TRANSIT STURMKELLER

Als sie die Hälfte der Strecke zum Mars zurückgelegt hatten, wurde die Sonne auf einmal tödlich.

Die Marsmission war in eine Phase geringer Sonnenaktivität gelegt worden. Trotzdem gab es nur eine minimale Chance, daß die Raumschiffe ihre menschliche Fracht neun Monate lang durch den interplanetaren Raum transportieren konnten, ohne in einen magnetischen Sturm zu geraten, der von einer Sonneneruption ausgelöst wurde.

Sowohl auf der Erde als auch in der unterirdischen Basis auf dem Mond saßen Solarmeteorologen in engen, kleinen Arbeitsräumen, die mit summenden Computern und Videomonitoren vollgestopft waren, und beobachteten die Sonne. Sie sahen, wie eine Reihe von Flecken – jeder einzelne größer als die Erde – auf der strahlenden Oberfläche der Sonne Gestalt annahmen. Ihre Instrumente registrierten schwache Emissionen im Radiofrequenzbereich und Ausbrüche weicher Röntgenstrahlung, die von der Gruppe der Sonnenflecken stammten.

Alles völlig normal.

Dann folgte die Eruption. Nichts Spektakuläres für das Auge. Nur ein kurzer Lichtblitz. Aber die ankommende Strahlung wuchs rasch und bedrohlich, ihre Intensität stieg innerhalb von ein paar Minuten auf das Hundertfache des Normalwerts, dann auf das Tausend- und Zehntausendfache. Ultraviolett- und Röntgensensoren an Bord der Überwachungssatelliten wurden überlastet. Ein starker Ausbruch von hochfrequentem Rauschen brutzelte in den Empfängern der Astronomen überall auf der Erde und setzte das Radioteleskop in der Mondbasis außer Betrieb. Es war eine völlig normale Sonneneruption, nicht stärker als hundert Milliarden gleichzeitig explodierende Wasserstoffbomben. Ihre Gesamtenergie betrug weniger als eine Viertelsekunde des normalen Energieaussto

ßes der Sonne.

Aber die Wolke subatomarer Partikel, die sie ins All blies, konnte ungeschützte Menschen innerhalb von Sekunden töten.

Die Solarmeteorologen setzten augenblicklich eine Warnung an die Marsschiffe ab, die über siebzig Millionen Kilometer von der Erde entfernt waren. Die elektromagnetische Strahlung der Eruption, die ebenso wie die Radiosignale der Astronomen mit Lichtgeschwindigkeit unterwegs war, traf die Raumschiffe im selben Moment, als die Warnungen eintrafen.

Das Blöken der Alarmsirenen hallte durch beide Schiffe, scheuchte die Männer und Frauen auf, die gerade mit ihren Arbeiten beschäftigt waren, und riß die Schlafenden aus ihren Träumen. Binnen Sekunden wich der erste adrenalingetränkte Schock den Reaktionen, die den Marsteams im jahrelangen Training eingedrillt worden waren. Jeder Mann und jede Frau in den beiden Raumschiffen stürzte, sprintete, rannte zu den Strahlungsbunkern.

Die erste Welle elektromagnetischer Energie, die von der Eruption stammte, war nämlich nur der Vorläufer, der Lichtblitz, der den nahenden Sturm ankündigt. Ihm würde in ein paar Minuten oder vielleicht auch erst ein paar Stunden eine riesige, sich ausdehnende Wolke energiereicher Protonen und Elektronen folgen, Partikel, die die Hülle des Schiffes durchdringen und menschliches Fleisch innerhalb von Sekunden braten konnten.


Im erdnahen Orbit schützt das Magnetfeld der Erde die Astronauten vor den Partikeln der Sonneneruptionen. Es lenkt die von der Sonne weggeschleuderten energiereichen Protonen und Elektronen ab und pumpt sie schließlich am magnetischen Nordpol und Südpol in die Atmosphäre. Nach einer großen Sonneneruption können spektakuläre Polarlichter mehrere Nächte hintereinander den Himmel in ein Farbenmeer tauchen. Das geomagnetische Feld wird von dem Partikelsturm geprügelt und verbeult; tagelang vibriert es, jaulend wie Banjosaiten. Funksendungen werden verstümmelt. Selbst unterirdische Telefonverbindungen können gestört werden.

Auf der Erde selbst absorbiert die Atmosphäre alle Partikel, die das Magnetfeld durchdringen, so daß auch die energiereichste Sonneneruption das Leben auf der Oberfläche des Planeten nicht gefährdet. Auf dem luftlosen Mond mit seinem kaum vorhandenen Magnetfeld gibt es dagegen nur einen Schutz: sich unter die Oberfläche zurückzuziehen und dort zu bleiben, bis der Sturm vorbei ist.

Im interplanetaren Raum existieren keine anderen Schutzvorrichtungen gegen einen Magnetsturm als diejenigen, die ein Raumschiff mit sich führt.

»Kein Grund zur Panik«, sagte Pete Connors. »Wir wußten alle, daß wir’s nicht bis zum Mars schaffen würden, ohne eine Eruption zu erwischen.« Er bemühte sich, seiner Stimme einen beruhigenden Klang zu geben, aber sein Gesicht war sehr ernst, wie das eines Arztes, der mit seinem Patienten eine Operation erörtert.

»Ist doch wohl eher so, daß die Eruption uns erwischt«, verbesserte George O’Hara, der australische Geologe.


Die zwölf Männer und Frauen in der Mars 1 saßen eng zusammengedrängt auf den Bänken, die um die Wände des besonders abgeschirmten Strahlenschutzraums des Raumschiffs herumliefen. Alle nannten ihn den › Sturmkeller ‹. In diesem kleinen Abteil am hinteren Ende des Habitatmoduls boten die an der Außenhülle des Raumschiffs angebrachten unförmigen Treibstofftanks einen gewissen Schutz vor der tödlichen Strahlung, die von einer Sonneneruption erzeugt wurde.

Die halb geleerten Treibstofftanks der beiden Marsschiffe absorbierten einen Teil der hochenergetischen Partikel, die von der Sonne kamen. Zusätzlich säumten dünne Endlosfasern supraleitenden Drahts die Sturmkeller der Schiffe. Die erste Person, die den Strahlenschutzraum erreichte – Pete Connors, wie sich herausstellte – drückte auf den Schalter an der Wand neben der Luke, um die Abschirmvorrichtung zu aktivieren.

Der supraleitende Draht erzeugte ein starkes Magnetfeld um den Sturmkeller herum, das ausreichte, um die Elektronen in der Partikelwolke abzulenken, die an dem Raumschiff vorbeizog. Die eigentliche Gefahr ging von den schwereren Protonen aus, und um diese abzulenken, war das Magnetfeld auch nicht annähernd stark genug.

Zu den Schutzvorrichtungen des Schiffes gehörte daher auch eine Reihe von Elektronenkanonen, welche die äußere Hülle des Raumschiffs mit mehreren Millionen Volt aufluden. Theoretisch sollten die herannahenden Protonen durch diese positive Megavolt-Ladung von dem Raumschiff abgelenkt werden, während das Magnetfeld des Schiffes die Elektronen daran hindern würde, die Hülle zu erreichen und die positive Ladung zu neutralisieren.


Kleine Versionen des Systems waren in Satelliten getestet worden, die man in eine Umlaufbahn um die Sonne gebracht hatte. Unbemannten Satelliten.

»Wie lange müssen wir denn hier drin bleiben?« fragte Ilona Malater. Sie saß zwischen Tony Reed und dem griechischen Biologen des Ersatzteams, Dennis Xenophanes. Ihre langen Finger umklammerten den Rand der Bank so fest, daß ihre Knöchel weiß waren.

»Zwölf Stunden oder mehr«, antwortete Ollie Zieman, der amerikanische Astronaut, Connors’ Ersatzmann. »Vielleicht ein paar Tage.«

»Mein Gott!«

»Nicht so schlimm«, erwiderte Zieman beinahe jovial. »Der Strahlungspegel hier drin ist praktisch normal.«

Der Schutzraum wirkte schon jetzt überfüllt; in der Luft lag der Geruch von Angst. Jamie lehnte sich mit dem Rücken ans Schott und fragte sich, ob das Magnetfeld, das von den supraleitenden Drähten nur ein paar Zentimeter von seinem Fleisch entfernt erzeugt wurde, wirklich keine Auswirkungen auf ihre Körper hatte. Den Konstrukteuren des Systems zufolge war das Feld so geformt, daß es den Sturmkeller nicht berührte; das Feld erstreckte sich außen in alle Richtungen, aber der Schutzraum selbst war wie eine Blase in seiner Mitte.

Wosnesenski und sein Ersatzmann, Dimitri Iwschenko, standen vor der Kommunikationskonsole, die in das vordere Schott des Schutzraums neben der Luke eingebaut war. Mikhail hatte sich einen Kopfhörer über die lockigen Haare geklemmt.

»Mit Funkverbindungen ist es schwierig«, verkündete Wosnesenski laut, damit jeder es hörte, obwohl er ihnen weiterhin den Rücken zukehrte. »Wir werden das Lasersystem benutzen.«

Ein magnetischer Sturm konnte Funkwellen stören, wie Jamie wußte, aber den Lichtstrahl eines Lasers würde er nicht beeinträchtigen. Obwohl sie für solche Notfälle trainiert hatten, spürte er eine Enge in seiner Brust – Nervosität. Es gibt eine quasi unendliche Anzahl subatomarer Partikel da drau

ßen, die es kaum erwarten können, hier herein zu kommen und uns alle zwölf umzubringen, dachte er. Wie eine Wolke von Geistern der Toten, die raunend draußen an der Tür kratzen.

»Auf der Mars 2 ist alles in Ordnung«, erklärte Wosnesenski.

»Alle im Sturmkeller, keine Probleme.«

Sie haben einen Mann mehr, dachte Jamie. Mit Dr. Li sind es dreizehn, die sich in den Schutzraum zwängen müssen.

Pete Connors stand auf und trat zwischen Wosnesenski und den anderen Russen. »Arbeiten alle Systeme des Schiffes?«

fragte er laut.

»Ja, ja.« Wosnesenski zeigte auf die Tafeln mit den Lämpchen, die den Zustand des restlichen Schiffes anzeigten. Die meisten Lichter waren grün. »Die Geräte sind so konstruiert, daß sie der Strahlung standhalten. Nur wir zerbrechlichen Geschöpfe aus Fleisch und Knochen brauchen Schutz.«

Ein richtiger Sonnenschein, der Mann, dachte Jamie.

Vierzehn Stunden später war der Strahlungspegel außerhalb des Schutzraums immer noch nicht merklich gesunken. Jamie saß in sich zusammengesunken auf der Bank an der Wand des Abteils und hatte eine Weile gedöst. Joanna und die polnische Biochemikerin – Ilonas Ersatzfrau – hatten genug Platz auf der Bank gegenüber gefunden, um sich zusammenzukuscheln und zu schlafen. In die Wände über den Bänken waren herausklappbare Liegen eingebaut, aber niemand hatte sich die Mühe gemacht, sie herunterzulassen.

Jamie schaute sich mit verschwommenem Blick um und sah, daß alle vier Piloten aufrecht in der Nähe der Luke und der Kommunikationskonsole saßen. Die Lichter am Weihnachtsbaum der Überwachungstafeln waren immer noch größtenteils grün, obwohl es mehr rote gab als zuvor. Am anderen Ende des Abteils, wo Speisen- und Getränkespender in die Rückwand eingebaut waren, schwatzte Tony Reed freundschaftlich mit Ilona und dem australischen Geologen, O’Hara.

Jamie rappelte sich auf. Sein Körper fühlte sich steif an, und er hatte Watte im Kopf. Der rothaarige, grobknochige O’Hara war so groß, daß er sich ein wenig bücken mußte, wenn er nicht genau in der Mitte des Abteils stand. Sonst stieß er mit dem Kopf an die gekrümmten Deckenpaneele. Er machte einen ganz netten Eindruck. Jamie hatte bei ihm keine Spur von Eifersucht angesichts der Tatsache entdeckt, daß er an Bord des Schiffes bleiben mußte, während Jamie auf dem Mars landen würde.

»…in Coober Pedy leben die Bergarbeiter fast das ganze Jahr unter der Erde«, sagte O’Hara gerade. »Es ist so höllisch heiß da, daß man nicht auf der Oberfläche leben kann. Deshalb haben sie eine ganze Stadt in die Schächte und Stollen gebaut.

Mit Swimming Pools und allem.«

Ilona war nicht beeindruckt. »Wie lange müssen wir noch hier drin bleiben?«

»Ich weiß gar nicht, weshalb du so wild darauf bist, hier herauszukommen«, sagte Tony. »Das ist momentan der beste Aufenthaltsort im ganzen Sonnensystem.«


»Bis auf die Erde«, sagte Jamie.

»Tja, allerdings«, gab Reed zu. »Aber wir können nicht alles haben, stimmt’s?«

»Erinnert mich dran, wie ich mal in ‘nem Flugzeug festsaß«, sagte O’Hara und grinste auf Ilona herunter. »Vor ein paar Jahren haben sie uns auf dem Flughafen von Washington kommentarlos über die Gangway geschleust und fünf Stunden in der Maschine warten lassen, bevor wir starten konnten: irgendein mechanisches Problem, das sie erst mal in aller Ruhe beseitigt haben. Wir haben den ganzen Fusel an Bord ausgetrunken, und als der alle war, hatten wir uns immer noch keinen Zentimeter bewegt. Als wir dann endlich gestartet sind, war die Maschine wirklich das reinste Irrenhaus.«

»Ich komme mir auch wie im Irrenhaus vor«, sagte Ilona leise. »Wie in der Gummizelle.«

»Immer mit der Ruhe«, sagte Tony in seiner besten britischen Kopfhoch-Manier. Aber für Jamie wirkte er angespannt und verkrampft, und sein Lächeln war gequält.

»Wie lange dauert es noch?« ertönte Joannas schlaftrunkene Stimme hinter Jamie.

Es war eine rhetorische Frage. Sie drängte sich an ihnen vorbei und ging aufs Klo.

»Schon mal drüber nachgedacht, warum sie das Pissoir immer neben ‘s Waschbecken bauen?« fragte O’Hara niemanden im besonderen.

»Wegen der Rohrleitungen«, sagte Jamie.

»Oder wegen der Wiederaufbereitung?« schlug Reed vor.

Jamie ging durch das ganze Abteil, um sich die Beine zu vertreten und seinen Kreislauf in Gang zu bekommen, aber auch, um zu den Piloten bei der Kommunikationskonsole und den Gerätemonitoren zu gelangen. Katrin Diels, die deutsche Physikerin, hatte sich einen Kopfhörer auf die blonden Locken gesetzt und war in ein ernstes Gespräch vertieft.

»Wann hat die Intensität den Höchstwert erreicht?« fragte sie in das winzige Mikrofon vor ihren Lippen.

Jamie lächelte beinahe über den Feuereifer auf ihrem stupsnasigen, sommersprossigen Gesicht. Sie war zierlich gebaut und so butterblond und blauäugig wie die Menschen auf einem Reiseplakat, das für das Oktoberfest warb. Die Piloten hatten ihr Platz gemacht, und sie saß am Ende der Bank, wo sie die Kommunikationskonsole bedienen konnte.

Sie riß sich den Kopfhörer herunter und sprang auf.

»Alle mal herhören, ich habe gute Neuigkeiten!« rief sie.

»Das Mondobservatorium meldet, daß die Intensität des Sturms dort vor fast einer Stunde ihren Höchstwert erreicht hat.«

Lächelnde Gesichter. Nickende Köpfe. Erfreutes Gemurmel.

»Den Magnetosphärenobservatorien in der Erdumlaufbahn zufolge müßte der Sturm in zwölf bis sechzehn Stunden vor

über sein«, fuhr Diels fort.

Stöhnen. »Noch sechzehn Stunden hier drin?«

Tony Reed hob die Arme, um sie zum Schweigen zu bringen.

»Jetzt beklagt euch nicht. Solange die Toilette funktioniert, ist doch alles in bester Ordnung.«

Ilona fand das nicht komisch. »Noch sechzehn Stunden.

Puh!«

»Versuch dich zu entspannen«, drängte Reed. »Schlaf ein bißchen.«

»Hätten Sie Lust auf eine Partie Bridge?« fragte der griechische Biologe.


»Nicht mit dir«, fauchte O’Hara. »Das wäre wie ein Wettschwimmen mit einem Hai.«

Xenophanes lachte, aber Jamie fand, daß es angestrengt klang.

Wosnesenski sagte: »Wir sollten nicht vierzehn Stunden lang müßig herumsitzen.«

Ilonas Lippen kräuselten sich schon, als sie zu einer höhnischen Antwort ansetzte, aber Reed kam ihr schnell zuvor.

»Was würden Sie vorschlagen, Mikhail Andrejewitsch?«

fragte der Engländer.

»Einen Arbeiterrat«, antwortete der Russe. »Wir sind alle hier. Niemand hat irgendwelche dringenden Aufgaben zu erledigen. Dies ist der richtige Zeitpunkt für eine Selbstanalyse-Sitzung.«

»Eine Art Quality Circle wie bei den Japanern, der Vorschläge zur Produktivitäts- und Qualitätssteigerung erarbeitet?«

fragte Tad Sliwa, der Ersatz-Biochemiker.

»Eher ein Selbstkritik-Zirkel«, sagte Ilona. »Wie bei Gefangenen in Sibirien.«

Wosnesenskis fleischiges Gesicht rötete sich ein wenig, aber er erwiderte nichts darauf. Der hagere Iwschenko, der mit seinem schmalen, dunkelhäutigen Gesicht auf fast levantinische Weise gut aussah, sagte: »Selbstanalyse kann eine sehr nützliche Methode zur Untersuchung zwischenmenschlicher Probleme sein.«

Es gab ein paar Einwände, aber Wosnesenski war fest entschlossen, und keiner der anderen hatte einen echten Alternativvorschlag auf Lager. Daher nahmen die zwölf Männer und Frauen auf den Bänken einander gegenüber Platz.

»Wie fangen wir an?« fragte Ollie Zieman.


»Ich werde anfangen«, sagte Wosnesenski. »Es war meine Idee, also bin ich der erste Freiwillige.«

»Dann schießen Sie mal los«, sagte Reed, der dem Russen auf der anderen Seite des Durchgangs gegenübersaß.

Wosnesenski schaute kurz zu Ilona und ließ den Blick dann über die Männer und Frauen auf der Bank gegenüber schweifen. »Ich habe das Gefühl, daß einige von Ihnen Ressentiments haben. Ressentiments dagegen, daß ich das Kommando führe.

Vielleicht auch dagegen, daß ein Russe das Kommando führt.«

»Das ist doch ziemlich natürlich, oder?« fragte Katrin Diels.

»Gegen jede Autoritätsfigur gibt es zwangsläufig Ressentiments.«

Das setzte die Diskussion in Gang, und sie ging hin und her.

Jamie schaute schweigend zu. Er bemerkte, daß Ilona wie eine Katze an der Wand lehnte; ihr Blick wanderte von einem Sprecher zum nächsten, und ihre Lippen waren ein wenig gekräuselt, fast so, als ob sie lächelte. Aber sie sagte kein Wort.

Es war wie bei den Sitzungen des Studentenausschusses, dachte Jamie und erinnerte sich an seine Zeit an der Uni. Diejenigen, die am meisten redeten, hatten ohnehin schon führende Positionen inne. Diejenigen, die am dringendsten hätten reden müssen, blieben stumm und fraßen ihren Ärger in sich hinein.

Nachdem fast eine Stunde vergangen war, hörte Jamie zu seiner Überraschung, wie O’Hara sagte: »Also, wenn wir hier schon unsere Seelen und alles bloßlegen – mir gefällt der Gedanke nicht besonders, daß ich während unseres gesamten Marsaufenthalts im Orbit hocken werde, während mein geschätzter Kollege hier«, er reckte einen Daumen in Jamies Richtung, »die ganzen sieben Wochen unten auf der Oberfläche verbringen darf. Das finde ich nicht fair.«

»Der Meinung bin ich auch«, hörte Jamie sich sagen. »Es ist nicht fair.« Aber, fügte er stumm hinzu, so steht es nun mal im Missionsplan, und so wird es sein.

O’Haras Beschwerde führte zu einer weiteren einstündigen Debatte darüber, weshalb die Mission auf diese Weise geplant worden war und ob sie sich wohl an Dr. Li wenden könnten, um das Verfahren zu ändern, so daß die Ersatzteams ebenfalls einige Zeit auf dem Mars verbringen konnten.

»Es wäre zwecklos«, erklärte Wosnesenski rundheraus. »All diese Verfahren sind jahrelang sehr gründlich untersucht worden. Das eine Team bleibt unten auf dem Mars, das Ersatzteam bleibt im Orbit. Daran wird sich nichts ändern. Soviel steht fest.«

»Ich bin auch Georges Meinung«, grummelte Ollie Zieman.

»Es ist nicht fair.«

»Aber effizienter«, konterte Wosnesenski mit der kategorischen Endgültigkeit eines Mannes, der die Diskussion für beendet hielt.

»Warum muß der Leiter jedes Teams ein Russe sein?« fragte Ilona. Ihre kehlige Stimme hatte eine säuselnden, beinahe schläfrigen Klang.

Alle drehten sich zu ihr um.

»Ich meine, bei dieser Mission haben wir Männer und Frauen jeder Nationalität an Bord. Aber alle vier Teams werden von einem Russen geleitet. Noch dazu von einem russischen Mann.«


Einen langen Moment herrschte Stille. Jamie konnte das elektrische Summen der Geräte auf dem Schiff und das leise Zischen der Lüftung hören.

»Ich kann das beantworten«, sagte Pete Connors.

»Dann tun Sie’s bitte«, sagte Ilona.

Der schwarze Astronaut saß neben Wosnesenski, der wiederum den anderen Kosmonauten, Iwschenko, neben sich hatte.

Connors schenkte ihnen ein kleines Grinsen, dann wandte er sich wieder Ilona zu.

»Erstens« – er hob einen langen Finger – »muß der Kommandant jedes Teams ein Pilot sein. Ein Mann vom Militär, der es gewohnt ist, Befehle zu geben und dafür zu sorgen, daß sie befolgt werden. Der es gewohnt ist, Befehle von höherer Stelle entgegenzunehmen und sie auszuführen. Ohne Disziplin könnten wir alle ums Leben kommen. Wir sind hier nicht auf einem Wochenendausflug.«

»Sie haben gesagt, ein Mann«, unterbrach Katrin Diels.

»Weshalb keine Frau?«

Connors zuckte unbehaglich die Achseln. »Ich schätze mal, sie konnten keine Frau mit den erforderlichen Qualifikationen finden.«

Alle drei Frauen buhten ihn aus. Und die meisten Männer lachten.

Sobald sie sich beruhigt hatten, fuhr Connors fort: »Zweitens, die russische Föderation hat die Raketentriebwerke und die Lebenserhaltungssysteme für diese Expedition zur Verfügung gestellt. Russische Kosmonauten haben mehr Erfahrung im Raumflug als sonst jemand auf der Erde; sie unternehmen schon seit 1971 Langzeitmissionen an Bord ihrer Raumstationen, Herrgott noch mal!«


»Weil ihr Amerikaner euch mit der Einrichtung einer permanenten Raumstation fünfundzwanzig Jahre Zeit gelassen habt«, sagte Xenophanes etwas spöttisch.

»Ja, das ist wahr«, stimmte ihm Connors zu. »Als wir mit der Planung der Marsmission begonnen haben, hat sich die amerikanische Regierung damit einverstanden erklärt, daß die Teamleiter unter jenen Militärpiloten ausgesucht werden sollten, die die meiste Erfahrung im Raumflug hatten.«

»Und das hieß: Unter Russen«, sagte Xenophanes.

»So hat es sich ergeben.«

»Die Russen haben euch ausgetrickst, ehe das Programm überhaupt richtig angelaufen war«, schnaufte Sliwa. »Verhandlungsgeschick hatten sie ja schon immer genügend.«

»Ich glaube nicht, daß man sagen kann, Mikhail oder Dimitri seien hier, weil ein russischer Politiker sein amerikanisches Pendant überlistet hätte«, wandte Connors ein.

Sliwa zog die Schultern hoch. Wosnesenski funkelte den Polen an.

Iwschenko warf einen Blick auf seinen Landsmann, dann sagte er: »Die russische Föderation hat für dieses Privileg, die Teamleiter stellen zu dürfen, einige Opfer gebracht. Kein russischer Wissenschaftler ist für das Bodenteam ausgewählt worden, obwohl wir viele Männer – und Frauen – haben, die auf den Fachgebieten der Planetologie hoch qualifiziert sind.«

»Bei den Staaten ist es das gleiche«, fügte Connors hinzu.

»Wir haben Astronauten in allen vier Teams, aber keine Wissenschaftler in den Bodenteams, bis auf Jamie hier.«

Sie drehten sich alle zu Jamie um, der sich zwang, den Mund zu halten. Ich bin durch Zufall hier, sagte er sich. Das wissen sie alle. Und in den Staaten bin ich nur ein halber Amerikaner, wie man es auch betrachtet.

»Vielleicht sollten wir das Thema wechseln«, schlug Reed vor. »Diese Art von Diskussion bringt überhaupt nichts.«

Jamie war versucht, Reed um eine Erklärung zu bitten, wie er triebdämpfende Mittel in ihr Essen und Trinken schmuggeln konnte. Aber er überlegte es sich anders. Es hatte keinen Sinn, einen richtigen Streit vom Zaun zu brechen, sagte er sich.

Deshalb schwieg er, während die anderen einander anstarrten und offenbar kein neues Diskussionsthema finden konnten oder wollten.

»Also dann, vielleicht sollten wir ein bißchen schlafen«, sagte Reed.

Wosnesenski nickte eifrig. »Ja. Eine gute Idee. In etwa zehn Stunden müßten die Strahlungspegel wieder so niedrig sein, daß wir diesen Schutzraum verlassen können. Dann müssen wir die Schiffssysteme und unsere gesamte Ausrüstung gründlich überprüfen, um festzustellen, welchen Schaden der Sturm angerichtet hat, und ihn dann reparieren. Wir sollten jetzt wirklich schlafen.«

Es war ein Befehl, kein Vorschlag. Niemand widersprach, nicht einmal Ilona.


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