TRAINING ANTARKTIS

1

Die McMurdo-Basis hatte für Jamie etwas von einer Kreuzung zwischen einer schäbigen Bergarbeiterstadt und dem Campus eines heruntergekommenen Gemeinde-Colleges. Sie lag am Rand des eiskalten McMurdo Sound, zwischen den schneebedeckten Bergen und dem Ross-Schelf, einem vierhundert Meter dicken Eisschild, das den größten Teil des Rossmeeres bedeckte. Die Gebäude – Metallhütten mit runden Dächern, quadratische Holzbaracken – sahen alle so aus, als stammten sie aus staatlichen Beständen. Das galt sogar für die neueren zweistöckigen Verwaltungsbüros aus Backstein. Es gab eine Ansammlung von Öltanks, endlose Reihen von Geräteschuppen, einen Eisbrecher der amerikanischen Küstenwache, der im Hafen vor Anker lag, und einen Flugplatz, der buchstäblich aus dem glitzernden Eisschelf herausgehauen war, das sich bis jenseits des Horizonts erstreckte und eine größere Fläche als Frankreich bedeckte.

Die Straßen waren mit Schneepflügen geräumt worden, aber kaum jemand wagte sich in den beißenden Wind hinaus. Die kälteste auf der Erde je aufgezeichnete Temperatur war in der Antarktis gemessen worden, 88,3 Grad Celsius unter Null.

Eine niedrige Mittsommernachtstemperatur auf dem Mars, wie Jamie wußte.

In der Hütte, die dem Trainingsteam des Marsprojekts zur Verfügung stand, war es dank des neuen, im vergangenen Jahr installierten Atomstromsystems beinahe behaglich warm.

Umweltschützer alten Stils hatten dagegen protestiert, daß die Kernenergie in die Antarktis gebracht wurde, während die Umweltschützer neuen Stils gegen die weitere Verwendung von Öl protestierten, das die zunehmend verunreinigte antarktische Luft mit seinen rußigen Emissionen verschmutzte.

Jede Rekrutengruppe der Marsmission mußte sechs Wochen in der Antarktis-Station verbringen und lernen, wie es war, in einem abgelegenen Forschungsposten zu hausen, abgeschnitten vom Rest der Welt, eng zusammengepfercht in ziemlich unzulänglichen Einrichtungen mit wenigen Annehmlichkeiten und stark eingeschränkter Privatsphäre, wo man darum kämpfte, in einer öden, gefrorenen Welt aus Eis und bitterer Kälte zu überleben.

Als Jamie mit raschen Schritten den schmalen Flur der halb im Schnee begrabenen Hütte entlangging, dachte er bei sich: Alle Wissenschaftler im Projekt sind gleich. Ein paar sind allerdings gleicher als die anderen. Und jetzt ist Dr. Li gleicher als wir alle.

Jamie war auf dem Weg zum Büro von Dr. Li Chengdu, dem Mann, der soeben zum Expeditionskommandanten ernannt worden war. Er trug wie üblich sein dickes schwarz-rotes Cordsamthemd und ausgeblichene Jeans, und seine Cowboystiefel polterten dumpf über die abgenutzten Holzdielen. Außer Li war bisher noch niemand ins Missionsteam berufen worden, jedenfalls nicht offiziell. Aber die schneebedeckte Basis war ein summender Bienenstock von Gerüchten und Spekulationen darüber, wer für den Flug zum Mars ausgewählt werden würde und wer nicht. Die in der kleinen Basis eingesperrten Männer und Frauen hatten Wetten abzuschließen begonnen. Manche von ihnen versuchten sogar, in die geheimen Personaldateien des Computers einzubrechen.

Morgen würden Jamie und die Gruppe, der er angehörte, von McMurdo in die Zivilisation zurückfliegen – falls das Wetter es zuließ. Ihre sechs Pflichtwochen waren zu Ende. Jamie hatte einen großen Teil seiner Zeit mit der Suche nach Meteoriten draußen auf dem schneebedeckten Gletscher verbracht, der in die Eisschicht mündete, die das Rossmeer bedeckte. Die Antarktis war ideal für die Meteoritenjagd. Das ewige Eis und der Schnee des gefrorenen Kontinents konservierten die Felsbrocken, die vom Himmel fielen, und sorgten dafür, daß sie relativ frei von terrestrischen Verunreinigungen blieben. Man nahm sogar an, daß einige dieser Meteoriten vom Mars kamen. Jamie hatte gehofft, bei seiner Suche auf dem windgepeitschten Gletscher einen zu finden. Wenn ich schon nicht zum Mars komme, hatte er sich gesagt, dann finde ich vielleicht einen Brocken vom Mars, der zur Erde gekommen ist.

Innerhalb von sechs Wochen hatte er vier Meteoriten im Eis entdeckt, von denen jedoch keiner vom Mars stammte.

Jamie arbeitete und trainierte nun seit mehr als drei Jahren mit Wissenschaftlern eines Dutzends verschiedener Nationen in Laboratorien und Exkursionszentren von Island bis Australien. Fast die ganze Zeit über hatte er – wie alle anderen auch –

gewußt, daß er nicht der für die Landung auf dem Mars ausersehene Geologe sein würde. Pater Fulvio DiNardo – nicht nur ein Geologe von Weltrang, sondern auch ein jesuitischer Priester – war die erste Wahl für die Mission.

»Leute wie ihn bezeichnen wir als ›Doppler‹«, hatte einer der amerikanischen Administratoren der Mission Monate zuvor beim Frühstück vergnügt erklärt, als sie in Star City bei Moskau gewesen waren. »Er füllt zwei Positionen aus: die des Geologen und die des Kaplans.«

»Ja«, hatte Tony Reed ihm zugestimmt, wobei ein leises, süffisantes Grinsen um seine Lippen zuckte. »Er kann Beichten abnehmen und jedes Baby taufen, das während der Mission zur Welt kommt. Kein anderer Geologe könnte so nützlich sein.«

Widerstrebend akzeptierte Jamie die Realität von Di-Nardos unangreifbarer Position. Der Priester war an der wissenschaftlichen Erforschung der Planeten beteiligt, seit die zweite große Welle von Raumsonden zum Jupiter und zu den Asteroiden geschickt worden war; er hatte sogar einen Beitrag zur Entwicklung einiger Instrumente geleistet, die sie mitgeführt hatten. Er war der erste Geologe auf dem Mond seit der Apollo 17-Mission vor über dreißig Jahren gewesen. Selbst jetzt, während die Wissenschaftler für die erste bemannte Marsmission trainierten, verbrachte Pater DiNardo den größten Teil seiner Zeit im Isolationslabor oben in der russischen Raumstation Mir 5


und leitete die geologischen Untersuchungen der Gesteins-und Bodenproben, die von unbemannten, als Vorhut der menschlichen Expedition zur Erkundung des Roten Planeten ausgesandten Sonden zurückgebracht worden waren.

Es war Pater DiNardos Ersatzmann, der Jamie zu schaffen machte. Wenn man dem ganzen Klatsch glauben durfte, lief Franz Hoffmann auf der Innenbahn. Der Wiener war ursprünglich Physiker gewesen und hatte erst vor ein paar Jahren auf Geologie umgesattelt. Jamie war sicher, daß es eher seine österreichische Staatsangehörigkeit als seine Qualifikation als Geologe war, die ihn auf den zweiten Platz hinter Di

Nardo gebracht hatte. Und vor Jamie.


Monatelang hatte Jamie gespürt, wie eine leise köchelnde Wut in ihm aufstieg. Ich bin ein besserer Geologe als Hoffmann, sagte er sich. Aber ihn werden sie zum Mars schicken, wenn DiNardo ausfällt, und ich werde hier auf der Erde bleiben. Weil die Politiker eine ausgewogene Mischung von Nationalitäten haben wollen und es keinen weiteren Österreicher in der Gruppe gibt. Noch schlimmer: Die Politiker tun alles, was in ihrer Macht steht, damit die Zahl der Amerikaner und Russen gleich bleibt. Und mich zählen sie als Amerikaner.

Als er sich Dr. Lis Tür näherte, fragte er sich zum tausendsten Mal, was er tun konnte, um die Situation zu ändern.

Warum hat er mich zu sich gerufen? Wird Li jetzt, wo er offiziell zum Kommandanten der Expedition ernannt worden ist, als Wissenschaftler oder als Politiker handeln? Kann er mir helfen? Wird er mir helfen, wenn er kann?

Jamie klopfte an Dr. Lis Tür.

Die Besetzung der Position des Expeditionskommandanten war von den Politikern und Administratoren mit äußerster Sorgfalt vorgenommen worden. Es mußte ein hochgeachteter Wissenschaftler sein, ein natürlicher Führer, ein Mensch, der die Männer und Frauen, die er auf einer anderen Welt befehligen würde, inspirieren konnte. Er mußte imstande sein, verletzte Egos zu beschwichtigen und emotionale Probleme unter seinen sensiblen Wissenschaftlern und Astronauten zu lösen.

Vor allem mußte er aus einem neutralen Staat stammen: Er durfte weder aus dem Osten noch aus dem Westen sein, weder Araber noch Jude, weder Hindu noch Moslem.

Dr. Li Chengdu war ein asketisch schlanker Mann mit bleichem Gesicht, der in Singapur als Sohn einer chinesischen Kaufmannsfamilie zur Welt gekommen war, seine Ausbildung in Shanghai und Genf erhalten hatte und, wie man munkelte, für seine Forschungsarbeit auf dem Gebiet der Physik der Erdatmosphäre für einen Nobelpreis im Gespräch war: Er hatte eine Möglichkeit entdeckt, den Abbau der Ozonschicht rückgängig zu machen und das lange Zeit gefürchtete Ozonloch in der oberen Atmosphäre zu schließen. Mit Anfang fünfzig war er jung und rüstig genug für die lange Reise zum Mars, aber auch alt und angesehen genug, sowohl nominell als auch faktisch der unangefochtene Führer der Expedition zu sein.

»Bitte kommen Sie herein«, ertönte Dr. Lis Stimme, nur ganz leicht gedämpft von der dünnen Hartfaserplattentür.

Jamie betrat den Raum, der Li als Büro und Unterkunft diente. Li stand hinter dem Schreibtisch auf, der mit dem Schuhanzieher zwischen das Etagenbett und die gekrümmte Außenwand gequetscht worden war. Er war so groß, daß er sich ziemlich bücken mußte, um sich den Kopf nicht an den gebogenen Deckenpaneelen zu stoßen.

Der Raum hatte überhaupt keine persönliche Note; er war in keiner Weise von der Anwesenheit eines Individuums geprägt. Li war erst vor ein paar Tagen gekommen und sollte mit Jamies Gruppe am nächsten Morgen wieder abfliegen. Der Schreibtisch war leer, bis auf einen leise summenden Laptop-Computer, dessen Bildschirm in blassem Orange glomm. Das Bett war mit militärischer Präzision gemacht, die Decken waren sorgfältig unter die dünne Matratze gezogen. Das einzige Fenster wurde von dem weggepflügten Schnee versperrt, der an der Gebäudewand aufgehäuft war. Schmale, lange Neonlampen liefen an der niedrigen Decke entlang und gaben Lis blasser Haut einen beinahe gespenstischen Schimmer.


Als Jamie Dr. Li vor zwei Jahren zum ersten Mal begegnet war, hatte ihn die Größe des Mannes verblüfft. Jetzt war er erneut überrascht. Li war beinahe zwei Meter groß und so hager, daß er fast schon ausgemergelt wirkte, eine riesige Vogelscheuche mit hohlen Wangen und langen, dünnen Fingern.

Der frisch ernannte Expeditionskommandant trug ein weiches, kohlschwarzes Velourshemd, das lose um seinen dünnen Körper hing.

»Ah, Doktor Waterman. Bitte setzen Sie sich.« Li wies auf den einzigen anderen Stuhl im Raum, ein vom Staat gestelltes Möbelstück aus abgenutztem, mattgrauem Stahl mit einem dünnen Plastikkissen, das sich eisenhart anfühlte.

Li nahm wieder hinter seinem Schreibtisch Platz. Er schwieg einen langen Moment und sah Jamie aufmerksam an, als wollte er in ihn hineinschauen. Jamie erwiderte den Blick gelassen.

Er hatte oft genug zugesehen, wie sein Großvater sich mit anderen Navajos unterhielt; sie hatten es nie eilig damit, etwas zu sagen. Es war wichtig, sich Zeit zu lassen, um nachzudenken, zu überlegen und den anderen einzuschätzen.

Jamie musterte Lis Gesicht. Sein Haar waren immer noch dunkel, doch es war an seiner hohen, gewölbten Stirn schon merklich zurückwichen. Unverkennbar orientalische Augen, verhangen, unergründlich; zusammen mit dem herabhängenden Schurrbart verliehen sie ihm das Aussehen eines uralten chinesischen Weisen oder vielleicht auch des Schurken in einem altmodischen Abenteuerkrimi. Er hätte ein langes Seidengewand tragen und in einem Palast in Beijing leben sollen, statt im Schnee am Arsch der Welt festzusitzen.


In dem winzigen Raum hing ein leicht süßlicher Geruch in der Luft. Räucherstäbchen? Kölnischwasser? Es roch fast wie Marihuana.

»Ich muß Sie um einen Gefallen bitten«, sagte Dr. Li schließlich. Er hatte die Stimme fast zu einem Flüstern gesenkt. Jamie merkte, daß er sich ein wenig vorbeugte, um Lis Worte über das unablässige Zischen der Luft hinweg zu hören, die durch die Heizungsrohre strömte.

Mit einem beinahe verstohlenen Blick auf den orangefarbenen Bildschirm des Computers auf seinem Schreibtisch fuhr Li fort: »Sie haben hier sehr gute Arbeit geleistet – und bei Ihren anderen Trainingsaktivitäten ebenfalls.«

»Danke.« Jamie verneigte sich leicht.

»Ich wüßte gern, was Sie davon halten würden, weitere sechs Wochen zu bleiben.«

»Zu bleiben? Hier?«

»Die Gruppe, mit der Sie gearbeitet haben, soll als nächstes nach Utah gehen, glaube ich.« Ein weiterer Blick auf den Computerbildschirm. »Ja, Überlebenstraining in der hochgelegenen Wüste.«

Bevor Jamie etwas erwidern konnte, fügte Li hinzu: »Ich würde es zu schätzen wissen, wenn Sie hier in McMurdo bleiben und der nächsten Gruppe helfen würden, sich an die arktische Umgebung zu akklimatisieren. Es wäre mir und Ihren Wissenschaftlerkollegen eine außerordentliche Hilfe.«

Jamies Gedanken rasten. Er ist gerade zum Expeditionskommandanten ernannt worden. Es wäre nicht klug, ihm seinen Wunsch abzuschlagen. Aber warum bittet er mich darum?

Warum gerade mich?


»Äh… wir zehn haben weitgehend als Einheit trainiert, wissen Sie.«

»Das ist mir durchaus bewußt«, sagte Dr. Li. »Aber Ihnen ist doch sicherlich klar, daß die zu Trainingszwecken zusammengestellten Gruppierungen nicht mit den Teams identisch sein werden, die man für den Flug selbst auswählen wird.«

Jamie nickte. Er fragte sich, was hier vorging, und warum.

»Zu der Gruppe, die als nächste hier eintreffen wird, gehört Doktor Joanna Brumado. Sie ist eine ausgezeichnete Mikrobiologin.«

»Ich habe sie bereits kennengelernt.«

Li nickte langsam. Dann sagte er ganz leise: »Die Tochter von Alberto Brumado.«

Jamie lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Jetzt verstand er.

Auf Alberto Brumados Tochter würde besonderes Augenmerk gerichtet sein. Die anderen Wissenschaftler mußten selbst sehen, wie sie zurechtkamen; entweder sie überstanden das harte Training, oder sie wurden von der Liste der potentiellen Mitglieder des Marsteams gestrichen. Aber bei Brumados Tochter lagen die Dinge anders. Sie wollen sichergehen, daß sie ihre sechs Wochen hier schaffte, ohne die Brocken hinzuschmeißen.

Weil er nicht wußte, was er sonst tun sollte, sagte Jamie: »Ich verstehe. Okay, in Ordnung. Ich bleibe die nächsten sechs Wochen hier und helfe der Gruppe, so gut ich kann.«

Dr. Li lächelte, aber sein Lächeln wirkte auf Jamie eher traurig als fröhlich. »Vielen Dank, Doktor Waterman. Ich bin Ihnen zutiefst dankbar.«

Jamie stand auf. Dr. Li streckte ihm die Hand hin und wünschte ihm alles Gute.


Erst als er den Flur auf dem Rückweg zu seinem Quartier schon halb durchquert hatte, begriff Jamie, was Lis Bitte bedeutete. Er würde die nächsten sechs Trainingswochen versäumen. Er wurde gebeten, als spezieller Lehrer-Führer-Begleiter für Alberto Brumados Tochter zu fungieren.

Sie hatten ihn schon aus dem Aufgebot für die Marsmission gestrichen. Er war zum Ausbilder degradiert worden. Sie hatten also nicht im entferntesten die Absicht, ihn zum Mars fliegen zu lassen.

2

Sämtliche Wissenschaftler, die für die Marsmission in Betracht kamen, hatten einander natürlich bereits getroffen, und häufig mehr als einmal, da ihr Training eine Art Hüpfspiel mit Feldern in aller Welt war. Aber es war viele Monate her, daß Jamie Joanna Brumado gesehen hatte. Er hatte kaum ein Dutzend Worte mit der Frau gesprochen.

Jamie begab sich zum Eingangsbereich der schneebedeckten Basis, um sich von den Männern und Frauen, mit denen er trainiert hatte, zu verabschieden, und nicht so sehr, um die Neuankömmlinge willkommen zu heißen. Die Mitglieder seiner Gruppe sahen ihn bereits mitleidig an; aus ihren Blicken sprach Mitgefühl mit einem Mann, der es offenkundig nicht schaffen würde. Einige von ihnen scheuten in diesem letzten Moment beinahe vor ihm zurück, als hätten sie Angst, durch die Berührung eines Verlierers angesteckt zu werden.

Dr. Li zog einen Handschuh aus und schüttelte Jamie zum Abschied feierlich und wortlos die Hand. Seine Haut fühlte sich trocken und schlaff an, wie die einer tote Eidechse.


Jamie blieb an der Tür stehen, gerade eben außerhalb des schneidenden Windes, in seinen unförmigen Parka gehüllt, und sah zu, wie seine ehemaligen Teamkameraden zu dem wartenden Bus trabten, der sie zu dem aus dem Eisschelf herausgehauenen Flugplatz bringen würde. Der Bus wurde von einem riesigen Flachbagger mit einem Schneepflug vorne dran gezogen. Zuviel des Guten, dachte Jamie. Die Straßen der Basis waren gepflügt worden, und es hatte seit Tagen nicht mehr geschneit.

Zehn Personen in Parkas mit Kapuzen, in denen man Männer und Frauen nicht unterscheiden konnte, duckten sich gegen den eisigen Wind und sprinteten vom Eingang der Hütte zum Bus. Sie trugen allesamt silberne Metallkoffer und weiche Kleidersäcke bei sich – ihre kostbaren persönlichen Kleidungsstücke und ihre wissenschaftliche Ausrüstung. Alle bis auf den ausgemergelten Dr. Li, der nur seinen Laptop und einen kleinen Seesack dabei hatte. Die Vogelscheuche reist mit leichtem Gepäck, dachte Jamie.

Zehn ähnlich gekleidete und bepackte Gestalten arbeiteten sich durch den fauchenden Wind vom Bus zum Eingang vor, wo Jamie stand. Es fiel Jamie nicht schwer, die kleine Joanna Brumado unter den zehn auszumachen, die durch den Eingang strömten und sich nach dem kurzen Sprint vom Bus zur Tür der Hütte den pappigen Schnee von den Stiefeln stampften. Er sah auch, daß Antony Reed unter den Neuankömmlingen war.

Ebenso wie Franz Hoffmann.

Wortlos drehte Jamie sich zu der Holztreppe um, die zur Hauptetage der Hütte hinunterführte, und machte sich auf den Weg zu seiner Unterkunft.


Erst als die neue Gruppe kurz vor dem Mittagessen im Speisesaal zusammenkam, fand Jamie die Kraft, hinauszugehen und sie zu begrüßen.

Der Speisesaal war der größte Raum in der Hütte, die man dem Marsprojekt zur Verfügung gestellt hatte: Er bot vollen dreißig Personen an seinen langen Resopaltischen Platz. Joanna saß mit Tony Reed und Dorothy Loring, einer kanadischen Biologin, am Ende eines dieser Tische.

»Was dagegen, wenn ich mich dazusetze?« fragte Jamie.

Reed schaute auf. »Waterman? Was machen Sie denn noch hier?«

Jamie bemühte sich, eine ausdruckslose Miene beizubehalten, während er sich einen Stuhl heranzog.

»Ich bin gebeten worden, hierzubleiben und euch bei der Akklimatisierung zu helfen.«

Reed warf einen Blick zu Joanna hinüber, dann wandte er seine Aufmerksamkeit rasch wieder Jamie zu. »Ich verstehe.«

Das richtige Wort für Antony Reed war ›aalglatt‹. Er sah so aus, wie sich der Durchschnittsamerikaner einen Engländer aus der Oberschicht vorstellte, und tatsächlich war er auch beinahe einer. Sportliche, gleichwohl schmale und zierliche Figur, wie man sie von Tennis, Handball und vielleicht Polo bekommt. Hübsches Gesicht mit zierlichen Wangenknochen und scharf geschnittenem Profil. Ordentlicher kleiner Schnurrbart, sandfarbenes Haar, das ihm spitzbübisch in die Stirn fiel. Er trug einen königsblauen Overall mit exakter Bügelfalte und einen weißen Rollkragenpullover darunter, und es gelang ihm beinahe, den Eindruck zu erwecken, als sei das eine flotte Seglerkluft. Aber seine Augen waren zu alt für sein Gesicht, dachte Jamie. Eisblaue, kühl berechnende Augen.


Reed war Arzt. Er hatte es abgelehnt, die noble Praxis seines Vaters in London zu übernehmen, und es vorgezogen, als Fliegerarzt zum britischen Astronautenkorps zu gehen. Als die Europäische Gemeinschaft in das internationale Marsprojekt einstieg, hatte Reed sich sofort beworben. Er strahlte das ruhige Selbstvertrauen eines Mannes aus, der genau wußte, daß er zum Mannschaftsarzt der Marsexpediton ernannt werden würde.

Jamie setzte sich zwischen den Engländer und Joanna Brumado, die ihn zur Begrüßung anlächelte.

»Ich wußte gar nicht, daß Sie noch hierbleiben würden«, sagte sie im Flüsterton, wie ein kleines Mädchen, das dazu erzogen worden war, so leise wie möglich zu sein.

»Es war Doktor Lis Idee«, erwiderte Jamie knapp.

»Der Kommandant der Basis wird euch bei der Besprechung gleich nach dem Mittagessen alles erklären.«

»Ich möchte wissen, ob unser schlauer Chinese irgendeine Art mano a mano in petto hat«, sinnierte Reed.

Jamie hätte ihn am liebsten wütend angefunkelt, aber er beherrschte sich.

»Mano a mano?« fragte Dorothy Loring. »Wie beim Stierkampf?« Sie war eine grobknochige Blondine, die ihren dicken Sweater und ihre schwere Jeans wie eine zweite Haut trug, eine moderne, von Wikingern abstammende Walküre. Sie war auf der Farm ihrer Eltern in Manitoba aufgewachsen, hatte an der McGill University promoviert und gleich nach der Promotion am Salk Institute in La Jolla zu arbeiten begonnen.

Reed zeigte mit den Augen hin. Am anderen Ende des Tisches saß Franz Hoffmann, ganz für sich allein. Er blickte aufmerksam und mit gerunzelter Stirn auf den Bildschirm eines Computers, den er vor sich auf den Tisch gestellt hatte.

Jamie sagte nichts.

Joanna auch nicht, aber ihre Augen zeigten, daß sie Reeds Andeutung verstand. Es waren wunderbar sanfte braune Augen, groß und feucht, weit auseinanderstehend wie die eines Kindes. Joanna war klein und rund und verschwand fast in einem unförmigen braunen Sweater. Ihr herzförmiges Gesicht wurde von einer dunklen Masse von Haaren umrahmt, die sich dicht lockten, obwohl sie kurzgeschnitten waren. Für Jamie sah sie mit ihrem kleinen Wuchs und diesen großen braunen Augen, die bekümmert, ja beinahe verängstigt wirkten, wie ein heimatloses, verlorenes Kind aus.

»Unser Wiener Freund«, sagte Reed mit leiserer Stimme, »ist nicht sehr beliebt, fürchte ich.«

»Das sollten Sie nicht sagen«, wisperte Joanna.

»Warum nicht?« fragte Reed. »Guter Gott, der Mann hat den Charme eines preußischen Zuchtmeisters. Und die entsprechenden Tischmanieren.«

Loring brach in Gekicher aus und legte dann rasch die Hand vor den Mund, um es zu ersticken. Jamie, der von seinem Platz aus Hoffmann direkt vor Augen hatte, sah, daß der Österreicher kein einziges Mal von seinem Computer aufschaute und nicht einmal durch einen raschen Seitenblick zur Kenntnis nahm, daß außer ihm noch jemand im Raum war.

3


»Ich verstehe nicht«, sagte Franz Hoffmann. »Glaubt Doktor Li, daß ich einen Assistenten brauche? Einen Sherpa-Führer, der mir auch noch das Gepäck den Berg hinaufträgt?«

Jamie hielt seine aufkeimende Wut nur mit Mühe im Zaum.

Da er zu dem Schluß gekommen war, daß er Hoffmann in der engen, unter Schnee begrabenen Basis unmöglich aus dem Weg gehen konnte, wollte er versuchen, aus der Not eine Tugend zu machen, indem er dem Österreicher anbot, ihm bei der Fortsetzung der Meteoritensuche draußen auf dem Gletscher zu helfen.

Hoffmann war gerade dabei gewesen, seine Kleidung auszupacken, als Jamie an die halb offenstehende Tür seines Zimmers klopfte. Wie der Zufall es wollte, war es derselbe Raum, den Dr. Li gerade verlassen hatte. Hoffmann hatte ihn jedoch bereits in sein persönliches Reich verwandelt. Eine anderthalb Meter lange Fotomosaik-Karte des Mars war an die senkrechte Wand über dem Etagenbett gepinnt. An die gebogene Wand neben dem Schreibtisch hatte der Geologe ein kleineres Satellitenfoto des Markham-Gletschers geklebt, auf dem die Stellen, wo man Meteoriten gefunden hatte, bereits mit roten Kreisen markiert waren. Auf der vom Staat gestellten Kommode mit den drei Schubladen stand ein gerahmtes Farbfoto, eine pausbäckige junge Frau mit zwei kleinen Kindern auf den Armen, die unsicher in die Kamera lächelte.

»Hören Sie«, sagte Jamie und lehnte sich an den Türstock,

»Li hat mich gebeten, Ihre Gruppe während des sechswöchigen Aufenthalts hier zu unterstützen. Wenn Sie daran interessiert sind, die Suche nach Meteoriten fortzusetzen, bin ich gern bereit, Ihnen zu helfen.«


Hoffmann beäugte Jamie stumm, dann machte er sich wieder daran, zusammengelegte Kleidungsstücke aus einem großen Koffer auf dem Bett zu nehmen und in ordentlichen Stapeln in den Schubladen der Kommode zu verstauen.

»Ich kann Ihnen zumindest zeigen, welche Gebiete ich schon durchforstet habe«, sagte Jamie. »Außer, Sie wollen die Gebiete, in denen nichts gefunden worden ist, noch mal absuchen.«

»Diese Informationen sind doch in der Datenbank, oder nicht?« fragte Hoffmann.

Er war ungefähr so alt und so groß wie Jamie, wirkte aber dünn und beinahe schwächlich, während Jamie kräftig und gedrungen war. Hoffmann hatte runde Schultern und ein rundes Gesicht. Sein Haar wurde bereits grau und war so kurz geschnitten, daß es dicht am Schädel anlag. Sein Gesicht war der Inbegriff finster brütenden Mißtrauens – kleine, zusammengekniffene Augen und schmale, fest zusammengepreßte Lippen.

Wenn man ihm ein Monokel aufsetzen würde, dachte Jamie, dann sähe er wie ein alter Nazi-General aus.

»Ja, im Computer ist eine vollständige Datei von meinen Exkursionen auf den Gletscher«, erwiderte Jamie gelassen. »Aber wenn man erst mal da draußen auf dem Eis ist, verlieren die Computerdaten viel von ihrer Bedeutung. Nicht mal die Satellitenbilder sind da draußen noch eine große Hilfe.«

»Ich habe schon Arbeit im Gelände gemacht«, sagte Hoffmann steif. »Ich bin im Schatten der Alpen geboren. Das ist mir alles keineswegs neu.«

»Wie Sie meinen«, sagte Jamie. Er wandte sich zum Gehen.

»Warten Sie.«

»Wozu?«


Hoffmann stand mitten im Zimmer. Seine Finger trommelten ungeduldig an die Seiten seiner schweren Wollhose, ohne daß er es merkte.

»Sagen Sie«, sein Ton war nicht mehr ganz so scharf, »wie kommt Doktor Li darauf, daß ich einen Assistenten brauche?«

»Es ist nicht…«

Hoffmann ließ Jamie nicht aussprechen. »Sie hatten keinen Assistenten. Keiner der anderen Geologen hat Assistenten. Ist Li etwa der Meinung, daß ich unfähig bin? Glaubt er, ich schaffe es nicht allein? Will er mich auf diese Art dezent loswerden?«

Jamie merkte, wie ihm das Kinn herunterfiel. Hoffmann war ebenso besorgt und ängstlich wie er. Hinter der spröden Fassade steckte ein Mann, der genau wie Jamie Angst davor hatte, auf der Strecke zu bleiben.

Mist! knurrte Jamie in sich hinein. Es wäre so viel einfacher, wenn ich den Kerl hassen könnte.

4

Nach dem Mittagessen und der kurzen Einführungsansprache des Kommandanten der Basis verbrachte Jamie den Rest des Tages damit, alle Neuankömmlinge einzeln zu begrüßen und ihnen zu erklären, daß er dazu da sei, ihnen auf Wunsch mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Er fühlte sich unwohl und kam sich eher wie ein unerwünschter und nicht benötigter Gehilfe als wie ein geschätzter Verbündeter vor, dem man vertraute.

Sein Inneres war in Aufruhr wegen Hoffmann. Gehe eine Meile in den Mokassins des anderen, dachte er. Klar. Tolle Idee. Kein Wunder, daß die Indianer von den Weißen überrannt worden waren.

Nach seinen Gesprächen mit den ersten drei Neuankömmlingen hatte Jamie eine kleine Rede fertig, die rasch und mit einem Minimum an Peinlichkeit erklärte, warum er in der Basis geblieben war und was er ihnen anbot. Die Reaktionen der Neuankömmlinge variierten von Hoffmanns Angst, für unzulänglich gehalten zu werden, bis zu Tony Reeds zynischem, wissendem Lächeln.

»Ist die kleine Joanna darüber im Bild, daß Sie ihren persönlichen Begleiter spielen sollen?« fragte Reed.

»Ich glaube nicht, daß jemand es ihr mitgeteilt hat«, erwiderte Jamie.

Reeds schiefes Grinsen wurde beinahe höhnisch. »Sie müßte ja ein Dummkopf sein, wenn sie nicht von selbst darauf käme.«

»Mag sein«, sagte Jamie.

Er hatte sich Joanna bis zuletzt aufgehoben, und jetzt, wo er so frustriert und erschöpft war wie in dem Winter, als er mit dem Fahrrad durch sein Viertel in Berkeley gefahren war und versucht hatte, Zeitschriftenabonnements zu verkaufen, klopfte er an die Tür ihres Zimmers.

Sie öffnete die Tür, blickte zu ihm auf und lächelte.

»Kommen Sie herein«, sagte Joanna Brumado mit ihrer Kleinmädchenstimme. »Setzen Sie sich.«

Sie hatte immer noch den Sweater und die Jeans an, in denen sie angekommen war. Ihr Zimmer war ordentlich aufgeräumt, geleerte Koffer stapelten sich in der gegenüberliegenden Ecke, der Kleidersack hing hinter der Tür. Ihr Laptop stand offen auf dem Schreibtisch, aber der Bildschirm war dunkel und stumm.


An den Wänden hingen keine Bilder, und es waren keine persönlichen Dinge zu sehen.

Jamie nahm auf dem Stuhl Platz, der neben dem Bett stand.

»Wie ich schon allen anderen erzählt habe«, begann Jamie,

»hat Doktor Li mich gebeten, hier in McMurdo zu bleiben, um Ihnen und dem Rest Ihrer Gruppe zu helfen, die sechs Wochen hier möglichst leicht und gewinnbringend zu überstehen.«

Joanna ging zum Schreibtisch, setzte sich auf den Stuhl dahinter und verwandelte den Schreibtisch auf diese Weise in eine schützende Barriere.

Mit völlig ernster Miene sagte sie: »Wir können ehrlich zueinander sein, James.«

»Jamie.«

Ihre Lippen verzogen sich nicht zu einem Lächeln. Ihre leuchtenden dunklen Augen schauten düster drein. »Sie sind hier, um dafür zu sorgen, daß ich diesen Teil des Trainings durchstehe. Sie sind dageblieben, weil ich Alberto Brumados Tochter bin, und aus keinem anderen Grund.«

Na, ein Dummkopf ist sie also nicht, sagte sich Jamie. Sie gibt sich keinen Illusionen hin. Macht sich nichts vor.

»Doktor Li hat mich gebeten zu bleiben«, sagte er.

»Meinetwegen.«

»Es war seine erste große Entscheidung als Expeditionskommandant.«

Ihre Augen ließen seine nicht los. »Und was ist mit Ihrem Training? Ihre eigene Gruppe macht doch mit dem regulären Programm weiter, nicht wahr?«

»Sie gehen nach Utah, ja.«

»Und Sie?«


Jamie zwang sich, die Schultern zu heben. »Ich habe den Sommer meistens in New Mexico verbracht. Vielleicht meint Doktor Li, daß ich nicht noch mehr Zeit in der Wüste brauche.«

Joanna schüttelte den Kopf. »Er hat Sie gebeten, hierzubleiben? Er selbst? Persönlich?«

»Ja.«

»Und Sie haben sich einverstanden erklärt?«

»Was hatte ich denn für eine Wahl? Hätte ich Li sagen sollen, daß ich mich weigere, seiner ersten größeren Entscheidung zu gehorchen? Wie sähe das in meiner Akte aus?«

Sie biß sich auf die Unterlippe. »Ja, er hat Ihnen eigentlich gar keine Wahl gelassen, nicht wahr?«

»Nun, ich bin hier und Sie sind hier, also sollten wir versuchen, das Beste daraus zu machen.«

»Aber Sie verwirken Ihre Chance, bei der Mission mit dabei zu sein, und das nur meinetwegen.«

»Ich glaube, das ist schon entschieden«, sagte Jamie, überrascht von der unüberhörbaren Bitterkeit in seinem Ton.

»Ich könnte meinen Vater anrufen«, sagte Joanna zögernd.

Sie wandte den Blick ab. »Ich könnte ihm sagen, was Doktor Li Ihnen angetan hat.«

Jamie versuchte, hinter ihre Worte vorzudringen, zu verstehen, was in ihr brodelte. Sie war nicht wütend, aber etwas strahlte von dieser elfenhaften Frau aus, die dort hinter dem Schreibtisch saß. War es Angst? Verbitterung? Oder auch Ärger über die Ungerechtigkeit?

»Haben Sie Angst, daß die anderen denken könnten, Sie würden besonders behandelt?«

»Ich werde doch besonders behandelt!«


»Und das gefällt Ihnen nicht?«

»Es könnte Sie Ihre Chance kosten, bei der Mission mit von der Partie zu sein.«

»Aber es ist wichtig für Ihren Vater, daß Sie zum Mars fliegen.«

Ihre Augen wurden noch größer.

»Ist es auch wichtig für Sie?« fragte Jamie.

»Wichtig? Daß ich zum Mars fliege?«

»Ganz recht.«

»Natürlich ist das wichtig! Glauben Sie, ich bin nur hier, um mir die Wünsche meines Vaters zu eigen zu machen und sie zu befriedigen?«

Irgendwo in seinem Innern registrierte Jamie, daß Joanna schön war. Ihr Körper war jedenfalls durchaus erwachsen; nicht einmal der unförmige Sweater konnte das verbergen. Es war ihr Gesicht, das ihr das verlorene, schutzlose Aussehen eines Straßenkindes verlieh, verletzlich, aber wissend. Und diese leise, flüsternde Stimme. Ihre tiefen braunen Augen waren groß und fast so dunkel wie die von Jamie.

Jamie schaute in diese leuchtenden Augen und sah Gefühle, die miteinander im Widerstreit lagen. Wovor hat sie Angst, fragte er sich. Sie sagt, sie will nicht die Schachfigur ihres Vaters sein, aber sie will auch keinesfalls auf der Strecke bleiben.

Das ist unverkennbar. Sie will zum Mars. Unbedingt.

»Ich werde Ihnen helfen«, sagte er. »Das ist jetzt mein Job.«

»Ich rufe meinen Vater an und erzähle ihm, was Doktor Li mit Ihnen gemacht hat. Es ist nicht fair, daß…«

Jamie brachte sie mit erhobener Hand zum Schweigen. »Sie wollen doch nicht, daß Li und Ihr Vater Ärger miteinander bekommen. Das wäre schlecht für alle – und erst recht für Sie.«


»Aber Sie. Was ist mit Ihnen?«

Er lächelte gezwungen. »Die Navajos glauben, daß ein Mensch im Gleichgewicht mit der Welt um sich herum sein muß. Das bedeutet manchmal, daß man Dinge hinnehmen muß, die einem nicht besonders gefallen.«

»Das ist Stoizismus.«

»Ja, das ist es wohl«, sagte Jamie und gab sich alle Mühe, seine wahren Gefühle zu verbergen.

5

Ich wünschte wirklich, Pater DiNardo wäre hier, sagte sich Antony Reed zum zwanzigsten Mal an diesem Vormittag. Er ist der einzige, der diesen österreichischen Musterknaben in seine Schranken weisen könnte.

Reed saß an seinem Schreibtisch in dem kleinen Raum, der als Krankenrevier der Basis diente. Man hatte den Schnee vor dem einzigen Fenster des Raumes weggeschaufelt; blasses Sonnenlicht fiel herein, und durch die Dreifachscheiben zeigte sich ein milchiger, perlgrauer Himmel. Anstelle der Bücherregale und Geräteborde, mit denen die meisten Büros in der halb begrabenen Basis vollgestopft waren, enthielt das Krankenrevier einen Untersuchungstisch und medizinische Apparate.

Reed teilte sich den Raum mit dem ›Haus‹-Arzt, einem Stabsarzt, der sich um die alltäglichen medizinischen Bedürfnisse der regulären Besatzung der Basis sowie der Marsrekruten kümmerte. Reeds Arbeit hatte mehr mit dem Computer auf dem Schreibtisch als mit Tabletten und Verbänden zu tun.

Für die Mitglieder des Trainingsteams fungierte er eher als Psychologe denn als Sanitätsoffizier.


Der Computerbildschirm zeigte, daß er als nächstes einen Termin mit Franz Hoffmann hatte. Reed verabscheute den österreichischen Geologen, verabscheute alles an ihm – besonders seine angeblichen Erfolge bei den weiblichen Trainingsteilnehmern. Er fragte sich immer wieder, wie eine anständige Frau mit einiger Selbstachtung sich von diesem arroganten Neonazi anfassen lassen mochte.

Doch die Geschichten waren zweifellos wahr. Hoffmann konnte charmant sein und mit Frauen umgehen. Und Reed merkte, daß er ihn darum beneidete.

Er beugte sich auf dem knarrenden Drehstuhl vor und ließ die Finger über die Tastatur des Computers fliegen. Er hatte Zugriff auf sämtliche Details der medizinischen und psychologischen Unterlagen aller Mitglieder des Trainingsteams. Vielleicht gab es bei Hoffmann etwas, mit dessen Hilfe man ihn für die Mission disqualifizieren konnte.

Eifrig durchsuchte Reed Hoffmanns Dossier. Der Gedanke, mit dem Österreicher neun Monate in einem engen Raumschiff verbringen zu müssen, deprimierte ihn zutiefst.

Nichts. Seine Akte war makellos. Sogar eindrucksvoll. Doktortitel in Physik und Geologie. Hervorragender Gesundheitszustand. Keinerlei aktenkundige psychologische Probleme bisher; soweit es den Unterlagen zu entnehmen war, hatte er nur ein einziges Mal Kontakt zu Psychologen gehabt, nämlich als er die Standardtests absolviert hatte, die zu den Voraussetzungen für die Teilnahme am Marsprojekt gehörten. Die Testergebnisse waren jämmerlich normal. Entweder ist er wirklich so langweilig, wie er zu sein scheint, oder er ist ein Meister darin, seine wahre Persönlichkeit zu verbergen, dachte Reed.


Natürlich kein Hinweis auf seine Affären. Solche Informationen gelangten selten in die Akte. Außer wenn es einen Vorfall gab, der so schlimm war, daß er nicht vertuscht werden konnte.

»Ahhh!« sagte Reed mit leiser Stimme, aber vernehmlich. Ein Vorfall, der so schlimm war, daß er nicht vertuscht werden konnte. Vielleicht ließ sich so etwas inszenieren.

Er brauchte ein Opfer. Eine Frau, die an Hoffmanns Annäherungsversuchen nicht nur Anstoß nehmen, sondern auch Stunk deswegen machen würde. Und er hatte auch schon eine im Auge.

Er ging die Dateien rasch durch und fand die Frau. Ihr Hintergrund und ihr Persönlichkeitsprofil waren nahezu ideal.

Nach dem, was Reed aus dem persönlichen Kontakt über sie wußte, würde die flegelhafte Art des Österreichers sie erschrecken und empören.

»Ist einen Versuch wert«, murmelte Reed, und ein schiefes kleines Lächeln breitete sich auf seinem hübschen Gesicht aus.

»Ich könnte mich sogar bereit finden, das arme Frauenzimmer hinterher zu trösten.«

Er löschte den Bildschirm und schaute erwartungsvoll zur Tür. Genau zum verabredeten Zeitpunkt klopfte Franz Hoffmann einmal an, öffnete dann die Tür und betrat das Krankenrevier. Er sah aus, als wäre er bereit, einen Ritterschlag zu empfangen. Das runde Gesicht war rasiert und rosarot geschrubbt, das Haar mit Gel zurückgekämmt, und er trug ein frisches, steifes Hemd und eine Hose mit einer Bügelfalte, mit der man Brot schneiden konnte. Sogar seine Schuhe waren poliert.

»Kommen Sie rein, kommen Sie rein«, sagte Reed vergnügt.


Während der oberflächlichen Untersuchung hatte Reed Mühe, ernst zu bleiben. Er mußte immer wieder an Brownings wundervolles Selbstgespräch im spanischen Kloster mit seiner perfekten Schlußzeile denken: »G-r-r – du Schwein!«

Reed plauderte freundlich und in seinem besten Ärzteton mit dem Österreicher. Hoffmann standen im Gespräch nur zwei Verhaltensweisen zu Gebote, soweit Reed erkennen konnte: entweder finsterer Argwohn oder blasierte Überheblichkeit. Der Österreicher nahm Reeds Freundlichkeit für bare Münze und reagierte darauf mit einem Hochmut, der Reed rasend machte. Er merkt nicht einmal, daß er es tut, dachte Reed.

Was ihm erst recht das Genick brechen würde.

Während er Hoffmanns Blutdruck maß, ihn bat, sich auf den Tisch zu legen, damit er ein EKG machen konnte, und hier und dort auf ihm herumklopfte, brachte Reed langsam und geschickt das Gespräch auf das Thema Frauen.

»Ich weiß nicht, wie Sie das machen«, sagte er gewandt. »Bei hübschen Mädchen scheine ich zwei linke Hände zu haben.«

»Das liegt wahrscheinlich an Ihrem Schulsystem«, erwiderte Hoffmann hochnäsig. »Ihr Engländer werdet auf Jungenschulen geschickt. Außer euren Müttern und Kindermädchen bekommt ihr keine Frauen zu sehen, bis ihr euren Collegeabschluß macht. Daher gibt es bei euch auch so viele Homosexuelle.«

Reed setzte ein sonniges Lächeln auf. G-r-r – du Schwein!

dachte er im stillen.

»Die meisten jungen Frauen suchen Vaterfiguren«, erläuterte Hoffmann. »Es ist gar nicht nötig, sie großartig zum Abendessen auszuführen; stellen Sie ihnen gegenüber nur eine Mischung aus Autorität und Freundlichkeit zur Schau, und sie werden Ihnen geradezu ins Bett fallen.«

»Ist das wahr?«

»Bei mir hat es immer geklappt. Die einzige Schwierigkeit ist, daß sie manchmal nicht merken, wann die Affäre vorbei ist.

Man braucht großes Geschick, um sie wieder loszuwerden. Jedenfalls mehr, als um sie ins Bett zu bekommen.«

»Hmm, darüber habe ich noch nie nachgedacht.«

»Bei dieser Mission hier muß man natürlich sehr vorsichtig und sehr diskret sein. Und sich die Frauen genau aussuchen.

Die einen wissen, was sich gehört, die anderen nicht.«

»Ja, ich verstehe.« Reed schwieg gerade lange genug, um sich ein Lachen zu verbeißen. »Woran erkennt man denn, wer zu welcher Sorte gehört?«

Hoffmann setzte ein öliges, durchtriebenes Lächeln auf und winkte Reed näher zu sich heran.

»Sie testen Ihre Versuchspersonen natürlich vor dem Flug«, flüsterte er. »Was sollte ein guter Wissenschaftler sonst tun?«

»Die Versuchspersonen testen? Oh, natürlich. Tun Sie das gerade?«

Etwas flackerte in Hoffmanns Augen auf. Eine Ahnung von Gefahr vielleicht. Die Erkenntnis, daß er zuviel redete.

»Ein Gentleman schweigt und genießt«, erwiderte er ein wenig steif.

Reed zog eine Augenbraue hoch. »Ja, mir ist schon klar, daß es heikel werden könnte, wenn man mit den Frauen hier etwas anfängt. Das Thema ›Sex während der Mission‹ bereitet den Projektmanagern großes Kopfzerbrechen. Sie wollen nicht, daß das reibungslose Funktionieren des Teams derart gestört wird, wissen Sie.«


Hoffmann zog ebenfalls eine Augenbraue hoch. »Vielleicht würde das Team reibungsloser funktionieren, wenn bei dem Unternehmen eine gewisse Menge Schmiermittel im Spiel wäre.«

»Schmiermittel! Das ist gut!«

Hoffmann schaute selbstzufrieden drein, sagte aber nichts mehr.

»Wissen Sie.« – Reed senkte die Stimme dabei zu einem verschwörerischen Flüstern – »in der Gruppe hier gibt es eine Frau, die Sie sehr aufmerksam beobachtet hat.«

»Ach ja?«

»Sie hat mir gegenüber nichts gesagt, verstehen Sie, aber mir ist nicht entgangen, daß sie von Ihnen fasziniert ist. Und wenn je eine junge Frau zu einer Vaterfigur aufgeblickt hat, dann sie.«

»Wer?«

»Nun, Joanna Brumado natürlich. Wußten Sie das nicht?«

6

Jamie schob den Gang zum Speisesaal hinaus, bis er sicher war, daß die meisten anderen bereits gegessen hatten und in ihre jeweiligen Unterkünfte zurückgekehrt waren. Die Mitglieder der regulären McMurdo-Besatzung teilten sich die Schlafräume größtenteils mit den Forschern, die zu Besuch kamen; nur das Marsprojekt leistete es sich als einzigen Luxus, jedem Teilnehmer ein Einzelzimmer zur Verfügung zu stellen.

Jamie hatte den Tag damit verbracht, mit den Neuankömmlingen zu reden, und sie und sich selbst damit in Verlegenheit gebracht. Nun wollte er mit keinem von ihnen mehr sprechen.

Nicht an diesem Abend.

Tatsächlich war der Speisesaal beinahe leer. Ihm wurde klar, daß es ein langer Tag für die Neuankömmlinge gewesen war.

Der Flug von Christchurch hierher dauerte selbst bei gutem Wetter zehn Stunden. Dann auspacken, sich in dieser spartanischen, gottverlassenen Basis einrichten – die meisten Neuankömmlinge lagen bereits in ihren Betten. Nur ein paar von ihnen saßen noch an einem der langen Eßtische, hockten müde über den Resten ihres Abendessens und unterhielten sich leise.

Ein halbes Dutzend reguläre Techniker und Wartungsleute der Basis saßen in der Nähe der abgenutzten alten Kaffeemaschine und spielten Karten.

Jemand hatte eine Kassette in den Recorder oben am schneebedeckten Fenster gesteckt: ein leise klagendes altes Country-Lamento: »Mamas, don’t let your babies grow up to be cowboys…« Mütter, laßt nicht zu, daß eure Kinder später einmal Cowboys werden.

Oder Wissenschaftler, sagte sich Jamie, während er ein Tablett nahm und zur Selbstbedienungstheke hinüberging. Er merkte, daß er keinen Appetit hatte, und begnügte sich mit einem Stück des matschigen, aufgetauten Kuchens und einem Becher Kaffee. Dann ging er in die hinterste Ecke des Speisesaals hinüber und setzte sich allein ans Ende eines leeren Tisches.

Niemand schenkte ihm irgendwelche Aufmerksamkeit. Das war Jamie durchaus recht. Er war jetzt ein Außenseiter, ein Paria, und alle wußten es.

Dann kam Joanna herein. Sie trug ein dunkelgrünes Männerhemd aus Sämischleder, das sie wie ein Zelt umhüllte: Die Schultern hingen fast bis zu den Ellbogen herab, die Hemdschöße schlackerten ihr um die Knie. Sie hatte die Ärmel hochgekrempelt, und darunter trug sie ein weißes T-Shirt und eine genoppte Laufhose. Bequeme Freizeitkleidung, sah Jamie. Sie wirkte jedoch nicht schlampig; leger, aber nicht ungepflegt.

Joanna ging schnurstracks zur Kaffeemaschine und schenkte sich einen dampfenden Becher voll ein. Dann schaute sie sich in dem nahezu leeren Speisesaal um, sah Jamie und kam an seinen Tisch.

»Ich konnte nicht einschlafen«, sagte sie und setzte sich an die Ecke des Tisches rechts neben ihm.

Jamie nickte zum Kaffeebecher. »Das wird Ihnen dabei nicht helfen.«

Sie lachte leise. »Oh, Koffein hält mich nicht wach. Ich bin mit Kaffee großgezogen worden.«

»In Brasilien.«

»Ja.«

Wie zum Beweis für ihre Behauptung trank Joanna einen großen Schluck und stellte den Becher auf die Resopalplatte.

Jamie hätte sich gerne verdrückt, aber er wußte nicht wie.

Joanna sagte: »Wie ich höre, sind Sie Indianer.«

»Ein halber Navajo.«

»In Brasilien würde man Sie als Mestizen bezeichnen. Ich bin selber eine Mestizin. Mein Vater und meine Mutter sind auch beide Mestizen. In Brasilien gibt es Millionen von uns. Dutzende Millionen in Lateinamerika, von Mexiko südwärts.«

»Und zwei hier in der Antarktis«, sagte Jamie.

Sie lachte wieder, ein vergnügter, fröhlicher Laut. Sie wirkte nicht mehr so angespannt wie zuvor, und ihre Stimme war kräftiger. »Ja, zwei von uns sind hier.«


Jamie erwiderte ihr Lächeln. Sie begannen miteinander zu plaudern, locker und ruhig. Er merkte, wie er sich mit ihr zusammen entspannte.

Sie erzählte ihm von Sao Paulo und Rio, von den armen Bauern und Dorfbewohnern, die sich in einem solch reißenden Strom in die Städte ergossen hatten, daß diese zu einer einzigen, über dreihundert Kilometer langen urbanen Megacity angeschwollen waren, die sich von den Stränden bis zu den Bergen im Landesinneren erstreckte, funkelnde Hochhaustürme für die Reichen, ausgedehnte, schmutzige Slums für die Armen und ein giftiger, die Lungen zerstörender Smog für alle.

Jamie ertappte sich dabei, wie er ihr von Berkeley und der Bay erzählte, von dem schönen, erdbebengefährdeten San Francisco und den goldenen, fruchtbaren Tälern Kaliforniens.

Und dann von New Mexico und seinem Großvater.

»Al hält sich für einen Navajo, aber er handelt wie ein weißer Geschäftsmann. Er bringt es fertig, jedem zu erzählen, daß ein Mann nicht reich werden kann, wenn er sich richtig um seine Familie kümmert, aber er besitzt die Hälfte aller Baugrundstücke im nördlichen Santa Fe.«

Jamie verlor jedes Zeitgefühl, während er sich mit Joanna unterhielt. Sie fragte ihn, ob er eine Freundin habe, und er erzählte ihr, daß er in Houston mit einer Fernsehmoderatorin zusammengewesen sei.

»Aber es ist nichts Ernstes«, fügte er rasch hinzu. »Was ist mit Ihnen? Sind Sie verheiratet? Verlobt?«

Joanna schüttelte den Kopf. »Nein. Ich lebe mit meinem Vater zusammen. Meine Mutter ist vor etlichen Jahren gestorben.«


Dann fragte sie: »Wann ist bei Ihnen das Interesse daran erwacht, zum Mars zu fliegen?«

»O Gott, das ist schon so lange her, daß ich mich nicht mal mehr dran erinnern kann… Moment, ja, doch.« Die Erinnerung wurde hell und scharf. »In der Grundschule. Wir haben einen Klassenausflug ins Planetarium gemacht. Dabei ging es ausschließlich um den Mars.«

»Ah«, sagte Joanna. »Bei mir war es natürlich mein Vater.

Wir haben jeden Abend beim Essen und jeden Morgen beim Frühstück immer über den Mars gesprochen.«

»Ich habe daraufhin alles über den Mars gelesen, was ich in die Finger bekam. Romane und Sachbücher. Ziemlich bald fand ich die wissenschaftlichen Bücher viel interessanter als die Romane.«

»Sind Sie deshalb Wissenschaftler geworden?«

Jamie überlegte einen Augenblick lang. »Ja, ich glaube schon.«

»Aber weshalb Geologe?« fragte sie.

Mit einem Grinsen erwiderte Jamie: »Man kann nicht lange im Südwesten leben, ohne Geologe zu werden. Haben Sie schon mal den Grand Canyon gesehen? Oder den Barringer-Meteoritenkrater?«

Joanna schüttelte den Kopf.

»Die Berge, die Felsen – sie sind wie Bilderbücher, in denen die Geschichte des Planeten verzeichnet ist.«

»Und der Mars?«

Er zuckte die Achseln. »Eine neue Welt. Auf die noch niemand einen Fuß gesetzt hat.«

Jamie hatte an der Uni zwei Hauptfächer belegt: Geologie und Planetologie. Er wollte kein Steinschnüffler unter vielen werden oder bei einer Ölfirma landen. Er wollte herausfinden, was die Welt zu dem macht, was sie ist; nicht nur die Erde, sondern auch die anderen Planeten.

Aber es gab keine Jobs in der Planetologie, als er mit seinem brandneuen Doktortitel von der Uni abging. Deshalb nahm er nach der Promotion eine Stelle am CalTech an und verbrachte ein Jahr mit der Jagd nach Meteoriten. Als das Jahr um war, bekam er eine Assistenzprofessur in Albuquerque und glaubte, daß er den Rest seines Lebens damit verbringen müßte, zukünftige Ölsucher zu unterrichten und im Sommer Arbeit im Gelände zu machen. Er war gerade in Kanada und untersuchte Astrobleme, die Narben uralter Meteoriteneinschläge, als das Marsprojekt seinen ersten Ruf nach Wissenschaftlern aussandte.

»Eine neue Welt«, sagte Joanna. »Haben Sie sich deshalb zum Training angemeldet?«

»Meine Eltern waren dagegen. Sogar mein Großvater hatte seine Zweifel. Aber ich mußte es versuchen, es riskieren. Ich wollte kein x-beliebiger Assistenzprofessor werden, der auf eine Festanstellung hinarbeitet. Wenn sie zum Mars flogen, dann nicht ohne…« – Jamie erkannte auf einmal, wo er war und womit er sich einverstanden erklärt hatte – »…ohne mich«, schloß er lahm.

Joanna legte ihre Hand auf seine. Eine kleine, weiche, frauliche Hand, blaß gegenüber der seinen, die von der jahrelangen Arbeit im Gelände aufgerauht und von der Sonne gegerbt war.

»Ich werde meinem Vater schreiben«, sagte sie leise. »Vielleicht kann er etwas tun.«


Jamie sagte nichts, aber er dachte trübsinnig, sie haben schon eine Halbindianerin im Team für den Mars. Da brauchen sie nicht auch noch eine männliche Ausgabe.

7

Es war kalt im Hubschrauber. Kalt und laut. Der große Chopper knatterte und schwankte im böigen Wind, der vom Gipfel des Mount Markham herabwehte. Jamie warf einen Blick aus dem Fenster in der ratternden, vibrierenden Frachtluke und sah die weite weiße Fläche des Gletschers, die sich unter ihnen erstreckte, ihm grelles Sonnenlicht in die Augen reflektierte und glitzerte, wo der Wind den Schnee zu riesigen Dünen aufgehäuft hatte.

»Etliche der Meteoriten, die in diesem Gebiet gefunden worden sind, kommen erwiesenermaßen vom Mond«, erklärte Hoffmann Joanna. Er brüllte, um sich über das Dröhnen der Turbinentriebwerke hinweg verständlich zu machen.

Sie saß auf dem mittleren Sitz, den Sicherheitsgurt straff über Schultern und Schoß geschnallt, die behandschuhten Hände zu festen kleinen Fäusten geballt, den Kopf Hoffmann zugewandt, so daß sie nicht in die trostlose Welt aus Eis unter ihnen hinausschauen mußte.

Hoffmann dozierte mit voller Lautstärke. Für jeden anderen hätte es wie der Gipfel der Arroganz geklungen, aber Jamie wußte, daß der Österreicher ebensoviel Angst hatte wie Joanna. Er redete, um nicht die Selbstbeherrschung zu verlieren, erzählte Joanna jede kleine Einzelheit über die Meteoriten, die auf dem Gletscher gefunden worden waren.


Von mir, dachte Jamie säuerlich. Ich habe die verdammten Meteoriten gefunden. Davon sagt dieser Typ kein Wort.

»Hat man welche davon definitiv als Marsgestein identifiziert?« brüllte Joanna zurück.

»Nur zwei haben Vergleichen mit Steinen standgehalten, die von den unbemannten Sonden vom Mars mitgebracht worden sind«, schrie Hoffmann. »Und diese beiden hat man schon vor über zwanzig Jahren gefunden. Keiner der in letzter Zeit entdeckten Meteoriten hat sich als marsianischen Ursprungs erwiesen.«

»In den Oberflächenrissen einiger Steine, die anderswo in der Antarktis gefunden wurden, gibt es eine lebende Mikroflora«, rief Joanna und verlagerte das Thema auf ihr Fachgebiet, um die anstrengende Unterhaltung in Gang zu halten und nicht daran denken zu müssen, wie es sein würde, wenn sie auf dem Eis dort draußen allein waren.

»Ja, ich weiß«, erwiderte Hoffmann. »Ein Art Flechte, die sich vor dem Wind schützt, indem sie sich in den Oberflächenrissen ansiedelt.«

»Sie sind nahe genug an der Oberfläche, um Sonnenlicht für die Photosynthese aufzufangen.«

»Und sie nehmen auch Wärme aus dem Stein auf, wenn er von der Sonne aufgeheizt wird, nicht wahr?«

»Ja«, brüllte Joanna. »Wasser bekommen sie aus dem Eis, das die Steine überzieht.«

Jamie hörte das alles nicht zum ersten Mal. Und die beiden natürlich auch nicht. Er war jedoch bereits draußen auf dem Gletscher gewesen, sie aber nicht.

Der Hubschrauber landete in der Nähe der Stelle, die Hoffmann für die Suchaktion dieses Tages ausgewählt hatte, und hob dann in einem dröhnenden Wirbel aus Schnee- und Eispartikeln wieder ab, die den makellosen Himmel in ein Kaleidoskop funkelnder Regenbogenfarben verwandelten. Jamie sah zu, wie der Vogel im klaren Blau verschwand, bis das Geräusch seiner Turbinen im Brausen des Windes unterging, der vom Gletscher herabkam.

Zu dritt standen sie vor dem kristallklaren Himmel, angetan mit pelzgefütterten, elektrisch beheizten Kapuzenparkas, Überhosen, Gesichtsmasken und Brillen, dick gefütterten Handschuhen und schweren Stiefeln mit Spikes. Sie hatten langstielige Eispickel dabei, die zugleich als Gehstöcke dienten. Eine Palette mit Geräten, Verpflegung und einer Notfallausrüstung stand neben ihnen, auf glatte, teflonbeschichtete Gleitkufen montiert, die Eis ebenso leicht überqueren konnten wie Tiefschnee.

»Danach wird der Mars ein Klacks sein«, sagte Jamie. Es sollte aufmunternd klingen, aber es kam anders heraus.

Vier Stunden später stapften sie über das aufgebrochene, unebene Eis, wobei sie sich schwer auf ihre Eispickel stützten.

Die beiden Männer zogen abwechselnd den Schlitten mit der Ausrüstung hinter sich her.

Der Wind brauste wie ein reißender Strom erbarmungslos den Gletscher herab, heulend wie die Inkarnation des Bösen.

In ihren elektrisch beheizten Parkas und Überhosen kamen sie kaum voran; der brüllende Wind schüttelte sie durch und schlug wie eine wütende Bestie nach ihnen, die sie umwerfen und ihnen die Lebenswärme aussaugen wollte.

Trotz des beheizten Anzugs merkte Jamie, wie die Kälte an ihm zupfte und zerrte, wie sie ihre eisigen Finger unter seine Gesichtsmaske und die Kapuze des Parkas steckte, sich an seinen Handschuhen vorbei in seine Ärmel schlängelte. Die Luft war so kalt, daß Jaimies Nasengänge trotz der Vorheizung durch die Gesichtsmaske wund wurden. Jeder Atemzug schmerzte.

Es wäre besser, wenn wir die Raumanzüge benutzen könnten, dachte er. Dann wären wir von Kopf bis Fuß von ihren isolierten, harten Schalen umhüllt. Aber die Anzügen waren so schwer, daß man sie auf der Erde nicht tragen konnte.

Zum hundertsten Mal richtete Jamie sich auf und wischte sich mit einer behandschuhten Hand über seine zufrierende Brille. Die anderen beiden blieben stehen, wenn er es tat; sie waren mittlerweile verstummt und keuchten vor Anstrengung. Jamie sah die kleinen Dampfwolken, die aus ihren Masken hervorkamen. Es kostete einen Haufen Energie, bei einer solchen Kälte auch nur in Bewegung zu bleiben.

Seine beiden Schützlinge versuchten einfach nur, den Tag zu überstehen. Jamie dagegen suchte nach einem Stück vom Mars, das möglicherweise zur Erde gekommen war. Zeig mir einen dunklen Stein, Gletscher, flehte Jamie stumm. Nur einen.

Einen, der vom Mars gekommen ist. Versteck ihn nicht vor mir. Laß ihn mich finden. Bald.

Er wußte, daß der Gletscher seine Geheimnisse tief in seinem eisigen Busen bewahrte. Hier draußen waren uralte Meteoriten versteckt, Brocken aus Stein und Metall, die vor Ewigkeiten vom Himmel gefallen waren und sich in den Schnee gegraben hatten. Doch hin und wieder arbeitete sich ein Stein an die Oberfläche vor. Jamie suchte das Eisfeld nach solch einem Meteoriten ab und betete, daß der Gletscher sich großzügig erweisen möge.


Verbirg deine Geheimnisse nicht vor mir, sagte er im stillen zu dem Gletscher. Zeig mir die Steine vom Mars. Sie gehören dir nicht; sei so nett und gib sie her.

Aber der Gletscher war so groß. Er war ein Fluß, der seit Jahrmillionen gefroren war, breiter und mächtiger als jeder Amazonas aus flüssigem Wasser. Er floß nur ein paar Zentimeter pro Tag, dennoch war er unerbittlich und unaufhaltsam auf seiner geduldigen Reise vom Gipfel des Mount Markham zur vierhundert Meter dicken Kruste des Ross-Eisschelfs hinunter.

Jamie war schon oft draußen auf dem Gletscher gewesen, aber eine solche Kälte hatte er noch nie erlebt. Trotz der Gesichtsmaske, der Brille und des beheizten Parkas betäubte sie der rauhe, tosende Wind bis auf die Knochen. Die kleine Joanna war schon viel langsamer geworden; sie schien kaum noch laufen zu können. Trotzdem – er wußte, wenn er den Hubschrauber rief, um sie alle evakuieren und zur Basis zurückbringen zu lassen, würden die Administratoren Notiz davon nehmen und es ihr ankreiden.

Hoffmann schien besser in Form zu sein, aber auch er hatte in der letzten Stunde kein einziges Wort mehr gesagt. Er und Jamie legten sich abwechselnd ins Zuggeschirr des Geräteschlittens, aber Jamie hatte den Eindruck, daß Hoffmanns Schichten immer kürzer wurden.

»Wie geht es euch?« rief er über den Wind hinweg.

Hoffmann nickte nur hinter seiner Maske und hob die Hand ein kleines Stück.

Joannas Stimme schwankte, als würde sie die Kontrolle dar

über verlieren. »Mir… geht es… gut.« Er konnte sie bei dem Wind kaum hören.


»Ist Ihre Heizung auf maximale Leistung gestellt?«

»Ja… natürlich.«

Warum tue ich mir das an, fragte sich Jamie. Wozu quäle ich mich hier ab, obwohl ich sowieso nicht ins Missionsteam komme? Dann dachte er: Angenommen, ich rufe den Chopper und sage, daß Hoffmann nicht mehr genug Kraft hat, um weiterzumachen? Ich schiebe alles auf ihn.

Aber er wußte, daß er das nicht konnte. Er hatte nie gelernt, überzeugend zu lügen. »Geh bloß nicht in den Einzelhandel«, hatte ihm sein Großvater Al oft erklärt. »Und pokere nie mit Fremden. Beziehungsweise mit überhaupt keinem. Man sieht dir immer am Gesicht an, was du denkst, Jamie. Du bist mir vielleicht eine Rothaut!«

Bei Joanna lag die Sache anders. Die Tochter von Alberto Brumado mußte das Training bestehen. Sie mußte zum ersten Team gehören, da waren sich alle einig. Aber warum muß ich mich halb umbringen, um ihr zu helfen, zum Mars zu gelangen?

Vielleicht mehr als nur halb umbringen, dachte er nüchtern.

Der Himmel, der so klar ausgesehen hatte wie eine eisblaue Kristallglasschüssel, nahm allmählich eine bedrohliche, milchig-weiße Färbung an. Der Berggipfel war bereits in wogendem Nebel verborgen. Jamie spähte mit zusammengekniffenen Augen durch seine Brillengläser und war sicher, daß er Schneefahnen sah, die über den breiten, zerklüfteten Highway des Gletschers auf sie zukamen.

Das um die Manschette seines Parkas geschnallte Thermometer zeigte, daß die Temperatur rasch fiel. Sie betrug jetzt 39

Grad unter Null; bei der Eiseskälte des Windes mußten es eher 60 Grad oder mehr sein.


»Ich rufe in McMurdo an, daß sie den Hubschrauber herschicken«, rief er Hoffmann und Joanna zu.

»Nein! Bitte nicht!« rief sie zurück. Ihre Stimme wurde von der Maske gedämpft. »Nicht für mich. Ich komme schon zurecht.«

»Sie frieren sich zu Tode.«

Sie antwortete nicht, sondern schüttelte störrisch den Kopf.

Hoffmann sagte nichts. Er stand einfach da, die behandschuhten Fäuste in die Hüften gestützt, und hatte offensichtlich Mühe, Luft zu holen. Jamie konzentrierte seine Aufmerksamkeit auf Joanna, ein winziges, elendes Bündel in dem unförmigen Kapuzenparka und der Gesichtsmaske mit der Brille.

Unsicher drehte er sich um und schaute wieder zu dem näherkommenden Sturm hinauf. Furcht rankte sich an seinem Rückgrat empor. Vielleicht noch eine Stunde, schätzte er. Vielleicht weniger.

Dann sah er den Stein. Er war ungefähr so groß wie eine Männerfaust, ein dunkles, nicht hierher gehöriges Ding, das auf der unebenen, schrundigen Fläche des Gletschers lag, als hätte es auf ihn gewartet, als hätte jemand es dorthin gelegt, damit er es bemerkte.

»Seht!« Er zeigte auf den Stein.

Er lief hin, wobei er auf dem geborstenen, zerklüfteten Eis beinahe gestürzt wäre, ließ Hoffmann beim Geräteschlitten zurück, vergaß die erschöpfte, frierende Frau, die neben Hoffmann stand.

Er kniete sich aufs Eis und schaute auf seine Entdeckung hinunter. Schwarz, zernarbt wie die abgerundete Nase einer Rakete nach dem Wiedereintritt in die Atmosphäre – der Stein war eindeutig ein Meteorit. Konnte er vom Mars stammen? Jamie hatte bei seinen Exkursionen auf dem Gletscher vier weitere Steine gefunden. Sie waren alle Enttäuschungen gewesen, nicht mehr als ordinäre ›Sternschnuppen‹.

Dieser jedoch sah anders aus. Ein Shergottit, jede Wette. Vor ein paar hundert Millionen Jahren durch einen gewaltigen Meteoriteneinschlag vom Mars weggesprengt. Gott weiß, wie lange er durchs All gereist ist, bevor er schließlich vom Schwerkraftschacht der Erde eingefangen wurde und in diesen Gletscher gestürzt ist. Wahrscheinlich ist er seit Jahrmillionen im Eis gefangen und hat darauf gewartet, zur Oberfläche emporzusteigen, wo ihn jemand finden konnte. Ich.

»Ist es…?«

Jamie drehte sich um und sah, daß Hoffmann ihm über die Schulter blickte.

»Er stammt vom Mars!« rief Jamie.

»Sind Sie sicher?« Die Zähne des Österreichers klapperten hörbar.

»Schauen Sie ihn sich an! Wo er nicht geschwärzt ist, ist er rosa, Herrgott noch mal!« sagte er, außerstande, seine Erregung zu verbergen. »Zuallermindest ist er gut genug, um uns heimzubringen.« Er wühlte in den tiefen Taschen seines Parkas, bekam schließlich das handtellergroße Funkgerät zu fassen und hob es an die Mundklappe seiner Gesichtsmaske. »Ich rufe den Hubschrauber. Wir haben etwas Wichtiges gefunden.

Dieser Steinbrocken ist unser Rückflugticket nach McMurdo.«

Niemand konnte es ihnen verdenken, daß sie ihre Zeit auf dem Gletscher abkürzten. Nicht, wenn sie möglicherweise ein Stück vom Mars in ihren behandschuhten Händen hielten und ein brüllender Schneesturm den Berg herab auf sie zugerast kam.


8

Fast zwölf Stunden später ging Jamie müde vom Geologielabor zu seiner Unterkunft. Innerlich war ihm immer noch kalt.

Der Sturm, der den Berg herabgekommen war, hatte die Basis am McMurdo Sound erfaßt, hatte draußen vor den dick isolierten Wänden geheult wie ein angreifendes Barbarenheer und Schnee bis zur Dachkante aufgehäuft. In der Basis war es jedoch kuschelig warm, als Jamie durch den engen, niedrigen Flur langsam zu seinem winzigen Kabuff stapfte. Trotzdem fühlte er sich noch immer nicht ganz aufgetaut.

Joannas Zimmer war nahe bei seinem, und ihre Tür stand offen. Er warf einen Blick hinein. Joanna saß an ihrem Schreibtisch. Ihre Finger huschten über die Tastatur ihres Laptops.

Sie blickte auf und sah Jamie.

»Bitte kommen Sie herein«, sagte sie. »Ich habe auf Sie gewartet.«

Sie stand vom Schreibtischstuhl auf und kam auf ihn zu. Für Jamie sah Joanna immer noch fast wie ein Kind aus. Zarte kleine Hände, große, tiefbraune Augen. Aber ihr Körper in dem figurbetonten Overall hatte nichts Kindliches. In seinem Innern regte sich etwas, als er durch die Tür eintrat und unbeholfen vor ihr stehenblieb.

»Ich war gerade dabei, einen Brief an meinen Vater zu schreiben und ihm zu erzählen, was Sie da draußen auf dem Gletscher getan haben«, sagte sie. »Ich wollte Ihnen dafür danken.«

»Für das, was ich getan habe?«


Joanna blickte lächelnd zu ihm auf, und Jamie bemerkte, wie sinnlich ihre Lippen waren.

»Sie hätten schon Stunden früher den Hubschrauber rufen können, damit er uns abholt. Sie haben gesehen, wie schlecht es mir ging.«

Er wußte nicht, was er sagen sollte. Seine Hände waren auf einmal so ungelenk, als würden sie in Boxhandschuhen stecken. Er entschied sich schließlich dafür, die Daumen in die Taschen seiner Jeans zu haken.

»Wenn man uns früher vom Gletscher hätte abholen müssen«, fuhr Joanna mit ihrer flüsternden Stimme fort, »hätte ich meine Hoffnungen begraben können, ins erste Team zu kommen. Und Doktor Hoffmann vielleicht auch.«

»Nicht unbedingt«, murmelte Jamie.

»Ich weiß es zu schätzen, daß Sie bei mir geblieben sind und mich auf diese Weise beschützt haben.«

Er zuckte die Achseln.

»Es würde meinem Vater das Herz brechen, wenn ich nicht zum ersten Team gehören würde«, sagte sie leise. »Er hat sich so sehr gewünscht, selber zum Mars fliegen zu können. Wenn ich ihn enttäusche…«

Jamie wollte sie an den Schultern packen, sie an sich ziehen und küssen. Statt dessen hörte er sich sagen: »Sie hätten uns den Hubschrauber sowieso geschickt, weil dieser Sturm auf uns zukam.«

»Ja. Vielleicht.« Ihr Blick ließ ihn nicht los.

»Der… äh… Meteorit scheint tatsächlich vom Mars zu kommen«, sagte Jamie. »Das richtige Mengenverhältnis von Edelgasisotopen, dazu ein hoher Gehalt an Pyroxenen.«

Ihre Brauen gingen leicht nach oben. »Organische Stoffe?«


»Dorothy Loring schneidet gerade ein paar dünne Scheiben fürs Mikroskop heraus.«

Joanna drehte sich zu ihrem Schreibtisch um, schaltete den Laptop aus und sagte: »Ich muß ins Labor. Sie hätte mir Bescheid sagen sollen.«

Jamie wich zur Tür zurück, als sie den Kasten mit den winzigen Floppy Disks auf ihrem Schreibtisch durchging, eine herauszog und sie in die Tasche ihres Overalls steckte.

Dann sah sie Jamie an, als hätte sie vergessen, daß er bei ihr im Zimmer war. »Ich möchte Ihnen wirklich dafür danken, daß Sie mir geholfen haben. Das war wirklich sehr nett von Ihnen.«

»De nada.«

Sie kam um den Schreibtisch herum und blieb einen halben Schritt vor ihm stehen. »Es war sehr wichtig für mich.«

Jamie schaute in ihre erhobenen, dunklen Augen und strich ihr mit den Fingerspitzen unsicher und zögernd über die weiche Wange.

Joanna zuckte zusammen und wich von ihm zurück. Ihr Gesicht rötete sich. »Das dürfen Sie nicht!«

»Ich wollte nicht…«

Sie schüttelte den Kopf. »Wir können uns nicht emotional engagieren. Das wissen Sie. Man würde uns niemals mitfliegen lassen, wenn man der Meinung wäre…«

»Tut mir leid«, sagte Jamie. »Ich wollte Sie nicht verärgern.«

»Es ist nur…« Joanna hätte beinahe die Hände gerungen.

»Ich kann mich mit niemandem einlassen, Jamie. Nicht jetzt.

Das verstehen Sie doch, oder? Es würde alles kaputtmachen.«

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