KALININGRAD: In den frühen Tagen des sowjetischen Raumfahrtprogramms, als die aus Kalten-Kriegs-Ängsten geborene Heimlichtuerei alles beherrschte, waren die Standorte der Raumfahrteinrichtungen nach Möglichkeit geheimgehalten worden. Die größte sowjetische Abschußbasis zum Beispiel lag angeblich bei Baikonur, einer Stadt mitten in der kasachischen Sowjetrepublik, einem Land, das früher einmal mongolische Horden und die wilden Reiter von Tamerlan unsicher gemacht hatten.
In Wirklichkeit liegt das Startzentrum in der Nähe der Stadt Tyuratam, über dreihundert Kilometer südwestlich von Baikonur, an der großen Eisenbahnstrecke von Moskau nach Taschkent.
In jener Zeit des Mißtrauens wurde Kaliningrad, das Raumfahrt-Kontrollzentrum, von dem die ersten bemannten Raumflüge geleitet wurden, in der Öffentlichkeit nicht erwähnt. Gagarins Pionierflug um die Erde, die Tausende Mannstunden an Bord eines Dutzends Raumstationen und schließlich die erste Expedition zum Mars – sie alle waren von dem Zentrum in Kaliningrad geleitet worden, das ungefähr sechs Kilometer nordöstlich des äußersten Autobahnrings um die Metropole Moskau lag.
Das Protokoll für die Leitung der Marsmission war beschlossen worden, lange bevor überhaupt mit der Montage der verschiedenen Raumschiffe in der Erdumlaufbahn begonnen worden war. In dem Wissen, daß es bei der Kommunikation zwischen dem Mars und der Erde eine Verzögerung von zehn Minuten oder mehr geben würde, hatten die Missionsplaner die gesamte Autorität in die Hände des Expeditionskommandanten, Dr. Li Chengdu, gelegt.
Es war nicht nötig, daß Dr. Li beim Kontrollzentrum in Kaliningrad nachfragte, bevor er eine Entscheidung traf. Er hatte die alleinige Verantwortung für die tägliche Arbeit der Teams im Marsorbit und auf der Oberfläche des Planeten.
Das hieß jedoch nicht, daß seine Entscheidungen nicht aufgehoben werden konnten.
Nachdem er seine Zustimmung zu Wosnesenskis und Watermans außerplanmäßiger Eilfahrt zum Tithonium Chasma gegeben hatte, meldete Dr. Li die Änderung des Exkursionsplans routinemäßig nach Kaliningrad. Routinemäßig hieß in diesem Fall, daß er wie üblich bis zum Ende des Tages wartete, bevor er seinen Bericht abschickte. Der Umweg des Rover-Teams nach Tithonium wurde in seinem üblichen Tagesbericht unter Punkt siebzehn aufgelistet. Punkt siebzehn von zweiundzwanzig Punkten.
Daher war es in Rußland kurz nach vier Uhr morgens, als sein Bericht eintraf. Die Flugkontrolleure arbeiteten natürlich in drei Schichten, aber ihre Vorgesetzten – die Männer und Frauen, welche die eigentlichen Entscheidungen trafen –
schliefen tief und fest, als Lis Bericht über den Bildschirm des obersten Flugkontrolleurs dieser Schicht zu laufen begann.
Er war ein Russe, der seine Pflichten ernst nahm. Neben ihm an der Konsole saß sein amerikanisches Pendant, eine kesse rothaarige Ingenieurin, die vom Jet Propulsion Laboratory des California Institute of Technology ausgeliehen worden war.
Schulter an Schulter lasen sie den Bericht des Expeditionskommandanten auf dem Bildschirm; die Amerikanerin war ein bißchen ungeduldig, weil ihr Kollege etwas länger für den englischen Text brauchte. Um diese Zeit war es im Kontrollzentrum still und ruhig. Obwohl alle Stationen besetzt waren, gab es wenig Aktivität und noch weniger Gespräche.
Bis die amerikanische Flugkontrolleurin plötzlich ausrief: »Er hat es genehmigt! Ohne Absprache mit uns?«
Augen wurden aufgerissen, Köpfe drehten sich ihr zu.
Der russische Schichtleiter sagte: »Doktor Li hat die Befugnis…«
»Einen Teufel hat er«, sagte die Amerikanerin. Ihre grünen Augen blitzten wütend. »Im Protokoll steht ausdrücklich, daß jede größere Änderung des Plans vorher mit dem Kontrollzentrum abgesprochen werden muß!«
»Jede größere Änderung«, sagte der Russe milde.
»Finden Sie nicht, daß es eine größere Änderung ist, wenn dieses Rover-Team ein Umweg von sechshundert Kilometern macht?« Sie riß das Telefon von seiner Auflage an der Konsole und begann, eine Nummer einzutippen. »Wieviel Treibstoff hat dieses Marsauto eigentlich? Bringen sie sich nicht in Gefahr, damit liegenzubleiben?«
Der Russe gab etwas in die Tastatur an der Konsole ein, und die Spezifikationen des Mars-Rovers verdrängten Dr. Lis Bericht von ihrem Bildschirm.
»Es hat einen Aktionsradius von tausend Kilometern«, sagte er. »Über die Hälfte seiner Masse besteht aus Treibstoff. Ein enormer Sicherheitsfaktor.«
»Nicht, wenn sie außerplanmäßige zwölfhundert Kilometer einlegen.«
»Wollen Sie den obersten Missionsleiter um diese Uhrzeit anrufen?«
»Nein, verdammt, ich bin ja nicht wahnsinnig«, antwortete die Amerikanerin. Ein leichtes Grinsen durchbrach ihre Wut.
»Ich rufe Houston an.«
Der Russe erwiderte das Lächeln. »Ah – und die wecken dann den Chef auf.«
»Genau. Ich gehe vielleicht schnell in die Luft, aber ich bin nicht blöd.«
HOUSTON: Die Befehlshierarchie auf der Erde war wie alles andere bei der Marsmission in zwei Stränge aufgeteilt. Das Kontrollzentrum befand sich in Kaliningrad, aber es gab noch ein ›Schatten‹-Kontrollteam in dem alten NASA-Zentrum am Clear Lake in der Nähe von Houston.
Das Zentrum war Anfang der sechziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts als politische Belohnung für die Wahlunterstützung in Texas geschaffen worden. Ursprünglich auf den Namen Manned Space Center getauft – Zentrum für bemannte Raumfahrt –, wurde das fast eine Autostunde von der Innenstadt von Houston entfernt gelegene Zentrum zur Heimat der Astronauten, dem Ort, wo alle bemannten Raumfahrtaktivitäten geplant und geleitet wurden. Schließlich wurde es nach Lyndon B. Johnson benannt. Als Vizepräsident hatte Johnson den Vorsitz in John F. Kennedys Space Council innegehabt und sich energisch für das wagemutige Programm eingesetzt, noch vor Ende der sechziger Jahren Amerikaner auf den Mond zu schicken.
Aber so schnell die Ingenieure auch arbeiteten, gegen den Lauf der Geschichte hatten sie keine Chance. Als die ersten Astronauten den Fuß auf den Mond setzten, war Kennedy tot und sein Nachfolger, Johnson, nicht mehr im Amt. Das amerikanische Raumfahrtprogramm befand sich zwar offenkundig auf dem Gipfel seines Erfolges, wurde jedoch immer weiter ausgehöhlt und praktisch zum Erliegen gebracht, ein Opfer des Vietnamkriegs, der unter Johnson eskaliert war.
Aber das Johnson Space Center blieb bestehen, und es wuchs sogar. Als Zentrum aller bemannten Raumfahrtaktivitäten wurde es zum Hauptquartier für die Hunderte von Astronauten, die dazu rekrutiert wurden, um das Space Shuttle und dessen Nachfolger zu fliegen. Männer und Frauen trainierten dort, bevor sie zur amerikanischen Raumstation Freedom oder einer der ausländischen (oder gar privaten) Raumstationen hinauffliegen durften, die bereits um die Erde kreisten.
Auf den ersten Blick sah das Johnson Space Center eher wie ein Universitätscampus aus. Gebäude mit modernistischen Glasfassaden und grüner Rasen, eine entspannte Atmosphäre, junge Männer und Frauen, die von einem Gebäude zum anderen schlenderten oder mit ihren Wagen die breiten, von Bäumen gesäumten Straßen entlangfuhren. Am Haupteingang hatte jedoch eine riesenhafte Saturn V-Rakete, eine Relikt der alten Apollo-Ära, ihre letzte Ruhestätte gefunden; sie lag auf der Seite wie ein gestrandeter Wal. Und hinter den hohen Türmen aus Glas und Stahl waren kleinere, fensterlose Gebäude, die vor Elektrizität summten und in denen Pumpen und Motoren pulsierten.
In einem dieser fensterlosen Gebäude befand sich das ›Schatten‹-Kontrollzentrum. Es war kurz nach acht Uhr an einem ruhigen, warmen Abend in Texas, als die Anfrage aus Kaliningrad kam.
Auch in Houston hatten die obersten Entscheidungsträger bereits Feierabend gemacht und sich in alle Himmelsrichtungen in ihre Vorstadthäuser zerstreut. Die Schreibtische und Konsolen waren nur von einer Handvoll Männer und Frauen besetzt, die größtenteils jung waren und diese Arbeit noch nicht lange machten.