Navajos und Mayflower. Für mich ist es dasselbe, als ob all meine Vorfahren aus einem Land in Europa kämen, wie Ihre. Ich bin stolz auf meine Navajo-Herkunft, aber nicht mehr als Sie auf die Ihre, welche auch immer das sein mag.«

Jamie holte Luft und fuhr fort. »Ich spreche zu Ihnen vom Planeten Mars. Heute nachmittag haben meine Kollegen und ich hier Wasser entdeckt. Das ist viel wichtiger als meine Hautfarbe oder die Art meiner politischen Aktivitäten. Zum ersten Mal haben wir bei der Erforschung des Sonnensystems auf einer anderen Welt Wasser in flüssigem Zustand gefunden. Dazu sollten Sie uns befragen, nicht zu einigen wenigen Worten, die ich in einem sehr emotionalen Augenblick meines Lebens von mir gegeben habe. Alle anderen Mitglieder unseres Teams haben ihre ersten Worte auf dem Mars in ihrer Muttersprache gesprochen. Ich habe sie in meiner gesagt – die einzigen Worte Navajo, die ich kenne. Mehr ist an der Sache nicht dran. Und jetzt sollten wir mit diesem Quatsch aufhören und mit der Erforschung des Mars weitermachen.«

Er drehte sich auf seinem Stuhl zu Abell. »Das war’s.«

»Sie erwarten doch wohl nicht, daß Sie den letzten Satz senden, oder?«

»Ehrlich gesagt, ist mir das scheißegal.«


Der Astronaut schaute ein wenig besorgt drein und spielte die nächste Frage des Moderators ein.

»Nein«, sagte Jamie. »Das war’s. Ich habe alles gesagt, was ich zu sagen habe. Schicken Sie’s rauf zu Doktor Li und nach Washington. Ich habe dem nichts hinzuzufügen.«

Li Chengdu mußte unwillkürlich lächeln, als er sich das Band mit Jamies kurzem Interview ansah. Das wird den Leuten in Washington nicht gefallen, aber der junge Mann hat Courage.

Li legte die Fingerspitzen aneinander und fragte sich, wieviel Ärger er verursachen würde, wenn er sich weigerte, Waterman aus dem Bodenteam herauszunehmen. Natürlich hatte Washington diese Forderung noch nicht erhoben. Aber er zweifelte nicht daran, daß sie es tun würden, sobald sie Watermans Band sahen.

Ja, der junge Mann hat Mut, sagte sich Li. Habe ich den Mut, mich hinter ihn zu stellen und mich den Politikern zu widersetzen?

Ihr Arm reicht nicht bis zum Mars; mich könnten sie nicht auswechseln. Aber was würden sie wohl tun, wenn wir zur Erde zurückkehren? Das ist die interessante Frage. Und sie ist mehr als nur interessant. Vielleicht hängt mein Nobelpreis von dieser Sache ab. So wie die gesamte Karriere des jungen Waterman. Seine Karriere und sein Leben.


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