SOL 40 MORGEN

Genau wie er es erwartet – nein, gewußt – hatte, war eine Treppe in die steile Felswand gehauen, die zu der Stadt hoch oben in der riesigen Spalte führte.

Jamie stand im hellen, warmen Sonnenschein von New Mexico, obwohl der Himmel von einem zarten marsianischen Rosa war. Er schob das Visier seines Helms hoch, weil er wußte, daß er den Schutz seines Anzugs nicht mehr brauchte. Er kehrte heim, in seine wahre Heimat, wo sich zwei Welten begegneten und zu der Einheit und dem Gleichgewicht verschmolzen, die er unbewußt seit seiner Kindheit gesucht hatte.

Zum ersten Mal in seinem Leben hatte Jamie das Gefühl, im Einklang mit der Welt zu sein, mit seinen beiden Welten, mit allen Welten.

Er stieg die Stufen langsam hinauf. Es widerstrebte ihm beinahe, dem Glück und dem Frieden dieses Augenblicks ein Ende zu machen. Doch er wußte, daß oben die Angehörigen seines Volkes warteten, um ihn willkommen zu heißen. Wie ein bejahrter Priester der Alten feierlich und würdevoll die Tempelstufen erklomm, setzte Jamie seine gestiefelten Füße von einer Steinstufe auf die nächste. Er sah, daß die Stufen vor langer, langer Zeit in den lebenden Fels gehauen worden waren; ihre steinernen Trittflächen waren von zahllosen Generationen von Füßen geglättet und ausgetreten.

Der schützende Anzug löste sich Stück für Stück in Luft auf, während er emporstieg. Sein Helm verschwand als erstes, und er konnte die saubere, kühle Luft der wahren Welt in sich hineintrinken. Dann verschwanden seine Stiefel, das Rumpfstück, die Beine. Als er oben ankam, war er nackt und besaß nichts als den Bärenfetisch, den sein Großvater ihm vor Hunderten Millionen Kilometern gegeben hatte.

Schweiß rann ihm die Seiten und die Beine hinunter, lief ihm übers Gesicht. Die Luft war kühl, aber die Sonne wärmte ihn, erfüllte ihn mit ihrer lebensspendenden Energie.

Er näherte sich dem oberen Ende der Treppe. Er hörte das Seufzen der Brise, hörte, wie in vollem Blätterschmuck stehende Bäume dort oben ihn riefen. Er blickte auf den Fetisch in seiner Hand hinab, und der Bär lächelte ihm zu. Nur noch ein paar Schritte, mein Sohn, sagte die Stimme seines Großvaters.

Nur noch ein paar Schritte.

Jamie kam oben an. Die Stadt war da; er hatte es gewußt. Sie war prachtvoll. Senkrechte, saubere Wände aus neuen Adobeziegeln. Schicht um Schicht stiegen die Häuser zum höchsten Punkt der Spalte an, wo der überhängende Felsen sie wie der schützende Arm Gottes behütete.

»Es ist gut«, sagte Jamie. »Ya’aa’tey.«

Sein Großvater erschien vor ihm, jung und stark und nackt wie Jamie selbst. »Es ist gut«, sagte sein Großvater.

Alle Menschen strömten aus ihren Häusern und drängten sich auf den zentralen Platz, wo Jamie mit seinem Großvater stand. Sie lächelten, sangen und hatten Blumenkränze dabei, die sie Jamie um den Hals legten. Die Frauen waren schön, die Männer stark und gutaussehend.

Doch Jamie wandte sich an seinen Großvater. »Ich kann nicht bleiben. Die anderen – sie brauchen mich.«

»Ich weiß«, sagte der alte Mann. »Geh in Schönheit, mein Enkelsohn.«


Jamie schlug abrupt die Augen auf.

Der Traum war so lebhaft, so real gewesen. Er grub die Hände in die Taschen seines Overalls und tastete nach dem Fetisch darin, einem warmen, tröstenden Steinklumpen. Erst dann entspannte er sich in seiner Koje und machte sich für den neuen Tag bereit.

Ein dumpfer, verdrossener Schmerz, der ihm alle Kraft raubte, durchzog seinen ganzen Körper. Sein Schädel brummte, sein Pulsschlag pochte ihm in den Ohren wie eine Trommel, die langsam den Rhythmus des Todes schlug. Neben ihm stöhnte Connors leise in seinem unruhigen Schlaf; sein Atem pfiff ein wenig.

Leise schlüpfte Jamie aus seiner Koje. Seine Beine waren fast zu schwach, um ihn zu tragen. Eine ganze Weile hielt er sich am Rand von Joannas Koje fest und wußte nicht, ob er es schaffen würde, sich zwischen den Liegen durchzuzwängen und zum Waschraum zu gehen. Joanna hatte sich wie ein Fötus zusammengerollt. Ilona lag mit dem Gesicht nach unten und rührte sich nicht. Einen Moment lang befürchtete Jamie, sie könnte tot sein, aber dann sah er den langsamen Rhythmus ihres Atems.

Er schob sich zwischen den Kojen hindurch und hielt sich auf dem Weg zum Waschraum an den Griffen fest, die in die Schotts eingelassen waren. Aus dem polierten Metallspiegel über dem winzigen Waschbecken starrte ihm sein Gesicht entgegen – ausgezehrt, unrasiert, hohläugig. Mit der übertriebenen Sorgfalt eines Betrunkenen oder eines sehr alten Mannes wusch Jamie sich langsam das Gesicht und die Hände. Als er sich die Zähne putzte, war die Zahnbürste hinterher blutig. Er hatte das Gefühl, daß die Zähne nur noch lose im Zahnfleisch steckten. Er zog den Nachtoverall aus und schlüpfte in den Tagesoverall. Sie unterschieden sich nicht mehr sonderlich voneinander, stellte er fest. Beide waren zerknittert und stanken.

Die anderen erwachten erst, als er sich ein Glas Orangensaft aus Konzentrat gemixt und einen Becher dampfenden Kaffee gemacht hatte. Sie standen langsam auf und sahen ebenso erschöpft und von Schmerzen gebeutelt aus, wie Jamie sich fühlte. Hohlwangige Gesichter, rote Augen, zitternde Hände, Beine, die sie fast nicht mehr trugen.

Sie sprachen kaum ein Dutzend Worte miteinander. Gemurmel. Grunzlaute. Seufzer, die in keuchendes, mühsames Atmen übergingen.

Jamie schlüpfte mit dem Kaffeebecher in der Hand an ihnen vorbei und zwang sich, ins Cockpit zu gehen. Er ließ sich auf den rechten Sitz fallen, schaltete die Kommunikationsanlage ein und rief die Kuppel.

Paul Abells Gesicht erschien auf dem Bildschirm. Er lächelte

– matt, aber immerhin. Seine Wangen und sein Kinn sahen frisch rasiert aus und waren ein bißchen gerötet. Seine vorquellenden Augen waren klarer, als Jamie sie in Erinnerung hatte.

»Guten Morgen!« Abell war beinahe fröhlich.

»Wie geht es Ihnen?« Jamies Stimme war ein schnarrendes Krächzen.

»Yangs Vitamindosen scheinen zu helfen«, sagte Abell munter. »Ich habe mich mal ordentlich ausgeschlafen. Hab mich schon seit Tagen nicht mehr so gut gefühlt wie heute morgen.

Noch nicht wieder hundertprozentig, aber schon besser.«

»Das ist gut.«


Abell vermied es, Jamie zu fragen, wie es ihm ging. Er konnte es sehen. »Schon was von den Russkis gehört?«

»Von wem?«

»Mikhail und Iwschenko. Sie müßten mittlerweile fast am Rand des Canyons sein.«

»Nein. Noch kein Kontakt bisher.«

»Heute vormittag, bestimmt«, sagte Abell. »Heute vormittag«, erwiderte Jamie.

»Vorsichtig jetzt«, sagte Wosnesenski leise. »Der Horizont ist so nah, daß man sich leicht verschätzt.«

Iwschenko, der den Rover fuhr, warf ihm einen finsteren Blick zu. »Mikhail Andrejewitsch, ich habe genauso viele Stunden in den Simulatoren und auf Übungsfahrten verbracht wie du, oder nicht? Ich habe dieses Biest fast die ganze Nacht hindurch gefahren, oder nicht? Warum sagst du mir andauernd, daß…«

»Stop!« brüllte Wosnesenski. Iwschenko rammte seinen gestiefelten Fuß so hart auf die Bremse, daß sie beide gegen die Kanzel geprallt wären, wenn Wosnesenski nicht darauf bestanden hätte, daß sie Sicherheitsgurte anlegten. Tony Reed, der hinter Wosnesenskis Sitz stand, knallte mit einem schmerzerfüllten Grunzen gegen die Lehne.

Der Grand Canyon des Mars erstreckte sich vor ihnen. Sein Rand lag kaum zwanzig Meter vor der Nase des Rovers. Iwschenko fiel das Kinn herunter, und er starrte mit offenem Mund nach vorn. Seine Brust hob und senkte sich.

»Du meine Güte!« stieß Reed hervor.


»Davor wollte ich dich warnen«, sagte Wosnesenski ruhig.

»Was auf den ersten Blick wie der Kamm einer weiteren Hügelkette aussieht, ist in Wirklichkeit der Rand des Abgrunds.«

»Das… das hättest du mir sagen müssen.«

Wosnesenski stieß einen müden Seufzer aus, wie ein Lehrer, der von einem Schüler enttäuscht ist.

Nebel füllte den Canyon aus, wogte sanft in der Morgensonne und wirkte so dicht, daß man fast glaubte, darauf laufen zu können. Vom Innern des Cockpits aus konnten sie den Boden der Schlucht nicht sehen; er war bei weitem zu tief unten, selbst wenn die Luft völlig klar gewesen wäre. Rechts und links von ihnen erstreckten sich die Felswände bis zum Horizont, Festungsanlagen aus rotem Stein, geformt von unzähligen Jahrmillionen der Verwitterung, hoch und stolz. Wosnesenski schaute geradeaus über den Canyon hinweg und glaubte, die zerklüfteten Konturen der gegenüberliegenden Wand ausmachen zu können; sie zitterten undeutlich in der dunstigen Ferne. So weit weg.

»Ich sehe den Hang der Rutschung nicht«, sagte Reed.

»Ich auch nicht. Wir müssen während der Nacht vom Kurs abgekommen sein. Ich werde unsere Position bestimmen. Dimitri Josifowitsch, du nimmst Kontakt mit der Basis auf und erzählst ihnen, daß wir den Canyon erreicht haben – ohne hineinzufallen.«

Vor sich hinbrummelnd, beugte Iwschenko sich ein bißchen vor, um an die Schalter der Kommunikationsanlage heranzukommen. Er sah das leise Grinsen auf dem Gesicht seines Vorgesetzten nicht.

Eine Viertelstunde später hatten sie ihre Position mit Hilfe der Ortung eines der um den Planeten herum verteilten Navigationssatelliten genau bestimmt und waren auf dem Weg zum Rand der Rutschung, die rund fünf Kilometer westlich von ihnen lag.

Wosnesenski saß beinahe entspannt auf dem rechten Sitz.

Iwschenko war fast die ganze Nacht hindurch gefahren, hatte ein paar Stunden geschlafen und fuhr nun wieder. Er wirkte frisch; seine Reflexe waren gut. Mikhail selbst fühlte sich nur wenig besser; er war immer noch schwach und hatte nach wie vor Schmerzen; während der Nacht hatte er so gut wie gar nicht geschlafen.

Der Körper beeinflußt den Geist, sagte er sich, während sie mit zwanzig Stundenkilometern über die von Felsblöcken übersäte rote Landschaft krochen. Wenn man Schmerzen hat, wird man müde, gerät leicht durcheinander und verzweifelt rasch. Das darf ich nicht vergessen. Ich muß dafür sorgen, daß ich einen klaren Kopf behalte, ganz gleich, wie es mir körperlich geht.

»Ich glaube, ich sehe ihn.«

Iwschenkos Worte rissen Wosnesenski aus seinen Grübeleien. Sein Blick folgte dem Zeigefinger des Piloten, und durch den morgendlichen Dunst sah er so etwas wie einen großen, in die Felswand geschnitten Halbkreis, von dessen Rand sich ein rostroter Hang bis zum Grund des Canyons tief unten hinunterzog.

»Ja, das muß er sein.«

Während Wosnesenski ihre Position auf dem Navigationsbildschirm überprüfte, sagte Iwschenko: »Du willst diesen Hang doch nicht etwa hinunterfahren, oder?«

»Wir sind hergekommen, um das Team im anderen Rover zu retten«, erwiderte Wosnesenski. Der Navigationsschirm zeigte, daß sie im richtigen Gebiet waren. Der steckengebliebene Rover befand sich ungefähr auf zwei Dritteln des Weges die alte Lawine hinunter.

»Genosse Kosmonaut«, sagte Iwschenko, »was würde es uns nützen, wenn wir selbst neben ihnen steckenblieben?«

»Was schlägst du vor?« knurrte Wosnesneski. Er spürte plötzlich Ungeduld mit seinem Begleiter.

»Ich schlage vor«, sagte Iwschenko, wobei er die letzten beiden Worte ironisch betonte, »daß wir am Rand des Canyons anhalten und sie zu Fuß zu uns heraufkommen lassen. Das ist am sichersten.«

»Und wenn sie zu schwach dazu sind?«

Der Kosmonaut kaute auf der Unterlippe. Wosnesneski wartete auf seine Antwort und dachte: Wenn er sagt, daß wir zur Kuppel zurückkehren sollten, ohne dort hinunterzufahren und sie zu holen, werfe ich ihn ohne Anzug aus der Luftschleuse.

»Wenn sie zu schwach dazu sind«, sagte Iwschenko langsam, »dann werden wir wohl zu Fuß hinuntergehen und ihnen helfen müssen.«

»Wir?«

»Doktor Reed und ich«, sagte Iwschenko. »Du solltest hier im Rover bleiben, Mikhail Andrejewitsch.«

Wosnesenski wurde es warm ums Herz. Sein Gesicht verzog sich zu einem breiten Grinsen. »Bravo, Dimitri Josifowitsch!

Tapfere Worte! Aber ich habe eine viel bessere Idee.«

Das will ich hoffen, dachte Tony Reed. Keine zehn Pferde bringen mich da hinaus!


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