Tony Reed lächelte bitter, als die Liste mit den Analyseresultaten des medizinischen Programms über den Bildschirm lief.
»Genau, wie ich Ihnen gesagt habe«, erklärte er Dr. Yang.
»Die blöde Maschine hat uns nichts Neues mitzuteilen.«
Yang Meilin saß neben ihm am Schreibtisch im Krankenrevier und betrachtete die kurze Liste, wie eine Frau, die sich in der Wüste verirrt hat, den Horizont nach einer Oase absuchen würde.
»Die Antwort ist hier«, sagte sie kaum laut genug, daß Reed es hörte. »Ich bin sicher.«
Der Zorn, den Tony zuvor verspürt hatte, war jetzt verflogen. Yang würde ihn nicht ausbooten. Sie war ebenso verwirrt und frustriert wie er. Sie tat ihm beinahe leid. Sie taten ihm alle beide leid. Die beiden großen medizinischen Experten, dachte er, die sich ratlos am Kopf kratzen wie zwei Schimpansen. Spricht Bände für die Arbeit der Auswahlkommission, nicht wahr?
»Ich habe das Gefühl«, sagte Yang und preßte eine Hand flach auf ihren Bauch, »daß wir die Antwort gesehen haben, sie aber noch nicht erkennen.«
Reed gab einen dünnen Seufzer von sich. »Gefühle sind eine Sache«, sagte er beinahe sanft. »Was wir brauchen, sind Tatsachen.«
»Die einzige klare Tatsache, die wir haben«, sagte sie, »ist, daß jeder hier auf dem Mars krank ist, nur Sie nicht.«
Tony verspürte ein leises Schuldgefühl. »Ja. Das ist das Verwirrende an der ganzen Sache, nicht wahr?«
»Was tun Sie, was die anderen nicht tun?«
Er schüttelte den Kopf. »Absolut nichts, soviel ich weiß. Ich atme dieselbe Luft, ich esse mit ihnen…«
»Irgendwas im Essen?«
Tony lehnte sich auf dem Stuhl zurück und antwortete: »Ich kann mir nicht vorstellen, daß etwas in meinen Mahlzeiten ist, was mich davor bewahrt, ebenso krank zu werden wie die anderen. Oder andersherum, daß deren Essen auf irgendeine Weise verdorben ist und meines zufällig nicht.«
»Vitaminmangel steht auch auf der Liste des Computers.«
»Ja, ich weiß.« Etwas von der alten Erbitterung keimte wieder in Tony auf. »Aber wir haben das immer wieder überprüft.
Sie nehmen alle ihre Vitaminpräparate, genau wie ich. Daran kann es nicht liegen.«
»Sie nehmen die gleichen Pillen wie die anderen?«
»Ja, natürlich.«
»Jeden Tag?«
»Ja.«
Yang verfiel in Schweigen und richtete ihren Blick wieder auf den Bildschirm, als glaubte sie, wenn sie ihn intensiv genug anstarrte, würde die Antwort schon herauskommen.
Etwas nagte an Reeds Bewußtsein. Etwas Peripheres, Unterschwelliges. Als ob sie die Antwort gestreift hätten, ohne es zu bemerken. Als ob…
Die Vitamine können es nicht sein, sagte er sich. Ich nehme jeden Tag dieselben Nahrungszusätze wie die anderen. Ich passe jeden Morgen auf, daß alle sie beim Frühstück einnehmen. Was die vier im Rover tun, kann ich natürlich nicht sehen, aber ich frage sie jeden Tag danach.
Könnte es Strahlenverseuchung sein? Eine so geringfügige Strahlung, daß sie unter dem vom Dosimeter noch angezeigten Schwellenwert liegt? Immerhin waren alle anderen viel häufiger außerhalb der Kuppel als ich. Ich bin hier drin geblieben, während sie draußen ihrer Arbeit nachgegangen sind.
Das kann es auch nicht sein. Es gibt keine fremdartige Strahlung auf dem Mars. Naguib und die anderen haben das Strahlungsumfeld seit unserer Landung kontinuierlich gemessen.
Und die unbemannten Sonden haben es jahrelang gemessen, bevor wir hierhergekommen sind.
Der unterbewußte Gedanke gab immer noch keine Ruhe. Etwas mit den Vitaminen.
Reed schloß die Augen und vergegenwärtigte sich seine morgendliche Routine. Er kam ins Krankenrevier und nahm seine Vitaminpillen, ging dann in die Kombüse und vergewisserte sich, daß noch genug für alle anderen da waren. Seinen Morgencocktail mixte er sich nicht mehr; während dieses Notfalls wollte er einen völlig klaren, von keiner Droge vernebelten Kopf behalten. Er achtete jeden Morgen persönlich darauf, daß alle ihre Pillen schluckten, außer bei den gelegentlichen Frühaufstehern, die mit dem Frühstück schon fertig waren, wenn er in die Kombüse kam. Seit dem Ausbruch dieser Krankheit war jedoch keiner mehr früher auf den Beinen gewesen als Tony, nicht einmal Wosnesenski.
Sein Blick zuckte mit einemmal zu dem Schränkchen, in dem die Vitaminflaschen standen. Jede Flasche enthielt fünfhundert ovoide, orangefarbene Pillen.
Und in seinem verschlossenen Arzneischränkchen war eine kleinere Flasche, diejenige, aus der er seine eigenen Pillen nahm.
»O nein«, stöhnte er.
Yang erwachte ruckartig aus ihrer gedankenverlorenen Grübelei, als ob Reed sie geohrfeigt hätte. »Was? Was haben Sie gesagt?«
»Ich nehme meine Vitaminpillen nicht aus demselben Gefäß wie die anderen.«
Sie sah ihn scharf an. »Macht das einen Unterschied?«
»Eigentlich nicht… außer…«
Yang Meilin betrachtete ihn erwartungsvoll. Tony konnte die Aufmerksamkeit spüren, die von ihrem angespannten Körper ausging.
»Dieses erste Gefäß dort«, er zeigte auf das Schränkchen mit der Glastür, »war offen, als der Meteoriteneinschlag Löcher in die Kuppel gerissen hat. Die anderen Gefäße sind noch gar nicht aufgemacht worden; sie sind noch original versiegelt.«
Tony fühlte, wie er vor Schuldbewußtsein tiefrot wurde. Als der Meteorit die Kuppel durchschlagen hatte und der Alarm losgegangen war, hatte dieses eine große Gefäß offen auf seinem Schreibtisch gestanden. In seiner Eile, das Krankenrevier zu verlassen und in seinen Raumanzug zu kommen, hatte er die Flasche umgestoßen. Als der Notfall dann vorüber war, hatte er die auf seinem Schreibtisch verstreuten Pillen eingesammelt, sie wieder in dieselbe Flasche getan und nur diejenigen weggeworfen, die er auf dem Fußboden gefunden hatte.
Es ist alles in Ordnung mit ihnen, hatte er sich gesagt. Dann hatte er die Pillen in die kleineren Fläschchen umgefüllt, die in die Borde in der Kombüse paßten.
Sein eigener Vorrat an Vitaminpräparaten hatte sich bereits in einer kleineren Flasche befunden, die zusammen mit seinen Amphetaminen und anderen Medikamenten sicher in seinem Arzneischränkchen verstaut war. Dieses Arzneischränkchen war nicht nur verschlossen; es war luftdicht.
»Ihre Pillen sind reinem Sauerstoff ausgesetzt gewesen«, sagte er leise.
Yang hob eine Hand an den Mund.
»Ja«, sagte Reed und setzte das Szenario zusammen, während er sprach. »Der Druck in der Kuppel ist fast sechsunddreißig Stunden lang mit reinem Sauerstoff aufrechterhalten worden. Es hat ein paar Tage gedauert, bis wir genug Stickstoff aus der Luft draußen gewonnen hatten, um hier drin wieder eine normale Mischung wie auf der Erde zu erzeugen.«
»Reiner Sauerstoff…«
»Reiner Sauerstoff zerstört Ascorbinsäure«, sagte Reed geistesabwesend, als würde er sich eine obskure Frage aus einer Collegeprüfung in Erinnerung rufen.
»Die Pillen, die sie einnehmen, enthalten kein Vitamin C.«
»Stimmt. Sie haben alle Skorbut.«
»Skorbut!« Yang streckte sofort die Hände zur Tastatur des Computers aus und tippte ein paar Augenblicke lang wild darauf herum. Das Gerät summte vor sich hin, während Tony sich innerlich in seelischen Qualen wand. Mein Fehler. Das ist alles passiert, weil ich einen dummen Fehler gemacht habe.
»Es paßt«, sagte Yang, während sie die neuen Daten musterte, die auf dem Computerbildschirm angezeigt wurden. »Sie weisen alle die typischen Skorbutsymptome auf.«
Reed ließ sich in seinen Stuhl zurücksinken. Er fühlte sich so schwach und ausgehöhlt, als hätte er die Krankheit selbst bekommen. Skorbut. Und es ist alles meine Schuld. Wenn ich es nur früher gemerkt hätte. Natürlich mußte es das sein. Der Sauerstoff, die Pillen…
Er blickte auf und sah, daß Yang auf die Tür des Krankenreviers zusteuerte.
»Wo gehen Sie hin?« rief Tony ihr nach, während er hinter seinem Schreibtisch auf die Beine kam.
»In die Messe«, antwortete sie über die Schulter hinweg. So klein sie war, sie marschierte wie ein ausgebildeter Soldat; ihre Arme schwangen hin und her, die Stiefel klackerten auf den Kunststoffboden. Tony beeilte sich, um zu ihr aufzuschließen.
»Suchen Sie jemand Bestimmten?« fragte er.
»Den Leiter des Bodenteams. Wosnesenski.«
»Ah. Ja, natürlich.«
»Haben Sie Vitaminflaschen, die noch nicht geöffnet worden sind?« fragte Yang. »Deren Inhalt nicht vom Sauerstoff verdorben worden ist?«
»Ja«, antwortete er. »Fünfzehnhundert Pillen in drei versiegelten Flaschen.«
Monique Bonnet saß mit Paul Abell und Mironow am Tisch in der Messe. Alle drei hingen müde auf ihren Stühlen.
»Wo ist der Leiter der Gruppe?« fragte Yang.
Monique seufzte erschöpft, dann antwortete sie: »Ich glaube, er ist an der Kommunikationskonsole.«
Yang ging ohne ein weiteres Wort in Richtung der Kommunikationskonsole davon. Reed folgte ihr dichtauf. Im Krankenhaus muß sie ein richtiger Drachen sein, dachte der Engländer.
Gott sei dem Mann oder der Frau gnädig, der oder die ihr in die Quere kommt!
Wosnesenski sah aus, als würde er gleich einschlafen. Er hing zusammengesunken auf dem Stuhl; sein Gesicht war aufgedunsen, seine Augen waren rot und trübe. Connors’ schwarzes Gesicht auf dem Kommunikationsbildschirm sah nicht besser aus, sondern eher noch schlimmer.
»Ich brauche Ihre Hilfe«, sagte Yang ohne weitere Einleitung.
Wosnesenski drehte sich auf seinem Stuhl um, wollte sich hochstemmen, gab es dann auf und blieb einfach sitzen. Er sah die chinesische Ärztin an. Ihre Gesichter waren beinahe auf gleicher Höhe.
»Sie müssen alle sofort anfangen, große Dosen Vitamine einzunehmen.«
»Vitamine?« sagte Wosnesenski dumpf. »Aber wir nehmen doch Vitamine. Wir nehmen sie regelmäßig, jeden Tag.«