SOL 39 MORGEN

»Vitaminmangel?«

Das Wort weckte Jamie. Er hatte traumlos geschlafen, als Connors’ Stimme, hoch und schrill, zu seinem Bewußtsein durchdrang.

Jamie befreite sich aus der dünnen Decke, schlüpfte aus seiner Koje und tappte auf Strümpfen nach vorn zum Cockpit. Es war eisig kalt im Rover. Connors sprach mit Wosnesenski. Beide Männer sahen völlig entkräftet aus, aber das Gesicht des Russen auf dem Bildschirm war zu einem merkwürdigen Grinsen verzogen.

»Wir haben Skorbut«, sagte Wosnesenski, fast so, als wäre es ein Scherz.

»Skorbut?«

»Es steht fest. Yangs Tests sind während der Nacht analysiert worden. Unsere Vitaminpillen waren vergiftet – nein, das ist nicht das richtige Wort. Das Vitamin C in den Pillen ist deaktiviert worden, weil es nach dem Meteoriteneinschlag reinem Sauerstoff ausgesetzt war. Wir haben nicht mehr genug Vitamin C zu uns genommen. Deshalb haben wir jetzt alle Skorbut bekommen.«

Jamie sank auf den rechten Sitz. »Sie meinen, wie Seeleute in alter Zeit, die zu lange auf See waren?«

»Deshalb nennt man die Briten ›Limeys‹«, sagte Connors, dessen Stimme immer noch ungläubig klang. »Weil sie Limonen und anderes frisches Obst an Bord ihrer Schiffe mitführten, als sie rausgefunden hatten, wodurch Skorbut verursacht wurde.«

»Skorbut«, murmelte Jamie. »Skorbut!«

»Doktor Yang zufolge wird es etliche Tage dauern, bis’ die Symptome wieder verschwinden«, sagte Wosnesenski.

»Und was ist mit uns?« fragte Connors.

Das Grinsen des Russen erlosch so abrupt wie ein Licht. »Bis jetzt hat Kaliningrad einen Rettungsflug aus dem Orbit verboten. Sie müssen erst eine Entscheidung treffen.«

»Wir sitzen hier fest, bis die zu einem Entschluß gekommen sind?« sagte Connors, als wäre das gleichbedeutend mit einem Todesurteil.

»Und unsere Krankheit wird schlimmer werden, nicht besser. Wir können uns jetzt schon kaum noch auf den Beinen halten«, sagte Jamie.

»Da wäre der Ersatzrover«, sagte Wosnesenski.

»Aber wer soll ihn fahren?« fragte Connors. »Ihr seid alle, genauso krank wie wir.«

»Ich.«

»Das geht nicht«, sagte Jamie. »Es ist zu riskant. Sie sind zu krank.«

Wosnesenskis Grinsen erschien wieder, wenn auch schwächer. »Ich fahre den Rover. Ich werde kiloweise Vitaminkapseln schlucken. In weniger als sechsunddreißig Stunden bin ich in eurer Nähe.«

Trotz seiner Erschöpfung begriff Jamie, warum Mikhail lächelte. »Iwschenko und Zieman sind jetzt in der Kuppel. Sie nehmen sie mit. Die beiden sind gesund.«


Der Russe neigte bejahend den Kopf. »Ja, ich nehme Iwschenko mit. Wir kommen euch zu Hilfe wie die Kavallerie in euren Western.«

Wosnesenski hatte seine Entscheidung erst getroffen, als er ihre Gesichter sah. Das von Connors sah ausgezehrt aus, wie das eines Sterbenden. Watermans breite Wangenknochen sprangen hervor, seine Gesichtshaut war straff gespannt, seine Augen waren rot und total wässrig.

Es gibt keine andere Möglichkeit, sagte sich Wosnesenski.

Ich fahre mit dem Rover zu ihnen und hole sie zur Kuppel zurück. Ich nehme einen Vitaminvorrat und Nahrungsmittel für sie mit. Iwschenko fährt mit, Zieman bleibt hier. Das ist alles durch die Missionsvorschriften abgedeckt; es werden keine Sicherheitsmaßnahmen verletzt.

Nachdem er sich entschieden hatte, rief er Dr. Li oben in der Mars 2 an und teilte ihm mit, was er zu tun gedachte.

Li machte ein überraschtes Gesicht. »Sie sind nicht in der Verfassung für eine solche Exkursion.«

»Iwschenko schon«, sagte Wosnesenski störrisch. »Und ich bin durchaus fähig, in einem Sitz zu hocken und das Fahrzeug zu lenken. Wir koppeln die mittlere Sektion ab und nehmen nur das Kommandomodul und das Logistikmodul mit. Ich werde die ganze Zeit Verbindung zu Doktor Yang und Doktor Reed halten und alle Medikamente einnehmen, die sie mir verschreiben.«

»Kaliningrad wird die Genehmigung verweigern«, sagte Lis Bild auf dem Monitor. »Sie sind zu dem Schluß gekommen, daß ihr acht in der Kuppel wichtiger seid als die vier im Rover.«


»Die vier im Rover haben die Proben der marsianischen Organismen bei sich«, betonte Wosnesenski.

Li schüttelte den Kopf. »Man hat beschlossen, zuerst die Besatzung in der Kuppel zu evakuieren und dann zu sehen, ob es möglich ist, das Exkursionsteam noch zu retten.«

»Wenn das so ist«, sagte Wosnesneski, »fahre ich ohne die Genehmigung aus Kaliningrad. Und auch ohne Ihre.«

Lis Augen wurden groß. »Ist Ihnen klar, was Sie da sagen?«

Wosnesenski spürte, wie die ganze Kraft von Mütterchen Rußland durch seine Adern strömte und ihn stärkte. »Natürlich, Doktor Li. Aber Ihnen muß doch auch klar sein, was Sie sagen. Als Expeditionskommandant tragen Sie eine schwere Verantwortung, eine so schwere, daß ich sie nicht würde tragen wollen. Aber ich würde niemals zulassen, daß Kaliningrad oder Gott der Allmächtige vier meiner Kameraden abschreibt.«

»Die Sicherheit Ihrer verbliebenen Teammitglieder ist im Moment am wichtigsten.«

»Ja, vielleicht. Ich bin nur der Leiter dieses Bodenteams. Ich muß mir keine Gedanken um Flugkontrolleure oder die über ihnen stehenden Politiker machen. Ich bin für die Männer und Frauen hier auf dem Mars verantwortlich. Für sie alle, einschließlich der vier Gestrandeten da draußen im Canyon.«

»Sie würden Ihr eigenes Leben und das derjenigen aufs Spiel setzen, die Sie mitnehmen«, sagte Li.

»Iwschenko wird sich mit Freuden freiwillig melden, Doktor.

Dafür werde ich schon sorgen, keine Angst. Wir werden alle Sicherheitsvorschriften genauestens beachten.«

»Ich kann Ihnen jetzt nicht die Genehmigung dazu erteilen!«


»Ja, ich verstehe. Das ist Ihre Pflicht. Aber ich habe eine Verpflichtung meinen Kameraden gegenüber.«

»Besprechen wir das mit Kaliningrad.«

Wosnesenski hätte beinahe gelacht. »Bis die Flugkontrolleure die Sache ausdiskutiert haben, sind wir alle reif für die Pension – oder für unsere Beerdigung. Nein, das muß jetzt geschehen, nicht erst in zwei Tagen.«

Li fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Auf dem Kommunikationsbildschirm sah er für Wosnesenski auf einmal wie ein erschrockenes Kaninchen aus, das ihn anstarrte, bereit, sich mit ein paar Sätzen in Sicherheit zu bringen. Die beiden Männer sahen einander eine Weile wortlos an.

Schließlich sagte Li: »Viel Glück.«

Wosnesenski versammelte die elf Männer und Frauen in der Messe und gab seine Entscheidung bekannt.

»Iwschenko und ich fahren mit dem zweiten Rover zum Canyon und holen Watermans Team zurück. Wir werden drei Tage fort sein – höchstens vier.«

Die anderen schwiegen. Sie standen in einem lockeren Halbkreis vor dem Kosmonauten, sahen einander unsicher an, traten von einem Bein aufs andere. Ihr Blick war fragend.

Schließlich sagte Dr. Yang: »Sie sind nicht in der körperlichen Verfassung für eine solche Fahrt.«

»Es ist meine Pflicht«, sagte Wosnesenski. »Li und die Flugkontrolleure wollen uns in den Orbit evakuieren, bevor sie das Exkursionsteam zu retten versuchen. Ich habe anders entschieden. Ich muß fahren. Ich selbst.«


»Aber Sie sind immer noch krank«, wandte Yang ein. »Die Auswirkungen des Skorbuts werden noch viele Tage anhalten.

Sie werden schwach und kraftlos sein…«

»Dimitri Josifowitsch wird die ganze Arbeit machen; ich werde lediglich den Ruhm einheimsen.«

Sie lachten nervös.

»Ich komme mit«, sagte Tony Reed.

»Sie? Nein.«

»Ich muß«, beharrte Reed.

»Es ist nicht erforderlich, daß Sie mitkommen«, meinte Wosnesenski. »Es ist ein unnötiges Risiko.«

Reed trat vor und blieb vor dem Russen stehen. »Es ist meine Pflicht, mitzufahren«, sagte er ruhig, »genauso wie Ihre.«

Wosnesenski schüttelte störrisch den Kopf. »Wir brauchen keinen Arzt an Bord des Rovers. Sie werden über Satellit mit uns in Verbindung stehen.«

»Verstehen Sie denn nicht?« brach es aus Reed hervor. Er drehte sich zu den anderen um. »Versteht ihr denn nicht? Es ist meine Schuld! Ihr seid alle durch meinen Fehler krank geworden! Ich habe das getan! Ich habe die Vitaminpillen verdorben. Und dann habe ich nicht erkannt, was mit euch los war.«

Es war das Schwierigste, was Antony Reed jemals in seinem Leben getan hatte. Die anderen starrten ihn überrascht an.

»Ich muß mitfahren«, flehte Reed und drehte sich wieder zu Wosnesenski um. »Jamie und die anderen… sie werden einen Arzt brauchen, wenn wir bei ihnen ankommen.«

Wosnesenskis Mund stand offen, als wollte er etwas erwidern, wüßte aber nicht, was er sagen sollte. Die anderen schauten verlegen drein; sie wußten nicht recht, was sie tun sollten.


»Er sollte mitfahren«, sagte Yang fest. »Er hat recht. Die vier im Rover werden sofortige ärztliche Betreuung brauchen, wenn Sie bei ihnen eintreffen.«

Wosnesenski strich sich über sein breites Kinn. »Ich verstehe.«

»Und Sie ebenfalls«, setzte Yang hinzu.

Der Russe grinste schwach. »Mein Leibarzt?«

Yang lächelte nicht zurück. »Wenn Sie darauf bestehen, diese Fahrt in Ihrem Zustand zu unternehmen, müssen Sie einen Arzt bei sich haben.«

»Also schön«, sagte Wosnesenski widerwillig.

»Danke!« sagte Reed. Er sah den Ausdruck auf Wosnesenskis Gesicht, auf allen Gesichtern. Er hatte mit Zorn oder vielleicht Abscheu über seine Dummheit gerechnet. Statt dessen schienen sie alle Mitgefühl für ihn zu empfinden, selbst die unter ihnen, denen es am elendsten ging. Sie werfen es mir nicht vor, erkannte Reed mit einer Aufwallung von Dankbarkeit, von der er fast weiche Knie bekommen hätte. Sie werfen es mir nicht vor!

Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er einen Fehler zugegeben, hatte die Folgen seiner Handlungen akzeptiert, hatte den Männern und Frauen um sich herum seine Schuld eingestanden. Er hatte geglaubt, es wäre schmerzhafter, als sich selber den Bauch aufzuschlitzen. Und das war es auch. Aber er hatte den Schmerz überlebt. Wie ein Mann, der kurz vor dem Selbstmord steht, hatte er sich dem Schlimmsten gestellt, was er sich vorstellen konnte, und es heil überstanden.

Wosnesenski sank dankbar auf den nächsten Stuhl in der Messe. Seine Beine waren so schwach, daß er nicht mehr stehen konnte. Gut, daß ich während der ganzen Fahrt zum Canyon sitzen kann, sagte er sich. Ich hoffe nur, ich kann den verdammten Rover fahren, ohne wie ein kraftloses altes Weib doch noch zusammenzubrechen.

Jamie saß wieder im Cockpit. Joanna saß neben ihm. Connors hatte sich auf seiner Liege ausgestreckt und stöhnte leise im Schlaf. Ilona lag auf der Liege über der des Astronauten und versuchte ebenfalls zu schlafen. Keiner von ihnen hatte die Kraft gehabt, die Liegen wieder einzuklappen. Sie hatten ihr trübsinniges Frühstück auf den Rändern der unteren Liegen eingenommen und dabei den Kopf eingezogen, um nicht an die oberen zu stoßen.

»Vitaminmangel«, sinnierte Jamie. »Bei dieser Mission hätte alles mögliche schiefgehen können, aber wir kriegen ausgerechnet Skorbut. Da hat Murphys Gesetz mal wieder voll zugeschlagen.«

Joanna schien kaum wach zu sein, aber sie sagte: »Jetzt, wo wir wissen, was es ist, kommt es mir irgendwie nicht so schlimm vor. Es war das Unbekannte, das mir angst gemacht hat.«

»Wir können immer noch daran sterben, ob wir nun wissen, was es ist, oder nicht.«

Sie lächelte matt. »Du läßt uns nicht sterben, Jamie. Ich weiß es.«

Warum lädt sie mir diese Bürde auf, fragte er sich ein wenig ärgerlich. Aber laut sagte er zu ihr: »Jetzt können wir alle nicht viel anderes tun als warten.«

Joannas schwaches kleines Lächeln wurde ein wenig breiter, als wüßte sie etwas, das Jamie nicht wußte.


Die Kommunikationsanlage summte. Jamie legte den Schalter um, und Abells froschähnliches Gesicht erschien auf dem Bildschirm an der Kontrolltafel. Er war genauso blaß und hager wie die vier im Rover. Seine eingesunkenen Wangen lie

ßen seine vorquellenden Augen noch mehr aus den Höhlen treten als sonst.

»Da kommt gerade eine Botschaft aus Kaliningrad für Joanna rein«, sagte Abell. »Ist sie auf?«

»Ich bin hier«, sagte Joanna und beugte sich vom Beifahrersitz aus so weit vor, daß Abell sie sehen konnte, obwohl die in die Kontrolltafel eingebaute Miniaturkamera auf Jamie gerichtet war.

»Oh, gut. Ich sage denen oben in der Mars 2, sie sollen sie direkt zu euch runterschicken.«

»Wie geht es euch?« fragte Jamie.

Abell drehte den Kopf hin und her. »Reed pumpt so viel Vitamin C in uns rein, daß ich mir vorkomme, als würde ich mich in einen Orangenhain verwandeln. Ich kann den Kopf schütteln, ohne daß mir schwummrig wird, aber ich fühle mich immer noch wie Hundefutter in Dosen.«

Jamie merkte, daß er selbst sich wie gegessenes Hundefutter fühlte. Und daß Abell ihn nicht fragte, wie es ihm ging.

»Dimitri und Ollie sind draußen und machen den zweiten Rover fertig. Mikhail läßt über die Bildfunkverbindung den Boss raushängen und macht ihnen das Leben schwer. Er ist zu schwach, um selber rauszugehen, und macht ihnen deshalb andauernd die Hölle heiß.«

»Wie lange wird es noch dauern, bis sie aufbrechen?« fragte Jamie.


»Eine Stunde. Höchstens zwei. Mikhail nimmt Dimitri mit.

Ollie ist stocksauer.«

»Hat keinen Sinn, mehr Häute zu riskieren als nötig«, sagte Jamie.

»Reed kommt auch mit.«

»Tony? Der geht raus?«

»Ja. Er sagt, wenn sie bei euch sind, werdet ihr einen Arzt brauchen.«

Das ist ein tröstlicher Gedanke, dachte Jamie.

»Okay«, verabschiedete sich Abell. »Ich sage denen Bescheid, daß sie euch die Botschaft aus Kaliningrad runterbeamen.«

Der Bildschirm wurde kurz dunkel und flackerte: dann nahm das Bild eines müden alten Mannes Gestalt an. Sein rotes Haar war zerzaust, sein kleiner Spitzbart ungepflegt, sein Hemdkragen offen. Er stellte sich als Chef der Flugleitung vor.

»Meine Botschaft ist an Doktor Joanna Brumado gerichtet, und sie ist privater Natur. Eigentlich handelt es sich um eine Frage, die Doktor Brumado uns beantworten muß.«

Jamie drehte die kleine, auf einem Kugelgelenk montierte Kamera an der Kontrolltafel zu Joanna, während der Flugleiter zögerte, als wartete er auf ihn oder auf eine Antwort. Dann holte er tief Luft und legte los:

»Doktor Brumado, bei dieser Frage geht es um Ihren Vater.

Wie Sie wissen, gehört er zum engeren Umfeld unserer Mission und war stets auf dem laufenden über die täglichen Operationen. Natürlich ist er über Ihre… mißliche Lage informiert worden. Er ist bereits auf dem Weg nach Houston. Ich habe strikte Anweisungen gegeben, daß niemand außerhalb des Kontrollzentrums etwas über das Problem erfahren darf, dem wir uns momentan gegenübersehen, bis es gelöst worden ist.


Damit wollen wir die Medien daran hindern, die Situation zu Sensationszwecken auszuschlachten, verstehen Sie.«

Jamie dachte: Und ob ich verstehe, daß sie den Medien nichts darüber sagen wollen, in welcher Klemme wir stecken. Sie würden in Reportern ertrinken.

»Ihr Vater wird jedoch offenbar von einer Vertreterin der amerikanischen Nachrichtenmedien begleitet, einer jungen Fernsehjournalistin«, fuhr der oberste Flugleiter fort. »Wir konnten nicht in Erfahrung bringen, für wen sie arbeitet, aber wir kennen ihren Namen.« Der Russe senkte den Blick und las ihn offenkundig von einem Blatt Papier ab. »Edie Elgin«, sagte er steif.

Joanna runzelte die Stirn. Jamie durchzuckte eine jähe Überraschung. Edith? Bei Brumado?

Der oberste Flugleiter schaute ausgesprochen unbehaglich drein. »Ihr Vater wird natürlich mit Ihnen sprechen wollen.

Die Journalistin, die bei ihm ist, wünscht offenbar die Erlaubnis, Ihr Gespräch aufzuzeichnen, um es eventuell auszustrahlen – nachdem diese Krise bewältigt ist. Ohne die Genehmigung der Verantwortlichen des Marsprojekts würde das Band natürlich nicht veröffentlicht werden. Und natürlich auch nicht ohne die Genehmigung Ihres Vaters.«

Sie hat sich an Brumado gehängt, erkannte Jamie.

Das ist ja ein tolles Ding! Und sie will ihr Gespräch aufzeichnen. Wie kaltblütig und zugleich auch genial! Wenn wir sterben, wird sie grandioses Bildmaterial von den letzten zärtlichen Momenten zwischen Vater und Tochter haben. Und wenn wir überleben, hat sie immer noch großartiges Material über die menschliche Seite der Mission.


Und sie hat nicht darum gebeten, mit mir Kontakt aufnehmen zu dürfen. Ich bin ihr piepegal. Und wieso auch nicht, zum Teufel? Sie hat ja jetzt Brumado.

Der oberste Flugleiter fragte Joanna: »Werden Sie ein kurzes Gespräch mit Ihrem Vater führen können – natürlich unter Berücksichtigung der Verzögerung zwischen dem Ausgang und dem Eingang der Botschaften?«

Joanna warf Jamie einen Blick zu, dann schien sie sich im Cockpitsitz aufzurichten.

»Ich weiß Ihre Sorge um meinen Vater und mich zu schätzen und danke Ihnen dafür. Aber bitte machen Sie sich nicht die Mühe, eine spezielle Übertragung für uns zu arrangieren«, sagte Joanna fester, als Jamie sie jemals hatte sprechen hören.

»Ich wiederhole: Stellen Sie keine Verbindung mit Houston her.

Ich will keine Sonderrechte. Wenn Sie beschlossen haben, eine Nachrichtensperre über das Problem zu verhängen, mit dem wir es zu tun haben, dann machen Sie meinetwegen bitte keine Ausnahme.«

Jamie schaltete den Sender ab. »Warte einen Moment«, sagte er. »Hat dein Vater nicht ein Recht…«

Ihre rotgeränderten Augen blitzten ihn an. »Ich bin kein kleines Mädchen, das mit seinem Papa sprechen muß, wenn es in Schwierigkeiten steckt. Ich will genauso behandelt werden wie du und die anderen.«

»Aber er ist Alberto Brumado«, sagte Jamie. »Sie wollen nicht dir eine Sonderbehandlung angedeihen lassen, sondern ihm.«

Joanna versuchte den Kopf zu schütteln. Das hatte zur Folge, daß sie sich am Rand der Kontrolltafel festhalten mußte; ihre Knöchel wurden weiß. »Nein. Ich könnte ihm gegenüber nicht stark bleiben. Ich würde zusammenbrechen und weinen. Ich will nicht, daß das auf Video aufgenommen wird.«

»Oh. Ich verstehe. Glaube ich.«

»Jamie – wenn wir… wenn es feststeht, daß wir hier sterben werden, habe ich immer noch massenhaft Zeit, mit meinem Vater zu sprechen. Dann wird sicherlich jeder von uns Botschaften für seine Angehörigen aufzeichnen.«

»Da hast du wohl recht.« Und Edith wird sie alle kriegen, um sie in den gottverdammten Abendnachrichten auszustrahlen.

»Aber jetzt nicht. Ich habe die Hoffnung noch nicht aufgegeben. Du doch auch nicht, oder?«

»Nein, verdammt«, sagte er mit einer Inbrunst, die er in Wahrheit gar nicht verspürte.

»Dann schalte den Sender wieder ein.«

Jamie tat es. Joanna holte Luft und fuhr sich mit den Händen unbewußt durch die zerzausten Haare.

»Ich weiß Ihr Angebot zu schätzen«, sagte sie ruhig, mit großer Würde, »aber meine Entscheidung lautet, daß ich genauso behandelt werden will wie die anderen. Ich erwarte von Ihnen, daß Sie meinen Vater über unsere Lage auf dem laufenden halten – und die Journalistin, die bei ihm ist, ebenfalls.

Vielen Dank.«

Sie ist genauso sauer wegen Edith wie ich, merkte Jamie. Die Erkenntnis spendete ihm aber überhaupt keinen Trost.

Dimitri Josifowitsch Iwschenko saß mit einem schiefen Grinsen an den Steuerelementen des Ersatzrovers. Er ist glücklich, daß er hier unten auf dem Mars ist und etwas Nützliches tun kann, statt oben im Orbit herumzuhocken, dachte Wosnesenski.


Reed saß hinten auf einer der Bänke in der Mitte des Segments. Wosnesenski machte sich Gedanken über den Engländer. Er ist hier bei uns, weil er sich schuldig fühlt; er will für den Unfall mit den Vitaminen büßen. Wird er eine Hilfe für uns sein, oder wird er uns nur im Weg stehen? Er kann den Rover nicht fahren. Er hat keine richtige Erfahrung mit EVAs.

Ich bezweifle, daß er seit unserer Landung alles in allem mehr als ein paar Stunden außerhalb der Kuppel war. Was wird er uns in einem Notfall nützen?

Der Russe drehte sich in dem Cockpitsitz um und schaute über die Schulter hinweg zu Reed. Der Arzt schien tief in Gedanken, ja geradezu benommen zu sein; er saß zurückgelehnt auf der Bank und hielt sich mit beiden Händen an ihrem Rand fest.

Wosnesenski schüttelte den Kopf – und bereute es sofort.

Ihm war immer noch schwummrig, und er fühlte sich furchtbar schwach. Daß ich meinen Leibarzt an Bord habe, hat meinen Gesundheitszustand auch nicht verbessert, grummelte er in sich hinein.

Er richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf Iwschenko. Als er den Burschen musterte, wurde ihm zum ersten Mal bewußt, daß er eindeutig nicht wie ein Russe aussah. Er war gertenschlank und hatte einen dichten, mitternachtschwarzen Lockenschopf. Seine Augen waren ebenfalls kohlschwarz. Dünne Adlernase und noch dünnere Lippen. Seine Haut war von einem hellen, blutleeren Weiß, aber Wosnesenski dachte, daß er tiefbraun werden würde, wenn er ein bißchen Sonne bekam.

Er ist jünger als ich, dachte Wosnesenski, neidisch auf die Energie, die von dem straffen, drahtigen Körper des Kosmonauten ausging. Jünger und gesünder. Wosnesenski dröhnte der Kopf. Die Arme und Beine taten ihm elend weh. Wenn Reed recht hat, sollten diese Vitamindosen helfen, aber ich fühle mich jedenfalls kein bißchen besser. Vielleicht sogar eher noch schlechter.

»Sag mal, Dimitri Josifowitsch«, sagte Wosnesenski laut, wobei seine Stimme selbst in seinen eigenen Ohren rauh und angestrengt klang, »wie kommt es eigentlich, daß du so gut aussiehst?«

Der jüngere Mann warf ihm einen einigermaßen verblüfften Blick zu und konzentrierte sich dann rasch wieder aufs Fahren. »Meine Mutter ist Armenierin, falls du das meinst«, antwortete er.

»Ach, ich habe mich bloß gewundert. Ich dachte, du hättest vielleicht ein bißchen türkisches Blut in dir.«

Iwschenkos Nasenflügel blähten sich. »Nein. Armenisches.«

»Ich verstehe«, sagte Wosnesenski. »Und wie sieht’s mit deinem Liebesleben da oben im Orbit aus?«

Iwschenkos Grinsen kehrte zurück. »Passabel, Genosse. Sogar sehr passabel. Besonders wenn diese deutsche Ärztin sich bei ihrer Arbeit langweilt.«

»Diels? Die Blonde?«

»Sie führt eine sehr körperbetonte Therapie mit mir durch, bei der ich ganz neue Dinge lerne.«

»Das Streben nach Wissen hört niemals auf«, stimmte ihm Wosnesenski zu.

»Ja, es ist durchaus der Mühe wert.«

Wosnesenski lachte, aber dabei tat ihm die Brust weh. Sein Gelächter ging in Husten über.

»Ist es sehr schlimm, Mikhail Andrejewitsch?«

»Nein. Ich habe nur ein bißchen Schmerzen.«


»Sollen wir umkehren?«

»Nein!« donnerte Wosnesenski. »Wir fahren weiter. Ganz gleich, was passiert, wir fahren weiter.«

Stunden vergingen. Sie hielten kurz an und tauschten die Plätze, so daß Wosnesenski fahren konnte.

Iwschenko behielt ihn jedoch genau im Auge. Der jüngere Kosmonaut war keineswegs geneigt, seinem älteren Genossen zu erlauben, sie beide umzubringen.

»Bei Sonnenuntergang kannst du wieder übernehmen«, sagte Wosnesenski. Er fühlte, wie ihm der Schweiß aufs Gesicht trat, ihm die Rippen hinunterlief und den Rücken seines Overalls an den Sitz klebte.

»Willst du dann schlafen?«

»Ich werde es versuchen.«

»Nach den Sicherheitsvorschriften ist es verboten, mit dem Rover zu fahren, wenn kein Ersatzfahrer wach ist und das Steuer im Notfall übernehmen kann. Und bei Nacht zu fahren…«

»Ich kenne die Vorschriften sehr gut«, blaffte Wosnesenski.

»Ich war einer von denen, die sie ausgearbeitet haben. Dies ist ein Notfall; wir werden die Regeln ein bißchen freier auslegen.«

»Ein bißchen«, murmelte Iwschenko.

Wosnesenski zeigte mit dem Daumen nach hinten. »Wenn du dich einsam fühlst, während ich schlafe, kann unser Arzt dir Gesellschaft leisten.«

Iwschenko machte ein mürrisches Gesicht.

Sie fuhren über die steinige Ebene nach Südosten, während die zwergenhafte Sonne zum zerklüfteten Horizont sank und jeder Stein in der kahlen Wüste lange, blutrote Schatten warf.


Für Wosnesenski sahen die Schatten wie die dünnen Krallenhände von Toten aus, die nach ihm griffen.

Im mittleren Teil des Kommandomoduls spürte Tony Reed jeden Stoß, wenn der Rover über einen Stein oder durch eine Vertiefung holperte. Er saß auf der Bank und hielt sich mit beiden Händen an ihrem Rand fest. Das ist Wahnsinn, sagte er sich. Warum habe ich mir bloß eingeredet, daß ich mitkommen müßte? Um Buße zu tun? Für seine Sünden zu büßen ist ja gut und schön, aber das geht nun wirklich ein bißchen zu weit.

Doch er hielt den Mund und beklagte sich nicht, sondern versuchte nur, die Angst zu unterdrücken, die in ihm aufkeimte. Wir sind in diesem lächerlichen kleinen Vehikel draußen, mitten auf der leeren Marsebene. Wenn irgend etwas schiefgeht, was auch immer, sind wir alle tot.

Vorn im Cockpit summte die Kommunikationsanlage. Iwschenko schaltete sie ein, und Dr. Lis langes, bleiches Gesicht erschien auf dem Bildschirm. Seine Mundwinkel waren nach unten gebogen, seine Augen sahen müde und besiegt aus.

»Ich habe den halben Tag mit Kaliningrad diskutiert«, sagte Li. Seine Stimme war ein heiseres Krächzen. »Die Flugkontrolle bleibt hart.«

Wosnesenski grunzte, fuhr jedoch weiter.

»Sie besteht darauf, daß die Mannschaft in der Kuppel in den Orbit evakuiert werden muß und daß danach erst ein Versuch unternommen werden kann, das Team im Rover zu retten.«

»Haben Sie denen gesagt, daß wir bereits zum Canyon unterwegs sind?«


Li schüttelte den Kopf. »Nein. Ich habe ihnen erklärt, daß wir weder mit ihrer Lagebeurteilung noch mit ihrer Entscheidung einverstanden sind.«

»Aber sie bestehen trotzdem darauf?«

»Ja.«

»Und was wollen Sie nun tun?«

Der Expeditionskommandant zupfte nervös an einer Spitze seines Schnurrbarts. »Es ist meine Pflicht, Ihnen den Befehl zu erteilen, umzukehren und zur Kuppel zurückzufahren, damit Sie die Anweisungen der Flugkontrolle ausführen können.«

»In Ordnung«, sagte Wosnesenski. »Sie haben Ihre Pflicht getan.« Er langte über die Kontrolltafel hinweg und schaltete die Kommunikationsanlage aus. Dann brachte er den Rover langsam zum Stehen.

Iwschenko sah ihn besorgt an. »Willst du jetzt umkehren?«

Wosnesenski stieß einen tiefen, gequälten Seufzer aus. »Red keinen Unsinn. Du fährst die nächsten zwei Stunden, während ich ein Schläfchen mache. Wenn wir die Nacht durchfahren, können wir morgen mittag am Rand des Canyons sein.«

Oliver Zieman blickte auf den Kommunikationsbildschirm.

Er saß allein in der Kommandosektion der Kuppel; die meisten anderen lagen krank in ihren Kabinen. Dr. Yang war im Krankenrevier und führte noch weitere Tests durch. Zieman kratzte sich am Kopf und dachte in aller Eile nach. Er hatte nicht mit einer Führungskrise gerechnet.

Dr. Lis Gesicht auf dem Bildschirm sah schmerzerfüllt und zerquält aus. Er muß seine ganze Zeit im Kommandomodul verbringen, dachte Zieman. Anscheinend lebt er dort, Tag und Nacht. Er sieht fast so schlimm aus wie die Skorbutfälle.


»Wir stehen vor einer sehr schwierigen Situation«, sagte Li zu dem Astronauten, »und ich will sicher sein, daß Sie sich über alle Implikationen vollständig im klaren sind.«

»Ja, Sir«, sagte Zieman beinahe eifrig.

»Die Flugkontrolle hat Anweisung gegeben, die Kuppel zu räumen und das gesamte Basisteam wieder in der Orbit heraufzuholen«, sagte Li.

»Aber das Team im Rover…«

Li hob einen langen, schlanken Finger, um den Astronauten zum Schweigen zu bringen. Er fuhr fort: »Kaliningrad argumentiert, daß wir zuerst an die Gesundheit und Sicherheit der Mehrheit denken müssen.

Die Flugleitung ist bereit, die Basis aufzugeben und die gesamte Besatzung in der Kuppel zu evakuieren.«

Zieman überlegte rasch. Das bedeutet, daß ich sie in die L/AVs verfrachten muß. Acht Personen, mich eingerechnet.

Wer, zum Teufel, soll die zweite Fähre fliegen? Mironow und Abell sind nicht in der Verfassung dafür, und Dimitri ist mit Wosnesenski und Reed unterwegs.

»Wenn das Kontingent aus der Kuppel sicher im Orbit ist«, sprach Li weiter, »und wir alle Astronauten und Kosmonauten hier haben, können wir mit dem letzten Abstiegs- und Aufstiegsfahrzeug versuchen, die vier im Rover zu retten.«

»Dann wollen Sie, daß Wosnesenski zurückkommt«, sagte Zieman.

»Ich habe es ihm befohlen. Er hat sich geweigert.«

Geweigert! Ein brennender Strahl der Angst durchzuckte Zieman. Man kann sich nicht weigern, Befehle auszuführen!

Das ist verrückt! Die ganze Mission könnte scheitern, wenn wir Befehle nicht befolgen.


Li wartete einen Moment, bis seine Worte zu Zieman durchgedrungen waren. Dann sagte er: »Wosnesenski hat mir die Hände gebunden. Ich kann nicht den Befehl zur Evakuierung der Kuppel erteilen, wenn es dort nur einen gesunden Astronauten gibt. Ich kann Tolbukhin und Klein nicht zu euch hinunterschicken, weil ich dazu den letzten verbliebenen Lander einsetzen müßte. Das würde bedeuten, daß wir das Team im Rover endgültig aufgäben.«

»Ja. Richtig.« Er konnte es immer noch nicht fassen, daß Wosnesenski Befehle verweigert hatte. Ausgerechnet Wosnesenski, der Gewissenhafteste der Gewissenhaften!

»Wenn Iwschenko bei euch wäre, könnte man die ganze Besatzung in zwei Fahrzeugen heraufholen«, konstatierte Li Dinge, die ihnen beiden längst klar waren. »Aber da er mit Wosnesenski unterwegs ist, kann ich nicht den Befehl geben, die Kuppel zu evakuieren.«

»Ja, Sir. Ich verstehe«, sagte Zieman.

»Das heißt, Sie haben die Aufsicht über die Besatzung in der Kuppel, bis Wosnesenski zurückkommt.«

Zieman nickte wortlos und dachte: Wenn er zurückkommt.

Wenn.


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