SOL 24 MITTAG

Leise vor sich hinsummend, überprüfte Aleksander Mironow Jamies Tornistergerät. Die Luftschleuse des Rovers war voll, obwohl nur sie beide sich darin befanden: Mironow in seinem feuerwehrroten Anzug, Jamie in seinem himmelblauen, samt grauem Ersatzhelm für das Original mit der Meteoritenschramme.

Mironows Visier war hochgeklappt, und als der Russe in sein Blickfeld zurückgestapft kam, sah Jamie, daß er lächelte.

Mironows Gesicht wirkte klobig, fast zusammengepreßt in seinem Helm, als steckte es in einem Behälter, der eine halbe Nummer zu klein war. Es war ein breitwangiges, leicht gerötetes Gesicht mit einer Stupsnase und einigen Sommersprossen, blaßblauen Augen und so blonden Brauen, daß sie kaum zu sehen waren.

»Handschuhe?« fragte Mironow.

»Hier an meinem Gürtel, Alex.« Jamie zog sie an. Die Handschuhe waren das fortschrittlichste Stück Technik der gesamten Missionsausrüstung: so dünn und biegsam, daß der Träger die Finger mühelos darin bewegen konnte und ein Gefühl für alles behielt, was er anfaßte, aber auch so zäh, daß sie die Hände vor dem Beinahe-Vakuum der Marsatmosphäre schützten.

»Visier runter«, befahl Mironow. Erst nachdem sie beide ihre Helme verriegelt hatten, drehte er sich zu den Pumpen um und startete sie.

»Sie sehen müde aus«, sagte der Kosmonaut über Anzugfunk.


Überrascht sagte Jamie zu dem goldgetönten Visier: »Mir geht es gut.«

»Sie waren gestern vier Stunden draußen, und vergangene Nacht sind Sie sehr lange aufgeblieben. Sie waren den ganzen Vormittag draußen, und jetzt gehen Sie schon wieder hinaus.«

Die Pumpen hörten auf zu arbeiten. Das Anzeigelämpchen wurde rot. Mironow stieß die Luke auf.

»Wir haben hier nur drei Tage«, erwiderte Jamie, als sie durch die Luke traten und die kurze Leiter zu dem unebenen, geschwärzten Boden hinunterstiegen.

»Sie fühlen sich schuldig wegen Patel.«

Jamie vergaß, wo er sich befand, und versuchte, im Anzug die Achseln zu zucken. Das brachte ihm nur eine frische Reizung in der Achselhöhle ein, wo der Anzug scheuerte.

»Sie dürfen sich nicht so schinden«, fuhr Mironow fort.

»Wenn man müde ist, macht man Fehler. Fehler können tödlich sein.«

»Mir passiert schon nichts. Die anderen strengen sich genauso an«, sagte Jamie.

»Denen habe ich den gleichen Vortrag gehalten«, sagte der Russe. Seine Stimme klang eher enttäuscht als betrübt.

»Und?« fragte Jamie.

Mironow zeigte mit einem behandschuhten Finger zu den buttergelben und dunkelgrünen Gestalten von Patel und Naguib. »Sie haben ebensowenig auf mich gehört, wie Sie es jetzt tun.«

Patel und Naguib schlugen bereits Proben von dem dunklen Basaltstein ab, der sich vor ihnen ausdehnte, so weit das Auge reichte. Alte Lavaausflüsse, wie Jamie wußte. Pavonis Mons war immer wieder ausgebrochen, glühend heiße Magma war in alle Richtungen geströmt. Wie lange war das her? Die Proben, die sie nahmen, würden ihnen die Antwort darauf geben.

Sie hatten beschlossen, diese drei kostbaren Tage am Fuß des Vulkanschildes zu verbringen und so viele Proben an so vielen verschiedenen Orten wie möglich zu nehmen, und waren übereingekommen, mit der Analyse auf der Rückfahrt zur Basis zu beginnen.

Dennoch konnte keiner der drei Wissenschaftler der Versuchung widerstehen, die gesammelten Proben zu untersuchen.

Vergangene Nacht waren sie stundenlang aufgeblieben, während Mironow sie wie ein machtloser Betreuer im Ferienlager an den Missionsplan erinnert hatte, und hatten ein Dutzend Proben durch den transportablen GC/MS im Labormodul des Rovers laufen lassen.

Das Massenspektrometer verriet ihnen, daß ihre Proben aus eisenreichem Basalt bestanden und nicht mehr als fünfhundert Millionen Jahre alt waren, nach dem Mengenverhältnis von Kalium und Argon zu urteilen.

»Aber das Argon hätte ausgasen können«, warnte Jamie.

»Ein gewisser Prozentsatz ist vielleicht in die Atmosphäre entwichen.«

»Gut möglich, daß ein großer Teil davon nicht mehr da ist«, stimmte Naguib ihm zu.

»Das heißt, die Proben könnten viel älter sein«, meinte Jamie.

Patel, der Jamie immer noch nicht in die Augen schaute, sagte zu dem Ägypter: »In der Basis, wo wir die Proben im Atomreaktor bestrahlen können, werden wir aussagekräftigere Tests durchführen.«

Naguib nickte. »Ja. Wenn die Ferngreiferanlage funktioniert.

Sie war kaputt…«


»Pete sagt, er repariert sie, bis wir zurückkommen«, sagte Jamie.

»Astronaut Connors!« schnaubte Patel beinahe. »Er fliegt die ganze Zeit das RPV, statt sich um seine Wartungsaufgaben zu kümmern.«

»Pete wird die Steueranlage repariert haben, wenn wir zurückkommen«, beharrte Jamie.

Schließlich klappten sie ihre Liegen herunter, um sich schlafenzulegen: Patel und Naguib oben, Mironow und Jamie unten. Jamie schlief rasch ein, wurde dann allerdings von einem wimmernden, beinahe schluchzenden Laut von oben wieder geweckt. Einer von ihnen hat einen Alptraum, erkannte er. Er drehte sich mit dem Gesicht zur gekrümmten Wand des Rovers und schlief wieder ein. Sein letzter bewußter Gedanke war, daß sich die Metallhülle des Fahrzeugs kalt anfühlte; draußen wartete die eisige Marsnacht, nur ein paar Zentimeter entfernt.

Beim Frühstück kamen sie überein, daß es taktisch am klügsten wäre, wenn sie sich an der Linie aus Spalten und Schlundlöchern entlang vorarbeiteten, die an einer Flanke des massiven Vulkans aufwärts verlief. Sie würden den sanft ansteigenden Hang des Schildes so weit hinaufgehen, wie sie konnten, und Mironow würde mit dem Rover hinter ihnen herfahren, damit sie die in den Missionsvorschriften festgelegte sichere Rückkehrdistanz nicht überschritten.

Diese Vulkane sitzen alle drei genau auf dieser großen Verwerfungslinie, sagte sich Jamie, während er angestrengt auf den harten schwarzen Basalt einhackte. Er schaute zum Rover zurück und sah, daß Mironow eine weitere Bake in den Boden pflanzte. Es war keine leichte Arbeit; dies war echtes Felsgestein, nicht der verdichtete Sand, den sie in der Umgebung ihrer Kuppelbasis vorgefunden hatten. Die dünne, rötliche Staubschicht, die das Gestein bedeckte, ließ sich leicht wegwischen. Jamie fragte sich, weshalb der Wind sie nicht ganz abtrug.

Im Innern seines Raumanzugs spürte Jamie keinen Wind, und am lachsfarbenen Himmel waren keine Wolken, an denen man Luftbewegungen ablesen konnte. Doch die meteorologischen Meßinstrumente ihrer Baken zeigten an, daß eine ziemlich stetige Brise mit einer Windgeschwindigkeit von über sechzig Stundenkilometern den langen, allmählich ansteigenden Hang zum fernen Gipfel des Vulkans hinauf wehte. Bei Nacht kehrte sich die Windrichtung um, und die Windgeschwindigkeit sank auf etwas mehr als dreißig Stundenkilometer.

Sechzig Stundenkilometer wären auf der Erde eine steife Brise, wie Jamie wußte. Aber in der dünnen Marsluft hatte der Wind keine Kraft; sie reichte nicht einmal, um die letzte Sandschicht von den Felsen zu blasen.

Jamie stützte die Hände auf die Knie und ließ sich eine Weile vom Anzuggebläse abkühlen. Durch die harte Arbeit hatte sich sein Visier beschlagen. Er wartete ab und ließ den Blick über die kahle Steinwüste schweifen, die sich überall um sie herum erstreckte. Toter Fels, so zerklüftet und nackt wie die schlimmsten Badlands, die er in New Mexico je gesehen hatte.

Öde und von Meteoritenkratern zernarbt, die manchmal so groß waren wie ein Football-Feld, meistens aber nicht mehr als Dellen, wie sie ein Hammer in die Motorhaube eines Autos schlagen würde. In der erstarrten Lava waren Risse – Schlote und Spalten, die sich von einem Kraterloch zum nächsten schlängelten. Der Boden stieg fast unmerklich zu der hohen Caldera des Vulkans an, die so weit entfernt war, daß sie sich ein gutes Stück hinter dem Horizont befand.

Seltsamerweise lagen nicht allzu viele Gesteinsbrocken herum. Der geschmolzene Basalt mußte sie hangabwärts geschoben haben. Jamie stellte sich die schwarze Steinfläche, auf der er stand, in einem früheren Stadium vor: ein breiter, wogender Strom glutheißer Lava, die aus diesen Schloten quoll, träge zur Ebene hinabfloß und dabei die Steine in ihrem Weg schmolz oder plattwalzte.

Längs dieser Verwerfungslinie muß Wärme aus dem Innern heraufkommen, folgerte Jamie. Geschmolzene Magma, die hin und wieder austritt, diese gewaltigen Kegel schafft, sich dann aus ihnen ergießt und die Schilde formt. Aber wie steht es dann mit Olympus Mons, rund fünfzehnhundert Kilometer nordwestlich? Er liegt allem Anschein nach nicht auf einer Verwerfung. Aber er ist wahrscheinlich jünger als diese drei Schönheiten. Könnte es in der Tiefe eine heiße Stelle geben, die Pavonis und seine beiden Gefährten geschaffen hat, dann nach Nordwesten gewandert ist und dort Olympus hervorgebracht hat?

Jamie merkte, daß ihm der Rücken wehtat, weil er sich in dem schwerfälligen Anzug so unbeholfen vornüber beugte. Er richtete sich auf und fragte sich, ob es auf dem Mars eine Plattentektonik gab, wie auf der Erde. Wahrscheinlich nicht; der Planet ist so klein, daß sein Kern unmöglich genug Wärmeenergie besitzen kann, um ganze Kontinente aus Mantelgestein zu verschieben. Aber für die Erschaffung dieser drei Vulkane hat die Wärmeenergie ausgereicht. Wo ist sie hergekommen? Fließt sie immer noch?

Er schaute hangaufwärts. Sein Blick folgte der zerklüfteten, dunklen Landschaft, die zum rosafarbenen Himmel emporstieg. Wann hast du zum letzten Mal gerülpst, Pavonis, mein Freund? Bist du vollständig erkaltet, oder wirst du eines Tages wieder Lava über diesen Boden speien?

Auf einmal schreckte ihn eine abrupte Bewegung im Augenwinkel auf. Als er das Gesicht dorthin gedreht hatte, war nichts mehr zu sehen. Ein Schatten, der über den Boden gehuscht war? Wie der eines Vogels, der über sie hinwegflog…?

Jamie schaute nach oben und sah den silbrigen Punkt des Schwebegleiters hoch oben in der Sonne glitzern. Sein Herz klopfte von dem plötzlichen Adrenalinstoß. Er kam sich töricht vor. Da oben kreisen keine marsianischen Falken; es ist bloß Pete Connors, der die Pavonis-Caldera fotografisch vermessen will. Hoffentlich macht es Patel glücklich.

»Stimm-Check.« Mironows jungenhafter Tenor in seinem Kopfhörer ließ Jamie zusammenfahren. Er blickte sich um und sah, daß sein Schatten lang über dem Boden lag. Die Sonne näherte sich dem Horizont.

»Patel hier.«

Der Rover parkte rund hundert Meter weiter unten am Hang zwischen einem Meteoritenkrater, der doppelt so groß war wie er, und einer zickzackförmigen Spalte, die einmal ein Lavaschlot gewesen sein mochte. Du hast recht gehabt, Rava, sagte Jamie im stillen. Diese Vulkane haben uns so viel zu erzählen, und wir werden nicht lange genug hier sein, um ihre Geschichte auch nur ansatzweise zu verstehen.


»Waterman, alles in Ordnung«, sagte Jamie. Die Stimm-Checks gehörten zur normalen Sicherheitsprozedur, wenn die Wissenschaftler außerhalb des Blickfelds des für das Team verantwortlichen Astronauten oder Kosmonauten waren. In diesem zerklüfteten Gelände konnte Mironow seine drei herumwandernden Teamkameraden unmöglich alle im Auge behalten.

Ein langes Schweigen.

»Naguib?« In Jamies Kopfhörer klang Mironows Stimme scharf. »Doktor al-Naguib, Stimm-Check bitte.«

Keine Antwort.

»Doktor al-Naguib?«

»Er war bei der Spalte da drüben.« Patel zeigte weiter hangaufwärts. »Vielleicht blockiert dieses Gelände die Funkwellen.«

Jamie hörte ein leises, gutturales Gemurmel, als Mironow auf Russisch fluchte. Er folgte dem ausgestreckten Arm von Pateis gelbem Anzug mit dem Blick und rief in sein Helmmikrofon:

»Schauen wir mal nach, Rava. Vielleicht steckt er in Schwierigkeiten.«

»Nein, ich glaube nicht…«

»Bleiben Sie, wo Sie sind. Es ist meine Aufgabe, ihn zu suchen«, rief Mironow. »Ich will nicht, daß noch einer von Ihnen verschwindet.«

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