Alle sind so verdammt froh darüber, daß wir abfliegen, dachte Jamie. Warum ich nicht?
Sie hatten ihre Proben und Computerdisketten an Bord der Aufstiegsmodule der L/AVs verstaut. Die gesamte Laborausrüstung und ihre restlichen Vorräte waren sorgfältig abgedeckt und versiegelt worden und blieben zusammen mit den Möbeln und dem Lebenserhaltungssystem in der Kuppel, so daß die nächsten Forscher sie benutzen konnten – falls es eine zweite Marsexpedition gab.
Jamie hatte das Gefühl, als würde er eine Heimat verlassen, in der er sein ganzes Leben verbracht hatte. Er erinnerte sich an das hohle, beinahe angstvolle Gefühl in der Magengrube an jenem Tag, da er mit seinen Eltern aus Santa Fe nach Berkeley abgereist war, ihrem neuen Zuhause. Damals war er fünf Jahre alt gewesen. Komisch, woran man sich so erinnert, dachte er.
In der Kuppel herrschte jetzt hallende Leere. Jamie war traurig und bedrückt.
»Da kommt gerade eine Botschaft für Sie rein«, riß ihn Ollie Zieman aus seinen Träumereien. Der Astronaut hielt Wache an der Kommunikationskonsole, bis das letzte L/AV startklar war.
Jamie folgte ihm zum Kommunikationszentrum und setzte sich vor die Hauptkonsole. Zu seiner Überraschung sah er Ediths Gesicht auf dem Bildschirm.
Sie sah sehr müde aus, als hätte sie tagelang nicht geschlafen.
Aber glücklich.
»Jamie, ich versuche jetzt seit fünf Tagen, zu dir durchzukommen. Die Leute vom Projekt haben mir endlich erlaubt, euch allen eine persönliche Botschaft zu schicken. Wir – Alberto und ich – wir waren fast nonstop auf Sendung und haben versucht, Schadensbegrenzung für das Projekt zu betreiben, wie ihr es nennen würdet. Alberto hat detailliert über eure Rettung berichtet, und ich habe dafür gesorgt, daß seine Version der Geschehnisse über die Sender ging, bevor irgend jemand anders auch nur Piep sagen konnte.«
Jamie grinste ihr Bild an. Ganz gleich, wie sie ihr Privatleben gestaltete, Edith war Mitglied des Marsteams geworden.
»Tja, sie haben mir nur eine Minute von ihrer kostbaren Übertragungszeit gegeben, also kann ich nur sagen – ich warte in Washington auf euch, wenn ihr zurückkommt. Ich werde die reguläre hauptamtliche Raumfahrtkorrespondentin von Cable News sein, und ich erwarte, daß du mir ein privates und exklusives Interview gibst. Ganz gleich, mit wem du sonst noch gesprochen hast, wenn du verstehst, was ich meine. Ich möchte dich interviewen. Kapiert?«
Sie blickte erwartungsvoll vom Bildschirm herunter. Jamie schaute über die Schulter hinweg zu Zieman, der eifrig so tat, als hätte er nicht gelauscht.
»Okay.« Jamie wußte, daß es über zwölf Minuten dauern würde, bis seine Worte bei Edith eintrafen. »Ein ausführliches Exklusiv-Interview. Wie damals in Galveston, als ich erfahren hatte, daß ich ins Landeteam aufgenommen worden war. Vielleicht kannst du’s arrangieren, daß wir uns in der Raumstation treffen. Schwerelosigkeit kann richtig Spaß machen.«
Er spürte, daß jemand anders hinter ihm stand. Er drehte sich auf dem Stuhl um und sah, daß es Joanna war. Sie blickte ihn mit einem seltsamen, spöttischen Lächeln auf den Lippen an und hielt die Finger beider Hände hoch. Neun Finger. Wir werden neun Monate lang im Transit sein, übersetzte Jamie ihre stumme Botschaft.
Joanna ging davon. Sie lächelte immer noch. Und Jamie begriff, was sie ihm da gerade signalisiert hatte: daß der Rückflug ganz anders verlaufen würde als der Hinflug.
»Wir sollten jetzt die Anzüge anlegen«, sagte Wosnesenski ganz sanft.
Zum letzten Mal, dachte Jamie. Noch eine letzte Stunde in den harten Anzügen, dann sind wir an Bord der Raumschiffe und können den Heimflug antreten. Alle machten sich auf den Weg zur Luftschleuse und den Gestellen mit den Anzügen, die dort wie immer auf sie warteten.
Zieman und Dr. Yang gingen mit Tony Reed. Die kleine chinesische Ärztin ging vor dem Engländer her, der stämmige Astronaut folgte ihm. Wie ein Gefangener unter Hausarrest, dachte Jamie. Sie geben ihm jetzt schon die Schuld an dem Skorbut-Ausbruch. Auf der Erde wollen sie einen Sündenbock haben, und sie haben beschlossen, daß es Tony sein wird.
Reed wirkte blaß und verschlossen, aber als er Jamie zu sich aufschließen sah, kehrte sein altes schiefes Grinsen zurück.
»Mein Gott, James, Sie schauen ja wirklich mißmutig drein.
Wollen Sie nicht nach Hause?«
»Doch, natürlich.« Aber Jamie wußte, daß es nur die halbe Wahrheit war.
»Sie würden gern mit der Erforschung des Mars fortfahren, habe ich recht?« sagte Reed.
»Sie nicht?«
»Nein danke«, sagte Reed leidenschaftlich. »Ich habe genug von dieser Staubschüssel. Ich freue mich schon auf England, den Regen und die Blumengärten.«
Jamie dachte an die Wüste, in der seine Navajo-Vorfahren gelebt hatten. Wie sehr sie dem Mars gleicht; und wie anders sie doch auch wieder ist.
»Wenn Ihnen so melancholisch zumute ist«, scherzte Reed,
»dann sollten Sie vielleicht hierbleiben.«
»Ich wünschte, ich könnte es«, gab Jamie zu.
Reed zog eine Augenbraue hoch.
»Wie geht es Ihnen, Tony?« fragte Jamie.
»Gut. Machen Sie sich keine Sorgen um mich.«
»Ich werde ein langes Gespräch mit Doktor Li führen, wenn wir wieder im Orbit sind«, erklärte Jamie. »Und mit der Flugleitung.«
»Meinetwegen?«
»Ganz recht.«
»Nicht nötig.«
»Das ist verdammt nötig«, widersprach Jamie. »Ich gehe bis ganz nach oben zu den Projektmanagern, wenn es sein muß.«
»Seien Sie nicht albern«, sagte Reed. »Und kommen Sie mir nicht wieder mit dieser Geschichte von wegen ›Sie haben mir das Leben gerettet‹.«
»Aber die werden Sie zum Sündenbock für alles machen, was bei der Mission schiefgegangen ist!«
Reeds Lächeln wurde bitter. »Na und? Die Mission braucht ein Opferlamm, oder nicht? Ein Mann ist in der Umlaufbahn ums Leben gekommen. Das gesamte Bodenteam wäre beinahe durch einen dummen Fehler gestorben. Sie können gern der Held der Mission sein, James. Ich bin der Sündenbock.«
»Das ist nicht richtig. Es ist nicht fair.«
Reeds Lächeln wurde noch bitterer. »Dann sollten Sie vielleicht wirklich lieber hierbleiben, mein heroischer Freund. Das ist Ihre einzige Chance, diese elende Rostkugel weiter erforschen zu können. Wenn wir erst einmal zu Hause sind und sie anfangen, alle Fehler zu sezieren, die wir gemacht haben, wird es keine weitere Mission zum Mars mehr geben. Nie mehr!«
Jamie sah, daß die anderen sich um sie versammelt hatten.
Ihre Mienen waren fragend. Selbst Wosnesenski schaute skeptisch drein und runzelte besorgt die Stirn. Sie hatten die Reihe der Spinde erreicht, wo ihre staubgesprenkelten Anzüge wie die zerbeulten Rüstungen von Rittern warteten, die den Heiligen Gral gesucht hatten.
Jamie drehte sich zu Reed um. »Bei uns wird es keine Sündenböcke geben«, sagte er ruhig. »Nicht bei uns. Wir sind ein Team. Auch wenn wir zur Erde zurückkommen, sind wir immer noch ein Team. Ohne Helden und ohne Sündenböcke.«
»Ich wünschte, es könnte so sein, Jamie«, sagte Reed mit echter Sehnsucht in der Stimme.
»Es wird so sein.«
»Unmöglich. Die Projektleiter werden mir nie wieder vertrauen. Ich werde mit einem höflichen Händedruck ausgemustert, und dann kann ich eine Privatpraxis aufmachen. Und denken Sie daran, was Mikhail zu gewärtigen hat. Unser edler Teamleiter hat jede Vorschrift im Regelbuch gebrochen und Li und den Flugleitern eine lange Nase gedreht. Mikhails Laufbahn ist beendet.«
Wosnesenski grunzte. »Dann gehe ich eben in Pension. Ich habe meinen Traum verwirklicht. Ich war der erste Mensch auf dem Mars. Ich werde nicht wiederkommen. Ich glaube auch nicht, daß überhaupt noch einmal jemand zum Mars kommen wird. Tony hat recht. Es wird keine weiteren Expeditionen geben.«
»Wie lange?« fragte Jamie. »Mein ganzes Leben lang? Hundert Jahre lang? Tausend Jahre? Das glaube ich nicht. Aber selbst wenn, was macht das schon? Eines Tages werden wir zum Mars zurückkehren, so sicher, wie die Sonne aufgeht.«
»Wirklich?«
»Ja! Weil wir es tun müssen. Die Menschheit muß es tun. Wir sind Forscher, Tony. Wir alle. Selbst Sie; deshalb sind Sie hier.
Es steckt uns im Blut, im Gehirn. Darum geht es bei der Wissenschaft. Menschen müssen lernen, müssen suchen, streben und forschen. Wir brauchen das, wie eine Blume Wasser und Sonnenlicht braucht. Das hat unsere Vorfahren veranlaßt, aus Afrika fortzuziehen und sich auf der ganzen Erde auszubreiten. Jetzt breiten wir uns im ganzen Sonnensystem aus, und eines Tages werden wir anfangen, zu den Sternen hinauszufliegen. Das können Sie nicht verhindern, Tony. Niemand kann es. Das ist es, was uns zu Menschen macht.«
Reed trat einen Schritt zurück und hob das Kinn noch ein wenig höher. »Sehr hübsche Rede, Jamie. Aber der größte Teil der Menschheit schert sich einen Dreck um den Mars oder um sonst etwas außer den eigenen schäbigen kleinen Begierden.
Sie werden das Marsprojekt aufgeben, Jamie. Sie werden es fallenlassen.«
»Sie werden es versuchen, ich weiß. Sie werden ihr Bestes tun, um uns den Hahn zuzudrehen. Aber ich werde auch mein Bestes tun. Denn ich werde keine Ruhe geben, bis sie eine weitere Expedition herschicken. Und wenn ich es mit bloßen Händen tun muß: Ich sorge dafür, daß wir zum Mars zurückkehren.«
Jamie steckte die Hand in die Tasche seines Overalls und holte seinen Bärenfetisch heraus. Er langte nach oben und stellte ihn auf das Bord neben seinen grauen Helm.
»Und zum Beweis dafür lasse ich diesen kleinen Kerl hier, damit er mich begrüßt, wenn ich wiederkomme.«
Alle starrten den Fetisch an. Jamie hatte ihn bis jetzt vor ihnen verborgen gehalten.
»Mein Großvater würde sagen, er hat einen mächtigen Zauber«, erklärte Jamie. »Aber der wahre Zauber ist in uns. Wir sorgen dafür, daß Dinge geschehen. Wir kommen zum Mars zurück – jeder von uns, der es wirklich will.«
Reed schnaubte. »Eine Geste.«
»Ein Symbol«, korrigierte ihn Jamie.
»Wo wir gerade von Gesten sprechen«, sagte Ilona, drängte sich zwischen den anderen durch und blieb zwischen Jamie und Wosnesenski stehen. »Ich hatte eigentlich vor, das unter vier Augen zu tun, sobald wir an Bord des Raumschiffes gewesen wären.«
Ilona zog das eselsohrige Foto aus ihrer Brusttasche, das sie über ihrer Liege an die Wand geklebt hatte. Sie sah Wosnesenski feierlich an und riß das Foto methodisch in kleine Fetzen.
»Mikhail, ich habe Ihnen und allen Russen auf dieser Mission Unrecht getan. Dafür bitte ich Sie um Entschuldigung. Sie haben uns das Leben gerettet, und es war falsch von mir, Ihnen persönlich etwas vorzuwerfen, was fünfzig Jahre zurückliegt.«
Wosnesenski trat völlig verblüfft von einem Bein aufs andere. »Nun… ich glaube…« stammelte er.
Ilona warf ihm die Arme um den Hals und gab ihm einen so dicken Kuß, daß Wosnesenskis Gesicht so rot wurde wie sein Anzug. Alle lachten. Selbst Reed.
Jamie sah die anderen Mitglieder des Marsteams an. Einen nach dem anderen, von Abells grinsendem Froschgesicht bis zu Iwschenko, der sich schwer auf seine zwei Krücken stützte.
Mikhail hat recht gehabt, dachte er. Der Mars hat uns geprüft.
Jeden einzelnen. Keiner von uns ist noch der gleiche Mensch wie bei unserer Ankunft.
Sein Blick blieb an Joanna hängen, die ein wenig abseits von den anderen stand, stark und stolz. Sie erwiderte seinen Blick mit strahlenden Augen.
Die Heimreise wird interessant werden, dachte Jamie. Sehr interessant.