SOL 40 SONNENUNTERGANG

Das Thermometer in dem Instrumentenblock, der in Jamies linken Ärmel eingesetzt war, zeigte vierzig Grad unter Null.

Er hätte beinahe gelächelt. Das ist die einzige Temperatur, bei der sich die Celsius- und die Fahrenheit-Skala treffen: Vierzig Grad unter Null sind vierzig Grad unter Null, in beiden Systemen. Kalt, ganz gleich, wie man es betrachtet.

Die Sonne hatte soeben den zerklüfteten Horizont berührt und warf ungeheuer lange Schatten über den unebenen, steinigen Boden. Jamie sah seinen eigenen, unglaublich langgezogenen Schatten, der sich weit nach vorn erstreckte. Aber auch nicht annähernd weit genug.

Er hatte sich um den gewellten Sand herum vorwärtsgekämpft, der verriet, wo der im Staub begrabene Krater lag. Als er sich umdrehte, um einen Blick auf die winzige, leblose Sonne zu werfen, sah er auch seinen eigenen, zu zwei Dritteln im roten Staub versunkenen Rover. Er war enttäuschend nahe. Jamie schleppte sich seit über einer Stunde um den Rand des Kraters herum, aber es kam ihm so vor, als hätte er den Marsch zu dem zweiten Fahrzeug gerade erst angetreten.

Das Kabel zog sich von dem Anschluß an seinem Geschirr nach hinten zu dem teilweise begrabenen Rover. Meistenteils lag es auf der gekräuselten Sandfläche. Je weiter ich um den Krater herumgehe, desto mehr Kabel wird auf dem Sand liegen, sagte sich Jamie. Das sollte eigentlich keine Probleme geben. Ich glaube nicht, daß es welche geben wird. Dürfte überhaupt kein Problem sein. Das Kabel wird nicht in dem verdammten Sand versinken. Und selbst wenn, können wir es mit der Winde spannen, falls ich zu Wosnesenskis Rover komme.

Nicht falls. Wenn. Wenn.

Er ging weiter. Selbst wenn er sich umdrehte, bewegten sich seine Beine weiterhin auf sein Ziel zu: diesen zweiten Rover, in dem Wosnesenski, Reed und Iwschenko auf ihn warteten.

Es wurde dunkel. Und kalt. Jamie Beine fühlten sich gummiartig und schwach an. Kälte saugt einem die Kraft aus. Ich muß weitergehen.

Er marschierte in dem langsamen, stetigen Tempo, das er von seinem Großvater gelernt hatte, als sie oben in den Bergen Maultierhirsche gejagt hatten. »Sieh einfach nur zu, daß du den richtigen Rhythmus findest«, hatte Al immer gesagt,

»dann kannst du den ganzen verdammten Tag lang gehen, kein Problem. Liegt alles am Rhythmus. Immer mit der Ruhe.

Keine Eile. Der Hirsch läuft nicht sehr weit. Du kannst ihm nachgehen, bis er erschöpft ist und dir praktisch vor die Füße fällt.«

Ja. Richtig, Großvater. Wenn man gesund ist. Wenn man all seine Vitamine gekriegt hat. Wenn man richtige Luft atmet, und wenn es draußen nicht vierzig Grad unter Null sind und das Thermometer rasch noch weiter sinkt.

Es wurde so dunkel, daß er den Boden nicht mehr sehen konnte. Jamie langte nach oben und schaltete die Lampe an seinem Helm ein. Ich will nicht aus Versehen in den Sand treten. Wie es Golfspielern wohl hier auf dem Mars gefallen würde? Zwei Kilometer breite Sandmulden. Keine Wassergräben.

Vielleicht sollten wir nächstesmal einen Satz Schläger mitbringen. Könnte einen richtigen Touristenboom auslösen.


Machen Sie Urlaub auf dem Mars. Besteigen Sie den höchsten Berg des Sonnensystems. Trinken Sie ein Glas Mars-Perrier. Setzen Sie Ihren Stiefelabdruck dorthin, wohin noch niemand den Fuß gesetzt hat.

»Jamie! Haben Sie mich gehört?«

Wosnesenskis gebieterische Stimme riß Jamie ruckartig aus seinen Träumereien. »Was? Was haben Sie gesagt?«

»Ich habe gefragt, ob Sie Ihre Helmlampe eingeschaltet haben. Es wird ziemlich dunkel.«

»Ja, sie ist an.«

»Sehen Sie den Boden gut genug, um den Weg zu finden?«

Jamie schaute nach unten. Er stapfte auf dem festen, steinigen Boden dahin. Ein Dutzend Schritte rechts von ihm begann der gewellte Sand.

»Ja. Die Sicht ist okay.«

»Gut. Gut.«

Dann erkannte Jamie, was Wosnesenskis Frage bedeutete.

Der Russe konnte Jamies Licht nicht sehen. Er war immer noch zu weit vom Rover entfernt. Es lagen noch einige Kilometer vor ihm.

Sie schwatzten alle miteinander, Jamie, die beiden Kosmonauten, sogar Connors und die Frauen. Jamie hörte die Anspannung in ihren Stimmen, selbst wenn sie zu scherzen und zu flachsen versuchten. Sie haben Angst. Sie haben alle Angst.

Und ich auch.

Es war jetzt stockfinster. Jamie hörte das Seufzen der leichte Brise des Mars. Sanfte Welt, sagte er sich. Wenn du nur nicht so verdammt kalt wärst. Warum hast du sie so kalt gemacht, Menschenmacher? Oder warum hast du uns so schwach gemacht? Hat Coyote dich mit irgendeinem Trick dazu verleitet?


»Sprechen Sie«, sagte Wosnesenski. »Sagen Sie etwas, Jamie.

Lassen Sie uns wissen, daß es Ihnen gut geht.«

»Es wird allmählich… verflucht kalt… zu kalt… um viel zu reden«, keuchte er. Seine Beine fühlten sich steif an und schmerzten.

»Stellen Sie die Heizung in Ihrem Anzug auf maximale Leistung.«

»Schon geschehen.«

»Schauen Sie noch einmal nach.«

»Okay.«

Das Heizungsrädchen war bereits bis zum Anschlag aufgedreht, wie Jamie wußte. Er versuchte erneut, es zu bewegen, aber es ließ sich nicht weiterdrehen. Schade, daß wir keine Thermostatregulierung für den Planeten haben. Die würde verhindern, daß die Temperatur noch tiefer sinkt. Wäre doch nett.

Er stapfte weiter, setzte einen Fuß vor den anderen. Schritt für Schritt. Ich kann jeden Maultierhirsch in diesen Bergen einholen. Ich kann um den ganzen Mars herumgehen, wenn es sein muß. Zeig mir wie, Großvater. Führe mich.

Jamie erinnerte sich an den Fetisch, der in der Tasche seines Overalls steckte. Er wünschte, er könnte den Arm freibekommen, in die Tasche greifen und den Fetisch in die Hand nehmen. Er wußte, daß seine Macht ihn wärmen, ihm Kraft schenken würde.

Das Kabel straffte sich auf einmal und riß Jamie von den Fü

ßen. Er fiel nach hinten und schlug mit einem dumpfen Laut auf den Boden.

»Heilige Scheiße«, murmelte er.

»Was?«


»Was ist? Ist etwas passiert?«

Wosnesenski im einen Ohr, Joanna im anderen.

»Das Kabel hängt fest«, sagte Jamie. Er rappelte sich auf die Knie, zog an dem Kabel. »Herrje, fühlt sich an, als ob…« – er mußte nach Luft schnappen – »als ob der Motor der Winde eingefroren wäre.«

»Das darf eigentlich nicht passieren«, erklärte Wosnesenski.

»Ganz recht. Sie sagen es.« Jamie zog wieder an dem Kabel, legte sein ganzes Gewicht hinein. Es gab ein wenig nach, blieb wieder einen Moment lang hängen und kam dann plötzlich frei. Er taumelte auf groteske Weise zurück, ruderte mit den Armen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, und stieß einen Schwall von Obszönitäten aus, die er seit seiner Studentenzeit nicht mehr in den Mund genommen hatte.

»Jamie!« Joannas Stimme war schrill vor Angst. Es war fast ein Schrei.

»Okay… alles in Ordnung«, keuchte er. »Ich hab’s wieder freigekriegt.«

»Der Motor der Winde beheizt sich selbst«, sagte Wosnesenski, als wollte er beweisen, daß das, was geschehen war, nicht geschehen war.

»Stimmt«, sagte Jamie. Er schaute auf den Boden, um sich zu orientieren, und setzte sich dann wieder in Bewegung, wobei er darauf achtete, daß der Sand ein Dutzend Schritte zu seiner Rechten blieb.

Sicher, der Motor beheizt sich selbst. Bis zu welcher Temperatur? Fünfzig Grad minus? Hundertfünfzig? Jamie wollte nicht noch einmal auf sein Thermometer schauen. Die Zahlen würden bedeutungslos sein. Es war kalt. Er fühlte, wie seine Lebenswärme in die dünne, säuselnde Nachtluft entwich. Ihm war eiskalt. Er fror. Erfror.

Seine Füße schienen nicht mehr zu ihm zu gehören. Sie waren eiskalt und taub. Er stapfte weiter; zumindest gehorchten seine Beine noch den verbissenen Kommandos seines Gehirns.

Er lehnte sich ins Geschirr, schleifte das Kabel hinter sich her.

Wenn der Windenmotor kaputtgeht, sitze ich wirklich in der Patsche. Das verdammte Kabel wiegt zuviel, als daß ich es ohne die Hilfe eines Motors die ganze Strecke schleppen könnte.

Er hörte ein Summen in seinem Kopfhörer, fast rhythmisch, monoton.

»Was… ist das?«

»›Das Lied der Wolgaschiffer‹«, antwortete Wosnesenskis Stimme feierlich aus dem Dunkel. »Es ist seit undenklichen Zeiten von Menschen gesungen worden, die Frachtkähne auf der Wolga stromaufwärts gezogen haben. Ich dachte, es würde Ihnen helfen.«

»Klingt wie… ein Grabgesang.«

Wosnesenski hörte auf zu summen. »Wenn Sie meine Musik nicht zu schätzen wissen, dann reden Sie mit mir. Ich will Ihre Stimme hören.«

»Nicht genug Luft zum Reden.«

»Atmen Sie durch! Ich will wissen, daß Sie bei Bewußtsein sind und vorankommen.«

»Sie können mich doch keuchen hören, oder?«

»Ja, aber ich – Moment! Ich sehe Ihr Licht! Jamie, Sie sind so nah, daß ich das Licht Ihrer Helmlampe sehen kann! Wo ist das Fernglas? Ja! Es ist Ihre Helmlampe! Sie kommen näher!«


Wosnesenski redete dummes Zeug. Was für ein Licht sollte er da draußen auf diesem eisigen, leeren Hang wohl sonst sehen?

»Gehen Sie weiter, Jamie.« Tony Reeds Stimme. »Bleiben Sie jetzt nicht stehen.«

»Bleiben Sie jetzt nicht stehen«, wiederholte Wosnesenski noch eindringlicher.

»Was wollen Sie… denn machen… wenn ich stehenbleibe?

Kommen Sie… dann raus… und holen mich?«

»Wenn meine beiden Beine in Ordnung wären«, sagte Iwschenko, »würde ich mit Freuden herauskommen, um Sie zu empfangen.«

Jamie schüttelte den Kopf, obwohl er wußte, daß sie es nicht sehen konnten; sie hätten es nicht einmal sehen können, wenn sie im hellen, warmen Licht des Mittags neben ihm gestanden hätten. Iwschenko kann nicht laufen, und Mikhail kann nicht einmal aufstehen, soweit ich gehört habe.

»Jamie«, rief Joanna, »sprich mit mir, bitte. Erzähl mir von deiner Heimat in New Mexico. Ich bin noch nie dort gewesen.«

»Nicht meine Heimat. Ich habe keine… Heimat. Nicht in New Mexico… nirgends. Außer hier. Vielleicht hier. Der Mars ist meine Heimat.«

»Dann sag mir, was wir tun werden, wenn wir zur Erde zurückkehren«, sagte sie.

»Ich erzähle dir von Coyote.«

»Coyote?«

»Der Listenreiche. Macht immer Ärger.«

»Ja«, sagte Joanna. »Erzähl.«

»Kennst du… die Muster der Sterne? Die Sternbilder?«


Keine Antwort. Jamie stapfte keuchend weiter, bis er Joanna in seinem Kopfhörer hörte. »Sprich weiter.«

»Der Erste Mann und die Erste Frau… setzten die Sterne an ihre Plätze«, sagte er. »Sie hatten… alle Sterne… in einem Tuch. Wollten sie… an die richtigen Stellen… am Himmel setzen. Harmonie ist schön. Ordnung und… Harmonie.«

Das Kabel klemmte wieder; Jamie mußte sich mehr anstrengen, um es zu ziehen. Er legte sich mit seinem ganzen Gewicht ins Geschirr.

»Was ist dann passiert?« fragte Joanna.

»Der alte Coyote kam vorbei… sah, was sie machten. Er schnappte sich… das Tuch… wirbelte es herum… und herum… und schleuderte dann das ganze Tuch… mit all den Sternen… in den Himmel. So ist… die Milchstraße… entstanden.«

»Oh!« sagte Joanna.

»Coyote hat… die Harmonie des Himmels… zerstört. Er bringt immer… alles durcheinander.«

»Ein kosmologischer Mythos«, sagte Wosnesenski.

»Sozusagen.« Jamie fragte sich, mit welchen Tricks Coyote den Menschenmacher dazu gebracht hatte, den Mars so kalt zu machen. So unglaublich und gräßlich kalt. Dann erkannte er, daß Coyote ihn selbst und sie alle mit seinen Tricks dazu verleitet hatte, zu dieser toten Welt zu kommen. Dieser Welt des Todes.

Aber sie ist nicht tot, sagte eine Stimme in seinem Innern. Du hast hier Leben gefunden.

Jamie zwinkerte sich den Schweiß aus den Augen. Seltsam, daß ich Leben auf einer Welt gefunden habe, auf der wir alle sterben werden, dachte er. Seltsam, daß man schwitzt, während man sich zu Tode friert.

Er taumelte noch ein paar Schritte vorwärts und fiel dann auf die Knie. Seine Beine wollten ihn nicht mehr weitertragen. Seine Arme fühlten sich an, als wären sie in Eis gegossen. Weit in der Ferne konnte er die winzigen Scheinwerfer von Wosnesenskis Rover sehen. Nah genug, um sie zu sehen. Nah genug, um sie zu erreichen.

Jamie versuchte aufzustehen, aber er hatte nicht die Kraft dazu. Eiskalt, erfroren, taub. Er kroch auf Händen und Knien weiter, hörte die warnende Stimme seines ersten Missionsinstruktors: »Schon der kleinste Riß in Ihren Handschuhen, das winzigste Leck in einem Verschluß oder einem Gelenk wird Sie draußen auf dem Mars innerhalb von Sekunden umbringen.«

Völlig erschöpft ließ er sich der Länge nach auf den harten, felsigen Boden fallen. Mit einer letzten, gewaltigen Kraftanstrengung gelang es ihm, sich auf die Seite zu drehen, und er versuchte, sich in eine sitzende Position aufzurichten.

Er schaffte es nicht.

Jamie lag auf der Seite, halb von dem unförmigen Tornister und dem Geschirr gestützt, und schaute zu den kalten, erhabenen Sternen hinauf, die in der Dunkelheit funkelten. Er glaubte, Coyote dort oben zu sehen, gleich neben Orion, dem Jäger.

Coyote lachte.

»Tut mir leid«, keuchte Jamie. »Ich kann nicht… weiter. Ich bin am Ende…«

»Jamie!« kreischte Joanna. »Du mußt weitergehen! Du mußt!

Für mich! Für uns alle! Bitte!«


»Hab’s versucht…« Der Schmerz ließ nach. Sein ganzer Körper wurde taub, schwebte im einem Nichts, das ihn an das buddhistische Nirwana erinnerte.

Er hörte Joannas Schluchzen und das Gemurmel von Stimmen in seinem Kopfhörer.

»Hört zu…« sagte er. Seine Stimme klang selbst in seinen eigenen Ohren schwach und entrückt. »Sagt ihnen… es macht nichts. Macht nichts… daß ich gestorben bin. Daß wir alle sterben. Jeder muß sterben. Nicht wichtig. Wir haben soviel gelernt… und es gibt noch soviel… herauszufinden.«

»Du darfst nicht sterben, Jamie! Du darfst nicht!«

Er hatte keine Schmerzen. Er akzeptierte alles, was mit ihm geschah, bis in sein innerstes Wesen hinein, als hätte er immer an diesem Ort sein sollen. Er erinnerte sich daran, daß ihm sein Großvater von Häuptling Seattle erzählt hatte, der vor langer Zeit gesagt hatte, nicht die Erde gehöre dem Menschen, sondern der Mensch der Erde. Wir gehören auch dem Mars, erkannte Jamie. Jetzt jedenfalls. Jetzt gehören wir auch ihm.

Und der Sonne und all den Welten, all den Sternen. Deshalb wollen wir alles sehen, alles erforschen. Das ist unser Erbe.

Unser Geburtsrecht. Dafür lohnt es sich zu sterben.

Ich verstehe, sagte er stumm, und staunte über die Klarheit seiner Vision. Endlich weiß ich, wer ich bin.

Das gesamte gestirnte Universum starrte auf die kleine, zerbrechliche Gestalt eines Menschen herab, der hilflos und allein auf dem eisigen, windgepeitschten Hang einer alten Geröllawine auf dem Mars lag.

Aus weiter, weiter Ferne hörte er Stimmen, aber sie bedeuteten ihm nichts. Sie verklangen und wichen dem Schweigen der Ewigkeit.


Er verstand jetzt, daß der Menschenmacher und der Lebensnehmer ein und derselbe waren, nur zwei verschiedene Aspekte des einen und einzigen Schöpfers. Ich bin bereit, sagte Jamie stumm. Ich habe mein Bestes getan. Jetzt bin ich bereit für dich. Er hörte Coyote in der eisigen Dunkelheit der Nacht lachen.


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