Jamie erwachte weit vor der Morgendämmerung. Der Wind hatte aufgehört! Flach auf seiner Liege ruhend lauschte er. Der Sturm mußte vorbei sein. Von dem Wind war nichts zu hören, und die einzigen Geräusche in dem abgedunkelten Rover waren Connors’ unruhiges Schnarchen und das leise Rascheln von Joanna, die sich auf ihrer Liege direkt über ihm umdrehte.
Und das stetige Summen der Stromversorgung und der Lüfter im Hintergrund.
Langsam und leise schlüpfte er aus der Koje und tappte in Socken und Overall zum Cockpit. Er zog den Thermovorhang beiseite. Stille, schwarze Nacht draußen. Auf dem Mars gab es kein wahrnehmbares Mondlicht; seine beiden Satelliten waren zu klein, um viel Licht auf die Oberfläche des Planeten zu werfen. Jamie schaltete die Scheinwerfer des Rovers ein. Die Luft war klar. Er konnte die Felswand draußen sehen; grau und zerklüftet stand sie da, wie der Geist eines uralten Großvaters.
Er schaltete die Scheinwerfer rasch wieder aus, schloß den Vorhang und schlüpfte in seine Koje zurück, froh darüber, daß der Sturm tatsächlich aufgehört hatte. Er kroch unter die dünne Decke und schlief bald wieder ein.
Er träumte von Joanna. Sie gingen zu zweit in normaler Stra
ßenkleidung durch die Wüste. Er konnte nicht sagen, ob die Wüste auf der Erde oder auf dem Mars war. Eine Stadt leuchtete weiß am Horizont und funkelte in der heißen Sonne. Aber so lange sie auch gingen, die Stadt kam nicht näher. Sie stapften stundenlang dahin, müde, durstig, verschwitzt, aber die schimmernden Türme waren immer noch nicht mehr als eine Hoffnung in der Ferne. Die Kräfte verließen sie. Joanna brach in seinen Armen zusammen; auf einmal war sie nackt. Sie sanken beide sterbend in den brennenden Sand, zu schwach, um noch weiterzugehen.
Jamie hatte seinen Fetisch in der Hand, aber der kleine steinerne Bär war in der fürchterlichen Hitze geschmolzen und rann ihm zwischen den Fingern hindurch.
Er griff danach, wühlte im Sand, um ihn zurückzuholen; dann wachte er auf und merkte, daß er die Hand in das Laken krallte, das sich zwischen seinen Beinen verheddert hatte.
Verlegen stand Jamie auf und ging zum Waschraum, bevor einer der anderen aufwachte. Zum ersten Mal, seit sie die Kuppel verlassen hatten, rasierte er sich. Das Rasiermesser schien ihm in die Haut zu schneiden, aber es kam kein Blut. In mir ist kein Blut mehr drin, dachte Jamie müde. Das Rasierwasser brannte, als er es sich ins Gesicht klatschte, aber der scharfe Schmerz war beinahe angenehm, weil ihn nun schon seit Tagen ein dumpfes Unwohlsein quälte, das ihn verdrossen und reizbar machte.
»Danke«, sagte Jamie leise zu seinem frisch rasierten Konterfei im Metallspiegel des Waschraums. »Das hab ich gebraucht.« Das Gesicht, das ihn ansah, war ausgemergelt, mit roten Augen und tiefen Mulden unter den hohen Wangenknochen. Du verwandelst dich in ein Bleichgesicht, sagte Jamie zu ihm.
Joanna schien ebenfalls noch erschöpfter zu sein als zuvor, und Ilona schaffte es kaum, sich von ihrer Liege zu erheben und in den Waschraum zu gehen. Nach einem Frühstück in gedrückter Atmosphäre begleitete Jamie Connors trotz der milden Proteste des Astronauten nach draußen.
»Es wird keine Pressekonferenz geben, solange die Antenne nicht repariert ist«, erklärte Jamie. »Es gibt also keinen Grund, weshalb ich drinbleiben sollte.«
Er hatte den Eindruck, daß der Astronaut zu schwach war und zu starke Schmerzen hatte, um mit ihm zu diskutieren. Jamie war selbst ausgelaugt und müde. Der nächtliche Schlaf hatte seine Kräfte nicht wiederhergestellt. Der unbestimmte Schmerz, der ihn seit zwei Tagen peinigte, war schlimmer geworden; jeder Muskel in seinem Körper fühlte sich überanstrengt an.
Morgendliche Dunstschleier hingen in der Luft, als sie aus der Luftschleuse traten. Kalte graue Nebelranken drifteten vorbei, so langsam wie sich entfernende Geister. Woher kommt die Feuchtigkeit, fragte sich Jamie erneut. Sie wird jeden Tag ergänzt. Sie verdunstet, wenn sie mit der Sonne in Berührung kommt, und dann bildet sich am nächsten Morgen neuer Nebel. Warum? Auf welche Weise?
Connors beachtete den Nebel nicht. »Sieht aus, als müßten wir ein bißchen graben.«
An der Luvseite des Rovers türmte sich der Sand fast bis zum Dach. Das Fahrzeug war geradezu begraben in so feinem, lockerem Staub, daß er in pulvrigen Wolken aufwallte, als die beiden Männer in ihren Anzügen hineintraten.
»Gut, daß die Luke auf der geschützten Seite ist«, sagte Jamie.
»Ich glaube nicht, daß der Sand schwer genug wäre, um sie verschlossen zu halten«, sagte Connors, während sie durch die pulvrigen Verwehungen stapften und mit ihren Stiefeln bei jedem Schritt Staubwolken aufwirbelten. »Wir hätten sie problemlos aufdrücken können, jede Wette.«
Vielleicht, dachte Jamie.
Connors kletterte langsam und unbeholfen die Leiter hinauf, die gleich hinter der Kanzel des Cockpits in die Seitenwand des Kommandomoduls eingelassen war, und untersuchte die Mikrowellenantenne.
»Genau, wie ich’s mir gedacht habe«, hörte Jamie, der am Fuß der Leiter wartete, in seinen Helmlautsprechern. »Der gottverdammte Staub ist unter den Dichtungsring eingedrungen… o Scheiße, ich glaub’s einfach nicht, daß ich das getan habe!«
»Was ist? Alles in Ordnung mit Ihnen?«
»Ja. Ich bin nur blöd, das ist alles. Ich hab versucht, den Staub aus der Dichtung zu pusten.«
Connors schimpfte vor sich hin. Dann begriff Jamie: »Mit dem Helm auf dem Kopf!«
»Hab mir die Sichtscheibe ordentlich eingenebelt.«
»Schalten Sie das Gebläse höher.«
»Schon geschehen. Sie wird schon wieder klar.«
Connors kam herunter und ging zum äußeren Gerätefach im Labormodul, um Werkzeug zu holen: eine feine Drahtbürste und eine Schaufel. Ein paar Minuten später hatte er den Antennenaufsatz vom Staub befreit.
Über Helmfunk baten sie Joanna, die Bildfernsprechverbindung zu testen. Sie sahen, wie der Antennenarm ausklappte; dann drehte sich die Schüssel langsam, bis sie sich auf das über dem Äquator kreisende Raumschiff eingestellt hatte. Joanna gab durch, daß es ihr ohne Schwierigkeiten gelungen war, Kontakt mit der Kuppel aufzunehmen.
»Wosnesenski sagt, die Pressekonferenz fängt in einer Stunde an, wenn wir bis dahin soweit sind«, meldete sie.
»Kinderspiel«, sagte Connors.
Jamie grunzte in sich hinein. Er schwitzte in seinem Anzug schon jetzt heftig und war sicher, daß es Connors ebenso ging.
»Sie steigen jetzt wieder ein«, sagte der Astronaut zu Jamie.
»Ich gehe auf die andere Seite und grabe eins der Räder aus.
Mal sehen, ob wir wegkommen, ohne daß ich die anderen auch noch ausbuddeln muß.«
»Ich kann Ihnen helfen.«
»Nein, ist schon gut. Dieses Zeug ist so locker, daß man es mit einem Kleiderbesen wegfegen könnte. Wenn ich Hilfe brauche, sage ich Ihnen Bescheid. Vielleicht machen wir nach der Pressekonferenz alle vier eine Buddelparty.«
»Sind Sie sicher, daß sie hier draußen klarkommen?«
»Ich bin kein Held, Jamie. Wenn ich Hilfe brauche, schreie ich schon, keine Sorge.«
Widerstrebend ging Jamie wieder hinein. Er brauchte viel länger als sonst, um den Staub von seinem Anzug zu saugen.
Er ließ den Helm in der Luftschleuse liegen und stapfte durchs Kommandomodul zum Cockpit. Joanna saß auf dem Pilotensitz und sprach zum Bildschirm. Jamie erkannte das Gesicht von Burt Klein, dem amerikanischen Astronauten auf der Mars 2.
Klein grinste ihn an. »Ihr habt eure Antenne ja wieder in Gang gekriegt«, sagte er.
Jamie murmelte eine Antwort und schaltete dann auf die Funkverbindung mit Connors. »Alles okay. Wir haben die Mars 2 auf dem Bildschirm.«
»Prima«, sagte Connors keuchend. »Das rechte Vorderrad ist fast frei.«
Jamie schaute von Joannas müdem Gesicht zu Kleins gesundem, heiterem Antlitz auf dem kleinen Monitor und merkte, wie krank sie alle vier sein mußten. Seine Haut ist beinahe rosa, dachte er.
Dr. Li erschien auf dem Bildschirm und erteilte Anweisungen für die Pressekonferenz, die in Kürze beginnen würde. Er bat Jamie, Connors vorher hereinzuholen. Jamie verglich die Zeit auf seiner Armbanduhr mit der auf der Digitaluhr an der Kontrolltafel im Cockpit und bat Joanna dann, sich um die Verbindung zu kümmern. Klein erschien wieder auf dem Bildschirm, und Joanna plauderte mit ihm, fast so, als wären sie alte Freunde, die über das Wetter sprächen.
Jamie sah, daß Joanna einen neuen, korallenrosa Overall angezogen und Make-up aufgelegt hatte. Sie versucht, ihre Blässe zu verbergen, erkannte er; sie will für die Medien gut aussehen. Und für ihren Vater.
Als er sich in dem unförmigen harten Anzug auf den Rückweg zur Luftschleuse machte, kam Jamie an Ilona vorbei. Sie saß auf einer der Bänke und wirkte völlig entkräftet. Sie hatte sich ebenfalls geschminkt und einen bunten, geblümten Schal um den Kragen ihres Overalls geschlungen. Aber sie sah trotzdem furchtbar blaß und schwach aus.
Jamie versuchte sie aufzumuntern. »Na, bereit für den Ruhm?«
Sie lächelte matt. Nicht einmal die dickste Schminke hätte die roten Augen und die Spuren von Stress verbergen können, die ihr Gesicht zeichneten. Aber vielleicht kam sie vor den Kameras damit durch. Die große Story des heutigen Tages soll die Entdeckung von Leben auf dem Mars sein, nicht unsere körperliche Verfassung.
Die Verzögerung bei den Übertragungen zwischen der Erde und dem Mars betrug jetzt hin und zurück über fünfundzwanzig Minuten, so daß ein live stattfindendes Frage-und-Antwort-Spiel unmöglich war. Statt dessen hatten die Presseleute und die Flugkontrolleure ein anderes Protokoll ausgearbeitet.
Aus den Reporterschwärmen, die praktisch zeitgleich mit der Veröffentlichung der Nachricht vom Leben auf dem Mars über Kaliningrad, Houston, Washington und andere Hauptstädte hereingebrochen waren, hatte man zwölf Personen ausgewählt. Jeder der zwölf befand sich an einem anderen Ort der Erde. Jeder würde eine Frage stellen, die von einem der Marsforscher beantwortet werden sollte. Nachfragen würde es nicht geben. Alberto Brumado, der in Washington saß, würde die Zeit zwischen den Fragen und den Antworten mit Kommentaren und Gesprächen mit Flugkontrolleuren, Projektverwaltern und Politikern füllen, die sich in Kaliningrad und woanders versammelt hatten.
Viele Politiker waren gekommen, um sich vor den Kameras in Szene zu setzen, darauf erpicht, sich im Glanz der großen Entdeckung zu sonnen und sich von den Medien der Welt im globalen Fernsehen interviewen zu lassen.
Jamie fragte sich, ob Edith zu den Fragestellern gehören würde. Wahrscheinlich nicht, dachte er. Sie hat gerade erst bei dem Network angefangen; dafür ist sie nicht hoch genug auf der Leiter.
Die beiden Frauen saßen in den Cockpitsitzen. Jamie und Connors standen hinter ihnen. Connors hatte es in der einen Stunde nur mit Mühe geschafft, eines der Räder des Rovers auszugraben und sich dann wieder hineinzuschleppen. Er hatte nur die obere Hälfte seines Raumanzugs abgelegt und stand nun in den Stiefeln neben Jamie. Obwohl er versucht hatte, die schneeweiße Anzughose gründlich abzusaugen, war sie von rotem Staub gesprenkelt, der den stechenden Geruch von Ozon absonderte.
Wosnesenski saß am Kommunikationsbildschirm in der Kuppel, Dr. Li an dem oben im Orbit. Die Leute auf der Erde konnten nach Belieben mit jeder Gruppe der Marsexpedition sprechen.
Vor dem offiziellen Beginn der Konferenz erschien Brumado auf dem Bildschirm. Er gratulierte seiner Tochter, und Joanna schickte ihm ein liebevolles Dankeschön. Jamie war beinahe eifersüchtig auf das warme Lächeln, das sie ihrem Vater schenkte. Als ihre Botschaft endlich bei ihm eintraf, ließ Brumado durch nichts erkennen, daß ihn das Aussehen seiner Tochter schockierte oder auch nur beunruhigte; sie hatte eine lächelnde Fassade vorgetäuscht und kein Wort über die körperliche Verfassung des Teams gesagt.
Wahrscheinlich ist er zu aufgeregt, um es zu merken, dachte Jamie. Vielleicht haben wir uns auch alle zu sehr in etwas hineingesteigert. Wenn man es im Fernsehen nicht sieht, wie schlimm kann es dann wirklich sein?
Die Reihenfolge, in der die Reporter ihre Fragen stellen würden, war vom Zentralrechner des Kontrollzentrums in Kaliningrad nach dem Zufallsprinzip festgelegt worden. Jeder fand, daß dies ein angemessen wissenschaftliches Verfahren zur Lösung des Prioritätsproblems war. Als erste war Hongkongs wichtigste Medienpersönlichkeit ausgewählt worden, eine auffallend schöne Frau mit einer Haut wie Porzellan und Mandelaugen, die schon Dichter inspiriert hatten.
»Zuerst möchte ich Ihnen zu der bedeutendsten Entdeckung in der Geschichte des Raumfahrtzeitalters gratulieren«, sagte sie in fehlerlosem britischem Englisch. Ihre Stimme war ein silberheller Sopran; sie sang die Worte beinahe. »Meine Frage lautet: Wer von Ihnen hat die Entdeckung eigentlich gemacht, und was haben Sie empfunden, als Ihnen klar wurde, daß Sie Leben auf dem Mars gefunden hatten?«
Joanna drehte sich in ihrem Sitz unschlüssig zu Ilona um, die neben ihr saß. Das Gesicht der Frau aus Hongkong wich dem von Brumado, der die Zeit überbrücken würde, bis ihre Antwort in Kaliningrad eintraf. Der Ton wurde automatisch so weit heruntergedreht, daß er kaum noch zu hören war.
»Ich kann das beantworten«, sagte Ilona und zwang sich zu einem Lächeln. »Doktor Brumado hat als erste erkannt, daß die Gebilde, die sie unter dem Mikroskop untersucht hat, lebendig waren. Sie ist unsere Biologin, und sie hat die Entdeckung gemacht.«
»Doktor Malater war bei mir«, sagte Joanna. »Wir haben zusammen an den Proben gearbeitet, die wir an diesem Morgen gesammelt hatten. Ich habe sie nur rein zufällig als erste unter dem Mikroskop gehabt, aber wir haben sie gemeinsam gesammelt und präpariert. Eigentlich müßte man also sagen, daß wir die Entdeckung gemeinsam gemacht haben.«
Ilona übernahm wieder. Ihre rauchige Stimme war über eine Oktave tiefer als die von Joanna. »Und was unsere Gefühle anbetrifft – es war der erregendste Moment meines Lebens. Besser als Sex.«
Joanna errötete trotz ihrer Blässe. »Es war sehr aufregend«, stimmte sie zu. »Ich denke, wir konnten es im ersten Augenblick beide nicht glauben. Als wir uns dann endlich davon überzeugt hatten, daß es real war, daß die Gebilde unter dem Mikroskop tatsächlich eine Lebensform waren, haben wir einander angesehen und kein Wort herausgebracht.«
»Was bei mir äußerst ungewöhnlich ist«, entfuhr es Ilona.
»Uns wurde bewußt, daß dies eine der bedeutendsten Entdeckungen in der Geschichte der Wissenschaft war. Ich empfand
– wie soll ich sagen? – Ehrfurcht. Ja, genau. Es war wirklich ein Ehrfurcht einflößender Augenblick.«
»Ich hätte am liebsten getanzt«, sagte Ilona.
Jamie fügte im stillen hinzu: Aber du warst zu müde und zu schwach, um es zu versuchen.
»Wir müssen alle im Gedächtnis behalten«, fuhr Joanna ernster fort, »daß nicht nur Doktor Malater und ich diese Entdeckung gemacht haben. Doktor Waterman war derjenige, der erkannt hat, daß die Wahrscheinlichkeit, Leben zu finden, in diesem Grabenbruch am größten war. Die anderen Wissenschaftler und Astronauten – ohne sie wären wir niemals an diesen Ort gelangt. Alle Männer und Frauen dieser großartigen Expedition, alle Männer und Frauen, die diese Mission auf der Erde unterstützen – sie alle waren an dieser Entdeckung beteiligt. Wir sind ein Team, das über zweihundert Millionen Kilometer weit in den Weltraum hinausgreift und zwei Welten umspannt. Jeder von uns hat eine wichtige Rolle gespielt.«
Sie ist die Tochter ihres Vaters, sagte sich Jamie. Sie hat eine große Zukunft in der Wissenschaftspolitik.
Die Fragen waren größtenteils oberflächlich. Connors wurde von einem gelangweilt dreinschauenden Franzosen gefragt, wie er sich als einziger Schwarzer auf dem Mars fühle. Der Astronaut antwortete grinsend mit einem Wort: »Grandios!«
Doch sobald auf dem Bildschirm wieder Brumado zu sehen war, der mit einem der opportunistischen Politiker plauderte, murmelte Connors: »Blöder Affe.«
Als Jamie an die Reihe kam, wurde er von einem amerikanischen Reporter gefragt, was er dabei empfinde, daß sein Kampf um die Änderung des Missionsplans und um die Exkursion zum Grand Canyon sich nun als gerechtfertigt erwiesen habe.
Jamie wünschte, Edith hätte es geschafft, zu der Pressekonferenz zugelassen zu werden; auf einmal sehnte er sich nach dem Anblick ihres fröhlichen Lächelns. Er antwortete dem Mann mit dem verkniffenen Gesicht: »Es hat gar keinen Kampf gegeben. Wir hatten einen Missionsplan, aber der war lange, bevor wir hierher kamen, auf der Erde ausgearbeitet worden. Glücklicherweise haben die Flugkontrolleure und der Expeditionskommandant, Doktor Li, ebenso wie Kosmonaut Wosnesenski und meine Wissenschaftlerkollegen alle eingesehen, daß es sinnvoll war, den Plan abzuändern und sich die Ergebnisse unserer Forschungsarbeiten hier auf dem Mars für das weitere Vorgehen zunutze zu machen. Wir waren flexibel genug, den Plan zu überarbeiten und dabei die Vorteile zu nutzen, die sich aus unseren neuen Entdeckungen ergeben hatten.«
Jamie merkte, daß es noch einen weiteren gewaltigen Vorteil hatte, auf dem Mars zu sein: Die Interviewer konnten einen nicht unterbrechen. Sie konnten einen auch nicht daran hindern, ausführlich Stellung zu nehmen und so umfassend zu antworten, wie man wollte.
»Noch etwas«, sagte er und vergaß für einen Augenblick seine Müdigkeit. »Wir haben mehr entdeckt als nur eine simple Flechte. Das Leben kann unmöglich auf eine einzige Gattung beschränkt sein. Das wissen wir von der Erde. Es muß hier eine marsianische Ökologie geben, eine Ordnung lebender Organismen. Es gibt mit Sicherheit Organismen, die in dieser Ordnung des Lebens tiefer stehen als die Flechte, die wir gefunden haben. Aber die interessante Frage ist: Gibt es auch Organismen, die in dieser Ordnung höher stehen? Oder hat es irgendwann einmal solche höheren Organismen gegeben?«
Er warf Joanna einen Blick zu; sie lächelte ihn ermutigend an.
Connors klopfte ihm auf die Schulter.
»Hier in diesem Grand Canyon haben wir eine Gesteinsformation entdeckt, die möglicherweise nicht natürlichen Ursprungs ist. Es ist selbstverständlich eine gewagte Vermutung, aber es könnte sein, daß es einmal intelligente Marsianer gegeben hat. Wir haben die Gelegenheit – oder vielmehr die Pflicht
–, neue Expeditionen zum Mars zu schicken, die für einen viel längeren Aufenthalt ausgerüstet sind, so daß sie sich mit einigen dieser Fragen befassen können.«
Jamie sah erfreut, wie Brumados Augen funkelten, als seine kleine Rede endlich auf der Erde eintraf.
Der nächste Reporter verzichtete auf seine vorbereitete Frage und stellte dafür die folgende: »Wollen Sie damit sagen, daß es auf dem Mars intelligente Lebewesen gegeben haben könnte?«
Seine Augen waren ungläubig geweitet.
»Ja«, antwortete Jamie fest. »Es könnte welche gegeben haben. Wir wissen nicht, ob es sie wirklich gegeben hat. Die Wahrscheinlichkeit dürfte ziemlich gering sein, aber – wir wissen einfach nicht genug über den Mars, um es mit Sicherheit sagen zu können. Weder so noch so.«
Das Bild auf dem Monitor brach kurzzeitig zusammen, als jeder Reporter eine Frage über intelligente Marsianer einzuwerfen versuchte. Brumado konnte die Ruhe nur dadurch wiederherstellen, daß er über ihre Stimmen hinweg den Namen des nächsten Journalisten aufrief, der vom Computer ausgesucht worden war.
Sämtliche folgenden Fragen drehten sich um ›reale, lebendige Marsianer‹. Die meisten waren an Jamie gerichtet, der fand, daß sie im allgemeinen belanglos waren und sich ständig wiederholten. Er erinnerte sich an einen Freund, einen Anwalt, der Fragen, die er für redundant hielt, immer mit einem kurzen ›Schon gefragt und beantwortet‹ abgewimmelt hatte.
Joanna unterbrach ihn einmal und sagte: »Ich möchte sicherstellen, daß jeder genau versteht, was wir hier auf dem Mars gefunden haben. Wir haben lebende Organismen entdeckt, die gewisse Ähnlichkeit mit irdischen Flechten besitzen. Wir haben keinerlei Hinweise auf die Existenz intelligenter Marsianer gefunden, nicht einmal auf solche, die vor ewigen Zeiten ausgestorben sein könnten.«
Jamie nickte zustimmend. »Das ist richtig. Meine Mutma
ßungen über intelligente Marsianer sind reine Spekulation, mehr nicht. Sie beruhen auf einer Gesteinsformation, die wir aus einiger Entfernung gesehen haben.«
Endlich verkündete Brumado, daß jeder der zwölf ausgewählten Reporter seine Frage gestellt habe. »Jetzt müssen wir ins Weiße Haus umschalten. Der Präsident und die Vizepräsidentin der Vereinigten Staaten haben unseren Forschern ein paar Worte zu sagen.«
Der Bildschirm flackerte und zeigte dann den Präsidenten, der lächelnd in einem tiefen, mit Leder bezogenen Ohrensessel an einem Marmorkamin saß. Hinter ihm sah man ein Porträt von Thomas Jefferson.
»Ich möchte Ihnen allen auf dem Mars ebenfalls gratulieren und Ihnen alles Gute wünschen«, sagte der Präsident in seinem wärmsten Ton. »Sie haben Großartiges geleistet, und alle Menschen unseres Volkes – alle Menschen der Welt – sind von Ihrer Entdeckung begeistert.«
Der Bildausschnitt auf dem Monitor erweiterte sich und zeigte nun auch die Vizepräsidentin. Sie trug einen irischgrünen Hosenanzug, der ihr frisch frisiertes blondes Haar vorteilhaft betonte, und saß in einem kleineren Lehnstuhl auf der anderen Seite des leeren Kamins. Eine Bronzebüste von Jefferson stand auf dem Tisch rechts von ihrem Stuhl.
»Ich möchte Ihnen allen meine persönlichen Glückwünsche aussprechen und Ihnen versichern, daß diese Regierung alles in ihrer Macht Stehende tun wird, um die weitere Erforschung des Mars zu unterstützen.« Sie senkte einen Moment lang bescheiden den Blick, aber ihre Stimme blieb scharf und kräftig, als sie hinzufügte: »Und wenn die Menschen dieser großen Nation mir mit ihrer Stimme die Chance geben, sie in der nächsten Regierung zu führen, werden wir uns ebenso für weitere Missionen zum Mars einsetzen wie für die ökonomische Entwicklung des cislunaren Raums.«
Connors schnaubte. »Ob sie überhaupt weiß, was cislunar bedeutet?«
»Einer ihrer Berater weiß es«, sagte Jamie. »Das reicht für den Augenblick.«
Brumados Gesicht erschien wieder auf dem Bildschirm, und er verkündete, der Präsident des sowjetischen Staatenbundes werde nun ein paar Worte sagen.
Das Funksprechgerät summte. Jamie beugte sich zwischen den beiden Frauen vor, schaltete den Ton der Bildverbindung ganz ab und legte den Meldeschalter um.
»Li Chengdu hier.« Die Stimme des Expeditionskommandanten kam dünn aus dem Lautsprecher. »Leider wartet noch eine lange Reihe von Politikern auf ihren Auftritt im Fernsehen. Es wäre sinnvoller, wenn ihr euer Fahrzeug darauf vorbereiten würdet, das Tal zu verlassen, statt euch ihre Ansprachen anzusehen. Wir nehmen hier alles auf Band auf, so daß ihr es euch ansehen könnt, wenn ihr Zeit dazu habt.«
Jamie drehte sich zu Connors um, der zustimmend nickte.
»Ja, Sir«, sagte er. »Wir setzen uns mit der Kuppel in Verbindung, wenn wir abfahrbereit sind.«
»Sehr gut.«
Ilona erhob sich langsam vom rechten Sitz, richtete sich zu ihrer vollen Größe auf und reckte den Rücken wie eine Katze.
»Ruft mich, wenn der israelische Premierminister drankommt.«
Jamie lachte und streckte die Hand aus, um das Funkgerät abzuschalten.
»Noch eine Frage.« Lis Stimme ließ sie alle erstarren. »Wie ist euer körperlicher Gesundheitszustand?«
Mit einem Blick auf ihre müden, blassen Gesichter antwortete Jamie: »Was es auch ist, wir haben es alle. Schmerzen, Schwäche – es macht uns langsamer.«
»Ich habe beschlossen, Doktor Yang zur Kuppel hinunterzuschicken. Sie trifft in ein paar Stunden ein, um Doktor Reed zu assistieren. Ihr müßt unbedingt innerhalb von achtundvierzig Stunden zur Kuppel zurückkehren, um euch in ärztliche Behandlung zu begeben.«
»Aber was ist es?« fragte Jamie. »Was haben wir denn alle?«
Eine Weile kam nur das leise Knistern der atmosphärischen Störungen aus dem Funkgerät. Schließlich sagte Li: »Wir wissen es noch nicht. Aber angesichts der Geschwindigkeit, mit der sich euer Zustand verschlechtert, ist es sehr wichtig, daß ihr die Kuppel bald erreicht und behandelt werden könnt. Beeilt euch.«
Jamie setzte zu der Frage an, was passieren würde, wenn es ihnen nicht gelang, die Kuppel in den nächsten achtundvierzig Stunden zu erreichen. Aber er hielt den Mund. Er wollte die Antwort eigentlich gar nicht hören.