Im Verlauf all der Monate, in denen sie durch die dunkle Leere zwischen den Welten geflogen waren, hatten die Mitglieder der Expedition den Mars von einem hellen roten Stern stetig zu einer rötlichen Scheibe und dann zu einer richtigen dreidimensionalen Kugel anwachsen sehen; schließlich hing sie wie ein gigantischer Hauptgewinn vor ihren Augen, der nur darauf wartete, in Besitz genommen zu werden.
Nachdem die beiden Raumschiffe auf ihre Parkbahn um den Planeten eingeschwenkt waren, verbrachte Jamie Stunden am Beobachtungsfenster und betrachtete die seltsame Welt aus Rost- und Ziegelfarben und beinahe blutigen Rottönen. Am Fenster wimmelte es jetzt von Instrumenten, aber wenn er zwischen ihnen hindurchspähte, konnte er den Mars langsam vorbeiziehen sehen, während die Raumschiffe sich gemessen um ihren gemeinsamen Mittelpunkt drehten. Seine Augen tranken den Anblick förmlich in sich hinein. Jamie sah gewaltige Vulkankegel, die wie die vorstehenden Augen von Eidechsen aufragten und ihn gleichmütig anstarrten. Die riesige, gewundene, klaffende Spalte der Valles Marineris rief bei ihm Erinnerungen an die von Flüssen in den Erdboden geschnittenen Schluchten in seiner Heimat wach.
Er sah Staubstürme, die plötzlich aufkamen und über ein Viertel der Kugel fegten, bevor sie sich auf ebenso mysteriöse Weise legten, wie sie entstanden waren. Riesige Krater, die von uralten Meteoriteneinschlägen herrührten, bei denen auch die kleineren Meteoriten ins All geschleudert worden waren, die schließlich bis zur Erde gelangt waren und im Eis der Antarktis auf ihre Entdecker gewartet hatten.
»Bist du bereit, dort hinunter zu gehen und mit der Arbeit anzufangen?«
Jamie erkannte Ilona Malaters kehlige Stimme, noch bevor er den Kopf drehte.
Er nickte feierlich. »Du nicht?«
Sie schenkte ihm ein frostiges Lächeln. »Nach neun Monaten in diesem Konzentrationslager wäre ich bereit, nackt über die Sanddünen zu laufen.«
Jamie lachte.
In dem reflektierten rötlichen Licht des Mars war Ilonas hochmütiges Gesicht fast genauso kupfern wie das von Jamie.
Ihr kurzgeschnittenes goldenes Haar hatte einen feurigen Schimmer.
»Bist du keusch geblieben?« fragte sie. Ihre Mundwinkel zogen sich ein wenig nach oben.
Es war eher eine Herausforderung als eine Frage, dachte Jamie. Er nickte erneut.
»Du mußt interessante Träume haben«, sagte Ilona.
Er merkte, wie Zorn in ihm aufwallte, und sein Gesicht begann zu brennen. »Wenn du’s sagst, Ilona, du giltst ja hier als die Sexualtherapeutin.«
Ihr Lächeln wurde breiter. »Und warum auch nicht? Tony Reed hat mir versichert, daß niemand an Bord irgendwelche ansteckenden Krankheiten hat, die schlimmer sind als die Erkältung, die du uns beschert hast. Warum sollten wir nicht ein bißchen mehr Abwechslung in unser Leben bringen?«
»Mehr Abwechslung vielleicht, aber auch erheblich mehr Spannungen.«
»Wirklich?« Ilona zog eine Augenbraue hoch. »Ich würde meinen, daß Sex die Spannungen zwischen uns abbaut.«
»Nicht bei den Russen.«
»Ach, die! Sollen die sich doch gegenseitig einen runterholen.«
Jamie schnaubte und wandte sich von ihr ab.
»Du bist dermaßen prüde, Jamie«, sagte Ilona, immer noch lächelnd. »Ich dachte, nachdem wir schon einmal miteinander gefickt haben, würdest du lockerer werden, aber du bist nicht der Typ, der Sex auf die leichte Schulter nehmen kann, wie?«
»Deshalb sind wir hier«, gab er zurück und reckte einen Finger zum Beobachtungsfenster und der roten Masse des Mars, die davor hing. »Um diesen Planeten zu erforschen. Nicht, um pubertäre Highschool-Spielchen zu treiben.«
»Mein Gott, du bist so ernsthaft!«
»Wir sind auf einer ernsthaften Mission, Ilona. Einer sehr ernsthaften.«
»Ich tue niemandem weh. Ich glaube sogar, daß die Spannungen in diesem Gefängnis ohne mich erheblich schlimmer gewesen wären.« Ihre Augen funkelten vor Belustigung.
»Tony ist ganz meiner Meinung; er sagt, mein Beitrag zur Moral des Teams sei unschätzbar.«
»Sag das Mikhail und Dimitri.«
»Nun mach mal halblang, Jamie. Du könntest selber ein bißchen Entspannung gebrauchen.«
»Nein danke.«
»Sieh es doch mal als Forschungsprojekt«, spöttelte Ilona.
»Ich glaube, man lernt einen Mann erst dann richtig kennen, wenn man ihn mit heruntergelassenen Hosen sieht.«
Er starrte sie einen Augenblick lang stumm an. Dann fragte er: »Sehen Katrin und Joanna das auch so?«
»Du meinst, ob sie das gleiche getan haben wie ich?«
Er setzte zu einer Antwort an, hörte jedoch Stimmen draußen auf dem Gang. Tony Reed und Joanna Brumado kamen um die Ecke und betraten den Beobachtungsbereich.
»Dachte ich’s mir doch, daß du das warst, Ilona«, sagte Reed liebenswürdig. »Diese erotische Stimme würde ich überall erkennen.«
Jamie merkte, daß sein Blick auf Joanna ruhte. Er riß sich gewaltsam von ihr los.
Sie plauderten zu viert über die Landung am nächsten Tag und blieben im Gespräch strikt beim Thema der Expedition.
Reed wirkte wie immer lässig und entspannt. Joanna war ernst, wie üblich; ihre dunklen Augen hingen am Mars, als würde ihr zum ersten Mal bewußt, daß sie wirklich auf die Oberfläche dieser fremden Welt hinuntergehen würde.
Jamie kam sich fast wie ein Roboter vor. Er beantwortete Fragen, die sie an ihn richteten; er sagte die richtigen Worte und trug seinen Teil zu der vierseitigen Konversation bei. Aber seine Gedanken rasten. Er erinnerte sich an die kurzen Momente wilder, animalischer Hitze, die er mit Ilona geteilt hatte, erinnerte sich an Joannas traurigen, ernsten Gesichtsausdruck, als er sie geküßt hatte, und fragte sich, warum er nicht lockerer werden, mit Ilona spielen und alles andere vergessen konnte.
»Ich muß in meine Kabine zurück«, sagte Joanna leise, fast furchtsam. »Mein Vater ruft in ein paar Minuten an.«
Tony Reed bot ihr seinen Arm an. »Ich begleite Sie, wenn ich darf.«
Sie warf Jamie einen Blick zu und sah dann wieder Reed an.
»Natürlich. Danke.«
Ilona sah ihnen nach, als sie den Beobachtungsraum verlie
ßen. Ein rätselhaftes Lächeln spielte über ihr Gesicht. Sobald sie außer Hörweite waren, wandte sie sich wieder an Jamie.
»Die Antwort auf deine Frage lautet, daß Katrin in bezug auf ihre Amouren viel diskreter gewesen ist als ich. Und die kleine Joanna war vollkommen tugendsam, soweit ich weiß. Bist du nun zufrieden, Jamie?«
Er nickte und versuchte zu verhindern, daß sein Gesicht seine Gefühle preisgab.
»Aber ist dir aufgefallen«, fügte Ilona teuflisch hinzu, »daß Tony ihr auf Schritt und Tritt folgt, wohin sie auch geht?«
Jamie kniff überrascht die Augen zusammen. »So?«
»Sieh ihn dir an«, sagte sie. »Er läuft ihr nach wie ein Rüde einer läufigen Hündin.«
Dieser verschlagene, lächelnde Scheißkerl, dachte Jamie. Wer hält ihm Predigten? Wer mischt ihm Drogen ins Essen?
»Katrin und ich genügen Tony nicht«, fuhr Ilona fort. »Er will das Unerreichbare.«
Genau wie ich, erkannte Jamie. Genau wie ich.