TRANSIT ZWISCHEN DEN WELTEN

Während der langen Jahre des Trainings war Jamie so viel gereist, daß er morgens oft mit dem Gefühl aufgewacht war, er hätte Houston in Wirklichkeit nie verlassen; eine geheimnisvolle Organisation hätte nur die Stadt vor seinem Hotelfenster verändert. Die Städte da draußen wären gigantische Kulissen und all die Menschen darin bezahlte Schauspieler. Oder vielleicht sehr intelligente Roboter.

Nach etlichen Wochen an Bord der auf ihr fernes Ziel zufliegenden Mars 1 beschlich Jamie der Gedanke, daß auch alle Raumschiffe Kulissen waren.

Innen sahen sie alle gleich aus. Die Raumstationen in der Erdumlaufbahn, die Shuttles, die die Marsforscher dorthin brachten, die Marsschiffe selbst – ihr Inneres war beinahe identisch. Kleine Kabinen, enge Gänge, das ständige Summen elektrischer Geräte, das blendfreie, schattenlose, matte Licht, der immergleiche Geruch von kaltem Metall und abgestandener Konservenluft. Das beengte Gefühl, daß jemand in einer Schlange hinter einem wartete, sogar wenn man auf der Toilette saß.

Nachdem die beiden Raumschiffe nun umeinander rotierten, gab es wenigstens ein Gefühl von Schwerkraft. Man konnte den zentralen Korridor entlanggehen und sich in einen Sessel setzen, und wenn man schlief, dann hatten Matratze und Decke ein gewisses Gewicht und schwebten nicht davon, sobald man sich umdrehte.


Es gab nur einen Ort auf der Mars 1, der keine Klaustrophobie hervorrief: das Beobachtungsfenster, das Ausblick ins Universum bot. Jamie merkte, daß er im Lauf der langen, ermüdenden Wochen immer öfter dorthin ging. Es würde über neun Monate dauern, bis sie den roten Planeten erreichten und in eine sichere Umlaufbahn um ihn herum einschwenkten.

Neun Monate der Inaktivität, in denen man ständig auf Tuchfühlung war, wie ein Dutzend Sardinen in einer Aluminiumdose. Nein, nicht wie in einer Dose, sagte sich Jamie. Wie in einem Druckkochtopf.

Sicher, es gab die eine oder andere Arbeit für sie. Und einen strengen Plan für körperliche Ertüchtigung in dem schrankgroßen Sportraum. Aber das war alles reine Formsache. Jamie riß seine Stunden an den Geräten herunter, wie es von ihm verlangt wurde; er hielt seine Muskeln in Form, aber seine Gedanken schweiften hierhin und dorthin – er langweilte sich, hatte zu nichts Lust und war schlecht gelaunt.

Alle zwei oder drei Tage erhielt er einen Anruf von DiNardo, der sich mittlerweile von seiner Operation erholt hatte. Der Jesuit gab ihm einen Überblick über die Arbeit, die in mehreren Labors auf der Erde vonstatten ging, die weitere Analyse der Steine und Bodenproben, die von den unbemannten Robot-Explorern vom Mars mitgebracht worden waren. Die diversen Analysen unterschieden sich nur in winzigen Details: Alle Bodenproben waren steril, obwohl ein paar Steine Spuren von organischen Stoffen enthielten, kohlenstoffreiche chemische Verbindungen, bei denen es sich möglicherweise um die Vorläufer lebender Organismen handelte.

Die Grundstoffe des Lebens mögen in diesen Steinen vorhanden sein, aber das ist ungefähr so aufregend, als sähe man sich die Flaschen mit Aspirintabletten in der Vitrine eines Drugstores an. Sie haben nichts Lebendiges in den Proben gefunden, nicht mal eine Amöbe.

Als sie schon fast vier Monate unterwegs waren, fragte Jamie plötzlich: »Wie geht es Professor Hoffmann? Arbeitet er an diesen Analysen mit?«

Es dauerte mehrere Minuten, bis die Botschaften die Distanz zwischen den Raumschiffen und der Erde überwunden hatten.

Während Jamie auf den kleinen Bildschirm der Kommunikationskonsole blickte, sah er, wie sich auf DiNardos dunkelbraunem Gesicht Überraschung und dann noch etwas anderes abzeichnete. Schuldbewußtsein? Der Priester fuhr sich mit einer Hand über den rasierten Schädel, bevor er antwortete.

»Professor Hoffmann hat offenbar einen Nervenzusammenbruch erlitten. Er ist momentan in einem Sanatorium in Wien.«

Jamie merkte, wie die gleiche Überraschung, die sich in Schuldbewußtsein verwandelte, in seinen Eingeweiden zu brennen begann.

»Ich habe ihn besucht«, fuhr DiNardo fort. »Seine Ärzte versichern mir, daß er in ein paar Wochen oder so wieder auf dem Damm sein wird.«

Ich möchte wissen, wie ich darauf reagiert hätte, wenn ich in letzter Minute aus dem Team geflogen wäre, dachte Jamie. Er wechselte das Thema, kam wieder auf geologische Fragen zu sprechen und beendete die Unterhaltung mit dem Priester, so schnell es ging.

Er verließ die Kommunikationskonsole vorn auf dem Flugdeck und eilte durch das ganze Habitatmodul zum Beobachtungsfenster zurück. Nach einer unausgesprochenen Übereinkunft galt die Sektion mit dem Fenster als Privatraum. Immer wenn jemand hineinging und die Luke schloß, die sie vom übrigen Modul trennte, ging kein anderes Mitglied der Besatzung hinein. Es war der einzige Ort an Bord des Marsschiffes, wo man allein sein konnte.

Jamie mußte allein sein, fern von all den anderen. Doch als er den engen Gang entlangeilte, spürte er, wie ihn auf einmal eine Woge des Zorns überflutete. Kein Schuldgefühl. Kein Mitleid. Zorn. Immer müssen sie einem irgendwas wegnehmen, hörte er eine Stimme in seinem Kopf klagen. Sie gönnen dir nie den ganzen Kuchen; sie lecken immer vorher den Zuckerguß ab. Oder pissen drauf. Ich bin also auf dem Weg zum Mars, und Hoffmann ist in der Klapsmühle. Na toll.

Dann erinnerte er sich an eine viele Jahre zurückliegende Begebenheit mit seinem Großvater, als er selbst noch ein eifriger junger Schüler an der Highschool gewesen war, der es gar nicht hatte erwarten können, ihm zu zeigen, wieviel er in seinen naturwissenschaftlichen Kursen gelernt hatte. Er hatte versucht, Al die Gesetze der Thermodynamik zu erklären, und dabei mit Begriffen wie ›Entropie‹, ›Temperaturgefälle‹ und thermisches Gleichgewicht um sich geworfen.

»Ach, damit kenne ich mich aus«, hatte Al gesagt.

»Tatsächlich?« Jamie hatte die Behauptung seines Großvater ungläubig und mit äußerster Skepsis zur Kenntnis genommen.

»Klar. Passiert jeden Tag im Laden. Oder wenn ich Poker spiele. Worauf es hinausläuft, ist: Man kann nicht gewinnen, man kann nicht mal seine Unkosten reinholen, und man kann auch nicht aus dem Spiel aussteigen.«

Jamie hatte seinen Großvater mit offenem Mund angestarrt.

Al hatte ihm die kürzeste und bündigste Erklärung der Begriffe der Thermodynamik geliefert, die er je zu hören bekommen hatte.

»Die Hauptsache ist«, hatte Al grinsend zu seinem verblüfften Enkel gesagt, »daß man mit dem Leben im Gleichgewicht bleibt. Dann kann einen nichts umwerfen, was auch passiert.

Bleib im Gleichgewicht. Beug dich nie so weit in eine Richtung, daß ein Windstoß dich umblasen kann.«

Worauf es hinausläuft, ist, daß man für alles bezahlen muß, was man bekommt, und daß der Preis immer höher ist als der Wert dessen, was man haben möchte. Und man kann nicht aus dem Spiel aussteigen. Selbst Millionen von Kilometern von der Erde entfernt kann man nicht aus dem Spiel aussteigen.

Die Luke zum Observationsraum stand offen. Es war niemand da. Gut.

Die Astronomen haßten die Rotation, die in den Marsschiffen ein Gefühl von Schwerkraft erzeugte. Ihretwegen mußten die Teleskope – auch wenn sie auf dem Verbindungsseil im Rotationspunkt angebracht waren – auf komplizierten motorisierten Lagern montiert werden, die sich genau gegenläufig zu der Rotation bewegten, damit sie wochen- oder monatelang auf den gleichen fernen Lichtpunkt gerichtet blieben.

Jamie hatte die Rotation anfangs ebenfalls gestört. Die Sterne zogen in einer langsamen, stetigen Prozession an dem rechteckigen Fenster vorbei, statt vor dem dunklen Hintergrund stillzustehen, wie sie es auf der Erde taten. Aber in Wirklichkeit stehen sie ja auch auf der Erde nicht still, sagte sich Jamie.

Sie ziehen nur so langsam über den Himmel, daß man es nicht bemerkt. Hier draußen haben wir die Sache nur beschleunigt.

Wir haben unsere eigene kleine Welt geschaffen, und die dreht sich alle zweieinhalb Minuten statt alle vierundzwanzig Stunden einmal um die eigene Achse.

Es war kalt in der Beobachtungssektion. Er wußte, daß er sich das nur einbildete, aber die Kälte dieser tiefen, leeren Dunkelheit da draußen schien durch das Fenster hereinzusickern und bis in seine Knochen zu dringen.

Es war schon jemand da. Als Jamie durch die offene Luke trat, sah er die hochgewachsene, geschmeidige Gestalt von Ilona Malater an dem langen Fenster stehen. Sie schaute zu den Sternen hinaus. Ihr Gesicht war ernst und unbewegt. In dem schwachen Licht sah ihr honigfarbenes Haar grau aus, und ihr brauner Overall wirkte nahezu farblos.

Als Jamie sich dem Fenster näherte, war er beinahe froh, daß noch jemand da war. Sein Wunsch, allein zu sein, verblaßte hinter seinem Bedürfnis nach menschlicher Wärme. Ihm kam zu Bewußtsein, daß Ilona groß und schlank genug für ein Spitzenmodel war. Zudem zeigte ihr aristokratisches Gesicht jenen Hochmut, der sich auf den Titelbildern von Zeitschriften so gut machte.

»Hallo«, sagte er.

Sie zuckte zusammen und fuhr herum, entspannte sich dann und lächelte. »Jamie. Was machst du denn hier?«

»Das gleiche wie du, schätze ich.«

»Ich dachte, das wäre mein privater Zufluchtsort.« Ilona hatte eine volltönende, kehlige Altstimme.

Mit einem trübseligen Grinsen sagte Jamie: »Ich auch.« Er zögerte und meinte dann: »Ich kann ja wieder gehen…«

»Nein, ist schon in Ordnung.« Sie erwiderte das Lächeln.

»Vielleicht ist mein Bedürfnis, mit jemandem zu sprechen, doch noch stärker als mein Wunsch, allein zu sein.«


Das einzige Licht in dem Raum kam von den schwach leuchtenden Führungsstreifen am Boden. Und von den Sternen.

Kaum genug, um ihr Gesicht zu sehen, den Ausdruck in ihren Augen zu erkennen. Das elektrische Summen, welches das Raumschiff erfüllte, schien hier schwacher, gedämpfter zu sein.

»Hast du das von Hoffmann gehört?« fragte Jamie.

»Was hat er denn jetzt wieder angestellt?«

»Er hatte einen Nervenzusammenbruch.«

Ilona zog eine Augenbraue hoch. »Geschieht ihm recht, dem Schwein.«

»Na, das ist ja vielleicht eine Einstellung!«

»Er war ein Aufreißer. Ich schätze, er ist der Schrecken aller Studentinnen, wo immer er unterrichtet.«

Jamie sah sie mit zusammengekniffenen Augen an. Er hatte in Hoffmann nie etwas anders als einen Geologen gesehen, der zwischen ihm und dem Mars stand.

»Er hat jede Frau zu verführen versucht, die er während des Trainings kennengelernt hat.«

»Hat er sich an dich auch herangemacht?«

Ilona lachte. »Er hat es versucht. Aber ich habe es ihm heimgezahlt. Ich habe ihn gefragt, wie er auf die Idee käme, daß er mich befriedigen könnte, wenn er es nicht mal bei seiner eigenen Frau brächte. Danach hat er nie wieder ein Wort mit mir gesprochen.«

Jamie fand das alles andere als komisch. In dieser Frau steckte eine Wildheit, von der er nie etwas geahnt hatte, eine brodelnde Wut.

Dann traf es ihn wie ein Schlag. »Er muß es auch bei Joanna versucht haben.«


»Ja. Natürlich.«

Deshalb wollte Joanna nicht, daß er mitflog, sagte sich Jamie.

Nicht, weil sie mich an Bord haben wollte. Sondern weil sie einen Mann loswerden wollte, der sie belästigte.

Er fühlte sich auf einmal unwohl. Man konnte sich nirgends hinsetzen, außer auf den Metallboden, und es war niemand da, der einem Rückhalt geben konnte. Er schaute aus dem entspiegelten Fenster und sah nichts als die sternenübersäte Leere. Die Mars 2 war nicht zu sehen; sie befand sich über ihren Köpfen.

»Bist du wegen Hoffmanns Nervenzusammenbruch hier?«

fragte Ilona.

Jamie nickte. »Und du?«

»Ich mußte mal weg«, sagte sie mit gesenkter Stimme. »Ich kriege allmählich Depressionen.«

»Warum? Was ist los?«

»Es ist der Mars. Ich bin hier am falschen Platz. Es war ein Fehler, eine Biochemikerin mit auf diese Expedition zu nehmen. Es gibt kein Leben auf dem Mars, das ich erforschen könnte.«

»Das wissen wir nicht genau«, sagte Jamie. »Noch nicht.«

»Nein?« Ilona sprach das Wort mit einem müden Seufzen aus. Dann drehte sie sich um und streckte den Arm zu einem leuchtenden, rötlichen Lichtpunkt aus, der in der gestirnten Schwärze vorbeizog.

»Schau dir den Planeten an, Jamie. Denk an all die Steine und Bodenproben und Fotos, die wir studiert haben. Jeden Tag bekommen wir neue Fotos von den Orbitern, die man in eine Umlaufbahn um den Planeten gebracht hat. Keine Spur von Leben. Nichts. Der Mars ist absolut unfruchtbar. Tot.«


Er wandte sich von dem roten Schimmer des Mars ab und konzentrierte sich wieder auf ihr bekümmertes Gesicht. »Aber wir haben erst ein paar Dutzend Proben bekommen. Du sprichst von einer ganzen Welt. Da muß es…«

Sie legte Jamie einen langen, manikürten Finger auf die Lippen und brachte ihn damit zum Schweigen. »Hast du schon mal was von Gaia gehört?« fragte Ilona.

»Die Vorstellung nämlich, daß die Erde ein lebendes Wesen ist?«

Ilona schenkte ihm ein knappes Lächeln. »Nah dran. Nicht schlecht für einen Geologen.«

Er ertappte sich dabei, daß er sie angrinste. »Na schön, was ist mit Gaia? Und was hat das mit dem Mars zu tun?«

»Die Gaia-Hypothese behauptet, daß alles Leben auf der Erde in einem sich selbst regulierenden Rückkopplungssystem zusammenwirkt, das sich selbst aufrechterhält. Keine einzelne Lebensform – einschließlich der menschlichen Rasse – lebt für sich allein. Alle Lebensformen sind Teil des Ganzen, Teil der vollständig integrierten lebenden Gaia.«

»Ich verstehe nicht, was das mit dem Mars zu tun hat«, sagte Jamie.

»Das Leben hat sich über den gesamten Erdball ausgebreitet«, erwiderte Ilona. »In den tiefsten Meeresgräben gibt es Leben. Die Luft wimmelt von Mikroorganismen, selbst hoch oben in der Stratosphäre fliegen Hefepilze herum. Noch in den lebensfeindlichsten Eiswüsten der Antarktis gibt es Steine mit Flechtenkolonien direkt unter der Oberfläche.«

»Und der Mars sieht unfruchtbar aus.«

»Der Mars ist unfruchtbar. Die Sonden haben nichts in der Luft gefunden. Es gibt kein flüssiges Wasser. Der Boden ist so stark mit Peroxiden versetzt, daß er fast schon ein starkes Bleichmittel ist; kein lebender Organismus könnte darin überleben.«

»Manche Steine enthalten organische Verbindungen«, rief Jamie ihr in Erinnerung.

»Aber wenn es auf dem Mars Leben gäbe, wäre es nicht auf einen Ort beschränkt!« Ilonas heisere Stimme war jetzt beinahe flehend. »Wenn es ein marsianisches Pendant zu Gaia gäbe, würden wir überall Leben sehen, wohin wir auch schauen, genau wie auf der Erde.«

Jamie schüttelte störrisch den Kopf. »Die Erde ist wärmer, auf der Erde gibt es überall flüssiges Wasser, wohin man auch schaut, es ist leicht für das Leben, auf der Erde zu wachsen und sich auszubreiten. Der Mars ist nicht so reich. Dort hätte es das Leben schwerer.«

Ilona schüttelte ebenfalls den Kopf. »Nein, ich glaube nicht, daß der Mars aus diesem Grund so trostlos aussieht. Der Planet ist wirklich unfruchtbar. Es gibt dort kein Leben, und es hat wahrscheinlich auch nie welches gegeben. Ich habe die letzten drei Jahre meines Lebens vergeudet. Es war ein Fehler, Biowissenschaftler mitzuschicken.«

Sie stand dort, eingerahmt von dem rechteckigen Fenster, mit den langsam kreisenden Sternen hinter ihr. Ilona sah nicht mehr hochmütig oder königlich aus. Sie wirkte niedergeschlagen und entmutigt.

Jamie zuckte die Achseln und sagte leise: »Ich finde, man kann nicht schon aufgeben, bevor man überhaupt angefangen hat. Ganz gleich, was du glaubst, du kannst doch nichts Definitives sagen, bevor du nicht dort gewesen bist und selbst nachgesehen hast. Wahrscheinlich hat der Mars ein paar Überraschungen für dich auf Lager. Für uns alle.«

»Vielleicht.« Ilona seufzte erneut. Dann schlang sie die Arme um den Körper und erschauerte. »Es ist immer so kalt hier drin! Ich hätte meine Thermo-Unterwäsche anziehen sollen.«

»Tut mir leid, ich habe keinen Pullover und auch keine Jacke dabei…«

»Es ist meine eigene Schuld«, sagte sie. »Ich bin aus einer spontanen Eingebung heraus in diesem Overall hergekommen.«

Jamie grinste sie an. »Das ist gegen die Vorschriften. Wie oft hat Wosnesenski uns eingebleut: Denkt zehnmal nach, bevor ihr irgendwas tut.«

»Wosnesenski.« Sie knurrte den Namen wie eine fauchende Löwin.

»Was hast du gegen Mikhail?« fragte Jamie. »Ich finde ihn gar nicht so übel.«

»Er ist Russe.«

»Ja und?«

»Die Hälfte meiner Familie ist neunzehnhundertsechsundfünfzig von Russen ermordet worden. Meine Großmutter hat es gerade noch geschafft, aufs Land zu fliehen. Mein Großvater wurde gehängt. Die Russen haben ihn aufgehängt, als ob er ein übler Verbrecher gewesen wäre.«

»Da kann Wosnesenski doch nichts dafür. Rußland hat sich seit damals erheblich verändert. Genauso wie Ungarn. Das ist doch alles ein halbes Jahrhundert her.«

»Es ist leicht für euch Amerikaner, zu vergeben und zu vergessen. Für mich und meine Angehörigen ist das nicht so einfach.«


Jamie wußte nicht, was er sagen sollte. Es gibt nichts, was ich sagen kann, erkannte er. Etliche Augenblicke standen sie einander gegenüber, während die Sterne um sie herum ihre Kreisbahnen zogen und die elektrischen Geräte im Hintergrund leise vor sich hinsummten wie ein ferner Chor tibetischer Lamas, die ein Mantra intonierten.

Ilona fröstelte. »Es ist kalt hier oben.« Sie trat näher an Jamie heran, schmiegte sich an ihn.

»Wir könnten zurückgehen«, sagte Jamie. Aber er legte ihr einen Arm um die Taille. Irgendwie kam ihm das richtig vor.

»Nein, noch nicht. Ich habe mir Sorgen um dich gemacht«, sagte Ilona. Ihre Stimme war leise und sinnlich. Ihr Gesicht war so nah an dem von Jamie, daß er den schwachen Duft ihrer honigblonden Haare riechen konnte.

»Sorgen? Um mich?«

»Du wirkst so… zurückgezogen. Einsam.«

Er zuckte die Achseln. »Wir sind weit weg von zu Hause.«

»Du meidest uns.«

»Ich meide euch?« Jamie kam sich töricht vor, weil er ihre Worte wiederholte, aber sie hatte ihn kalt erwischt.

»Joanna und mich. Katrin. Du meidest uns. Ist dir das nicht aufgefallen?«

»Wir sollen uns nicht emotional miteinander einlassen.«

»Noch so eine Vorschrift, ich weiß. Aber heißt das, daß du beim Essen nicht bei uns sitzen darfst? Ich habe dich sehr aufmerksam beobachtet. Du hältst dich absichtlich so weit wie möglich von uns fern.«

Hundert Gedanken rasten durch Jamies Kopf. »Führe uns nicht in Versuchung«, murmelte er.

»Bist du in Joanna verliebt?«


»Nein! Natürlich nicht.«

»Natürlich nicht«, ahmte Ilona ihn nach und lächelte ihn an.

»Die Vorschriften verbieten, daß wir uns verlieben, hab ich recht?«

»Nicht nur die Vorschriften«, erwiderte Jamie.

»Du willst dich nicht emotional auf etwas einlassen, ist es das?«

Er nickte, dachte an Edith daheim in Houston und fragte sich auf einmal, wo sie war, mit wem sie jetzt zusammen war.

Ilona legte Jamie die Arme um den Hals. »Wann hast du zum letzten Mal mit einer Frau geschlafen?«

»Was? Ich glaube nicht…«

»Ich wette, du hast es nicht mehr getan, seit du das letzte Mal nach Kalifornien heimgefahren bist, stimmt’s?«

»Nein, du irrst dich.«

»Jedenfalls nicht, seit wir auf der Montagestation eingetroffen sind. Seit damals nicht mehr.«

Sein Verstand sagte Jamie, daß er sich von ihr losmachen und verschwinden sollte, aber seine Arme drückten Ilona fest an sich, preßten sie an seinen Körper. Ihre Lippen berührten sich beinahe.

»Ich möchte mit dir schlafen, Jamie. Gleich hier und jetzt. Ich möchte es mit meinem starken, schweigsamen Freund hier unter den Sternen treiben. Ich will deine Stärke, deine Wärme.«

Sie küßte ihn wild, dann flüsterte sie: »In den Vorschriften steht nichts über das Ficken, Jamie. Fick mich, du Indianer, los, fick mich!«

Langsam, träge, als wäre er hypnotisiert, zog Jamie Ilonas Overall vorne auf. Der Klettverschluß öffnete sich mit dem Geräusch von zerreißendem Stoff. Wie im Traum sah er sich dabei zu, wie er ihr das Kleidungsstück über die Schultern und die Arme herabzog. Unter dem Overall war sie nackt. Die Haut ihrer bloßen Schultern und kleinen Brüste sah im Sternenlicht milchweiß aus. All die langen Monate der Entsagung explodierten in einer jähen, wilden Ekstase, als Jamie Ilona auf den harten Metallboden herunterzog, ohne die Kälte zu spüren, ohne sich um den Mars oder Gaia oder etwas anderes als diese gierige Tigerin zu scheren. Die Sterne kreisten gleichgültig um sie herum.

2

Beim Frühstück am nächsten Morgen war Jamie schrecklich verlegen. Er konnte Joanna nicht ansehen und merkte, daß es ihm sogar schwerfiel, Ilona ins Gesicht zu schauen. Sie lächelte ihn jedoch über den schmalen Eßtisch hinweg an, als er mit seiner Schale zwischen Tony Reed und Tadeusz Sliwa Platz nahm, dem goldblonden polnischen Ersatz-Biochemiker.

Jamie schlang sein Frühstück hastig hinunter und machte sich rasch auf den Weg zur Kommunikationskonsole, wo er mit der Bibliothek in Houston Kontakt aufnehmen und sich in die Lektüre über weitere Details der merkwürdigen, sauerstoffreichen Chemie des Marsbodens vertiefen wollte.

»Sie haben es offenbar eilig.«

Es war Tony Reed, der hinter ihm den schmalen Gang entlangkam.

»Ich muß einiges lesen«, sagte Jamie.

»Fürchte, ich muß mit Ihnen sprechen, mein Freund – ganz offiziell.«


Jamie blieb stehen und drehte sich langsam zu Reed um.

»Offiziell?«

»Als Schiffsarzt, ja.«

»Ich verstehe nicht.«

»Bitte kommen Sie mit in mein Büro«, sagte Reed mit schiefem Lächeln.

Die Krankenstation des Schiffes lag direkt hinter dem Trainingsraum. Die Kabine war nicht größer als die privaten Unterkünfte der Besatzung; selbst wenn sich nur zwei Personen darin aufhielten, wirkte sie bereits überfüllt.

Reed schob die Falttür zu und verriegelte sie sorgfältig. Jamie konnte das ächzende Quietschen der Kraftmaschine auf der anderen Seite der Trennwand und das Schnaufen und Grunzen des Besatzungsmitglieds hören, das sich an ihr abarbeitete.

»Wir haben Sie gestern nachmittag vermißt«, sagte Tony mit einem spitzbübischen Grinsen auf dem Gesicht.

»Ich mußte ein bißchen allein sein.«

»Ilona anscheinend auch.«

Reed zwängte sich an Jamie vorbei, setzte sich auf die Kante des eingebauten Schreibtisches und verschränkte die Arme vor der Brust. Er nickte zu dem Hocker, der neben dem verschlossenen Arzneischränkchen stand.

Jamie blieb stehen. Er überlegte, wer im Trainingsraum nebenan sein mochte und wieviel er – oder sie – durch die dünne Trennwand hören konnte.

Reed grinste ihn geradezu lüstern an. »Sie scheinen gleich nach ihr verschwunden zu sein. Und dann seid ihr beide ungefähr zur gleichen Zeit zu uns zurückgekommen.«


»Hoffmann hatte einen Nervenzusammenbruch«, sagte Jamie. »Ich war ziemlich aufgeregt über diese Nachricht.«

»Und da haben Sie sich mit unserer hauseigenen Sexualtherapeutin getröstet.«

»Sexualtherapeutin…?« Jamie verspürte ein hohles Gefühl im Bauch, als wäre er auf einmal gewichtslos geworden.

Das Grinsen auf Tonys Gesicht war eindeutig bösartig. »Haben Sie das nicht gewußt? Ilona hat beschlossen, mit jedem Mann an Bord ihren Spaß zu haben. Außer mit Wosnesenski und Iwschenko natürlich. Sie haßt die Russkis. Ich glaube, sie tut das alles nur, um unseren armen russischen Anführer und seinen Ersatzmann vor Eifersucht wahnsinnig zu machen.

Könnte durchaus sein, daß es funktioniert.«

Jamie hatte das Gefühl, als bekäme er keine Luft mehr.

»Also dann.« Reed räusperte sich und setzte eine ernstere, professionelle Miene auf. »Es geht um Ihr sexuelles Verhalten.«

Jamie runzelte die Stirn. »Mein sexuelles Verhalten?«

»Ich muß Ihnen die Standardpredigt Nummer null-nulleins halten: sexuelle Verantwortung und ihre Konsequenzen.« Das Grinsen war wieder auf Reeds Gesicht erschienen.

»Halten Sie diese Predigt auch Ilona?«

»Ja, natürlich.« Er lächelte süffisant. »Mit einigen Abwandlungen, versteht sich.«

»Jedesmal?«

»Jedesmal, wenn ich kann.«

Jamie funkelte den Engländer an.

»Im Ernst, James, ich muß Sie warnen: Falls Ihr sexuelles Verhalten an Bord des Schiffes ein Problem aufzuwerfen droht, ist es meine Pflicht, Doktor Li Meldung zu erstatten –

und gewisse Maßnahmen zu ergreifen.«

»Wollen Sie mich zwingen, Salpeter zu schlucken?«

»Ach, wir haben viel bessere Mittel als Salpeter«, sagte Reed.

»Die Pharmakologie hat es weit gebracht.

Das einzige Problem ist, ganz gleich, welchen Triebdämpfer wir Ihnen verabreichen, er wird Ihre Gonaden schrumpfen lassen.«

»Meine…!«

»Kann man nichts machen. Sie werden sich natürlich wieder zu ihrer normalen Größe entwickeln, sobald die Behandlung beendet ist. Wir wollen Sie ja nicht kastrieren.«

»Was ist, wenn ich die Medikamente nicht nehme?« fragte Jamie. »Angenommen, ich wäre ein solcher Lustmolch, daß Sie mir welche geben wollten.«

»Oh, Sie werden sie nehmen, so oder so. Ich kann sie Ihnen jederzeit ins Essen mischen, wissen Sie. Oder das Trinkwasser damit versetzen. Wie ich es auch täte, wenn Sie sich weigern würden, Ihre Vitaminpräparate zu nehmen. Es wäre nicht schwierig.«

»Hurensohn«, hörte Jamie sich murmeln.

»Genau das versuchen wir ja gerade zu verhindern«, sagte Reed. Dann lachte er laut über seinen kleinen Scherz.

3

»Ich wünschte, diese Kojen wären ein bißchen breiter.«

»Bist du nicht gern so nah bei mir?«

»Mein Arm ist eingeschlafen.«

»Solange nichts anderes eingeschlafen ist…«


»Und wie war’s mit unserem wilden Indianer?«

»Er war ziemlich wild, als er erst mal losgelegt hatte.«

»So gut wie ich?«

Sie lachte leise. »Wie ein berühmter Filmstar mal gesagt hat:

›Mit Güte hatte das nichts zu tun.‹«

»Damit wäre die Liste dann ja vollständig, nicht? Bis auf die Russkis.«

»Von denen lasse ich mich nicht anrühren!«

»Schade. Der arme Mikhail Andrejewitsch sieht aus, als könnte er jeden Tag platzen.«

»Soll er. Ist mir egal.«

»Und Iwschenko scheint ein ganz lustiges Kerlchen zu sein.

Wenn ich mitkäme, könnten wir vielleicht einen kleinen Dreier machen.«

»Du beschwerst dich doch jetzt schon, daß die Kojen zu eng sind.«

»Ähm… ja, da hast du auch wieder recht.«

»An die Russen mache ich mich nicht heran. Sollen sie in ihrem eigenen Saft schmoren.«

»Aber sonst…«

»Waterman war die letzte Bastion.«

»Und jetzt ist sie gefallen.«

»Was ist mit dir? Wie erfolgreich warst du?«

»Also, Katrin und ich haben im Sportraum wieder ein bißchen trainiert.«

»Aber was ist mit Joanna?«

Ein langes Schweigen.

»Na?«

»Bei Joanna muß man sehr vorsichtig sein, weißt du. Ich glaube, sie ist noch Jungfrau.«


»Nur drei Frauen auf dem Schiff, und an eine davon kommst du nicht ran.«

»Ich arbeite dran.«

»Ich habe jetzt bei allen Männern Erfolg gehabt.«

»Außer bei den Russen.«

»Pah! Bums du doch mit den Russen, wenn dir so viel an ihnen liegt.«

»Wohl kaum! Ich will die kleine Joanna.«

»Dann wirst du da wohl ein bißchen mehr Mühe reinstecken müssen, oder?«

»Du meinst, ich stecke in dich nicht genug rein?«

»Hmm… tja… ich glaube, für den Moment reicht das.«

Stunden später, als er allein war und immer noch nicht einschlafen konnte, sagte sich Tony Reed, daß alles nur ein Spiel war, eine angenehme Art, die langweiligen Wochen herumzubringen, in denen sie in dem Raumschiff zusammengepfercht waren. Wir tun niemandem etwas zuleide. Außer vielleicht den Russen, aber das ist nicht meine Sache. Vielleicht kümmert sich Katrin um sie, ein kleiner deutsch-russischer Freundschaftspakt.

Er drehte sich in der Koje um und versuchte, eine bequemere Position zu finden. Es ist nur ein Spiel, ein reizvolles Spiel.

Aber eine Stimme tiefer in seinem Innern erinnerte ihn daran, daß Soldaten auf dem Weg in die Schlacht ganz ähnliche Spiele treiben. Der Ansporn ist Furcht, sagte die Stimme zu Tony.

Du tust alles, was nötig ist, um Leben zu erzeugen, weil du eine Scheißangst vor dem bevorstehenden Tod hast.

Unsinn, antwortete Tony seiner inneren Stimme. Wir sind absolut sicher in diesem Raumschiff. Das Werk der besten Gehirne der Welt schützt uns. Natürlich gibt es ein gewisses Element des Risikos. Das macht es alles so interessant.

Die Stimme war nicht besänftigt. Der Tod wartet nur ein paar Zentimeter von dir entfernt, auf der anderen Seite der dünnen Metallhaut dieses Raumschiffs. Spiel ruhig dein Spiel, versuche, die Furcht aus deinen Gedanken zu vertreiben oder sie mit erotischen Eskapaden zu sühnen. Aber der Tod wartet auf uns alle, und wir fliegen auf ihn zu.


Загрузка...