Jamie war neun Jahre alt, als er das erste Mal nach New Mexico geschickt wurde, um den Sommer mit seinem Großvater Al zu verbringen. Seiner Mutter gefiel die Idee nicht, aber sie und ihr Mann hatten einen Sommer im Ausland vor sich – Vorträge und Seminare, die die beiden Professoren über den Pazifik nach Australien, Neuseeland, Singapur und Hongkong führen würden. Sie waren nicht sonderlich erpicht darauf, ihren neunjährigen Sohn mitzuschleppen, und hatten auch keineswegs die Absicht, auf diese kostenlose sogenannte Dienstreise zu verzichten.
So kehrte Jamie zum ersten Mal, seit er in den Kindergarten gekommen war, nach Santa Fe zurück. Er lernte Fischen und Jagen, obwohl er seine Zeit größtenteils in Als Laden auf der Plaza in Santa Fe verbrachte, und gewann seinen Großvater Al lieb. Al war ein guter Großvater – aber ein noch besserer Geschäftsmann. Den ganzen Sommer über scharwenzelten Anglo-Damen gurrend um den ›kleinen Indianerjungen‹ herum.
In der allerletzten Woche, als Jamie bereits mit einer Jammermiene herumlief, weil er nach Berkeley zurück mußte, nahm Al ihn zu einem der Navajo-Pueblos in den Bergen mit, wo er die Töpferwaren und Teppiche kaufte, mit denen er den Anglo-Touristen das Geld aus der Tasche zog.
An jenem Tag erledigte Al seine Geschäfte größtenteils im Handelsposten, einer Kombination aus Bar und Gemischtwarenladen mit einem nackten, knarrenden Dielenboden, abgenutzten alten Holztheken, verzogenen, halbleeren Regalen und einem großen Deckenventilator, der sich viel zu langsam bewegte. Ein halbes Dutzend ältere Männer saßen stumm und praktisch reglos unter ihren Hüten mit den breiten, herabhängenden Krempen am Tresen, während Al geduldig und unaufhörlich mit dem Häuptling des Pueblos verhandelte. Jamie kamen die alten Männer am Tresen so staubig und von den Spuren der Zeit gezeichnet vor wie der Raum selbst.
Gelangweilt vom endlosen, leisen Gefeilsche seines Großvaters in einer Sprache, die er nicht verstand, ging Jamie hinaus und setzte sich auf die durchhängenden Holzstufen. Die Spätnachmittagssonne war so heiß wie geschmolzene Lava und färbte das ganze Land kupferrot.
Eine dürre graue Katze schlich lautlos vor seinen Füßen vorbei. Im Schatten einer Pyramidenpappel auf der anderen Stra
ßenseite lagen ein paar räudige Hunde mit tückischen Augen hechelnd im Staub. Jamie konnte ihre Rippen zählen.
Auf der schattigen Veranda vor einem Adobe-Haus gegen
über, das dringend ausgebessert werden mußte, spielte ein kleines Mädchen von vielleicht sechs oder sieben Jahren mit einem Welpen, einem fröhlichen, zappelnden Fellbündel. Jamie erwog, zu ihr hinüberzugehen, aber er beherrschte die Navajo-Sprache nicht. Das Mädchen hätschelte den kleinen Hund, streichelte ihn, redete in ihrer Sprache leise auf ihn ein.
Sie setzte den Welpen kurz ab und hob ihn dann am Schwanz hoch. Der Hund jaulte und schnappte nach ihr. Sie ließ ihn los und sprang auf. Dann verfiel sie unversehens in Englisch und rief: »Du böser Junge! Du Böser! Immer willst du Ärger machen, andauernd suchst du Streit! Ich schicke dich zum Direktor! Raus aus diesem Klassenzimmer! Geh zum Direktor! Das sage ich deiner Mutter!«
Obwohl er erst neun war, erkannte Jamie sofort, daß das Mädchen einen weißen Lehrer nachahmte.
Ihre Mutter rief sie aus der kühlen Dunkelheit des Hauses, durch die offene Tür, und sprach streng in Navajo mit ihr. Jamie merkte, daß sein Großvater neben ihm stand und über die Szene lachte.
Jamie kam auf die Beine und fragte: »Was hat sie gesagt, Al?«
»Oh, sie hat ihrer Tochter nur erklärt, daß sie dem Hund nicht weh tun soll.« Er lachte. »Dann hat sie ihr gesagt, sie soll sich vor einem weißen Mann nicht über ihren Lehrer lustig machen.«
»Einem weißen Mann?«
»Du, mein Sohn!«
»Aber ich bin kein weißer Mann.«
»Na, für sie siehst du wohl wie einer aus«, sagte Al.
In der Woche darauf wurde Jamie nach Berkeley zurückgeschickt, wo seine Eltern ihre große Freude darüber kundtaten, daß ihr Sohn kein ›wilder Indianer‹ geworden war.