»Aber du hast mir nicht gesagt, was dich wachhält«, sagte Jamie leise.

»Oh… vieles. Einsamkeit, zum Beispiel. Ich liege in meinem Bett und lausche dem Wind draußen und denke daran, daß wir fast zweihundert Millionen Kilometer von zu Hause entfernt sind.«

»Macht dir das angst?«

»Nein, ich fühle mich nur – allein. Es ist merkwürdig. Tags

über haben wir viel zu tun, und da kommt es mir manchmal sogar so vor, als ob die Kuppel viel zu voll wäre. Aber nachts…«

»Ich weiß«, sagte Jamie. »Entweder schauen einem zu viele über die Schulter, oder man ist ganz allein. Es ist ein merkwürdiges Gefühl.«

»Geht es dir auch so?«

Er runzelte die Stirn. »Joanna, ich bin allein. Ich bin hier der Außenseiter.«

»Nein, das stimmt nicht.«


»So sieht es jedenfalls für mich aus. Es ist nicht nur wegen dieser Sache mit den Felsenbehausungen. Ich bin ein Ersatzmann, der erst im letzten Moment dazugekommen ist. Keiner der anderen akzeptiert mich wirklich als Teil des Teams.«

Es überraschte ihn, daß er ihr das erzählte. Joanna schwieg eine Weile. In dem dämmrigen Licht konnte er nicht einmal ihre Miene erkennen.

»Ich hatte gedacht«, hörte Jamie sich sehr leise, fast im Flüsterton sagen, »daß du mich wegen dem, was in McMurdo geschehen ist, auf der Mission dabeihaben wolltest. Jetzt weiß ich, daß es dir nicht so sehr darum ging, mich hierzuhaben, sondern vielmehr darum, Hoffmann loszuwerden.«

»Jamie…«

»Ist schon okay«, sagte er rasch. »Ich kann verstehen, wie du dich gefühlt hast. Ich weiß, daß Hoffmann dich belästigt hat.«

Sie packte die Manschette seines Sweatshirts und schüttelte sie leicht, wie eine Lehrerin, die versucht, die Aufmerksamkeit eines unachtsamen Schülers auf sich zu lenken.

»Jamie, es gab fünf weitere Geologen, die ich hätte vorschlagen können. Sie hatten alle hervorragende Qualifikationen. Ich habe meinen Vater gebeten, dich ins Team zu holen.«

»Weil ich dir in McMurdo geholfen habe.«

»Weil du ein talentierter, sturer, sensibler, einsamer Mann bist. Weil du nett zu mir warst, statt mich abzulehnen. Weil du mich in Ruhe gelassen hast und mir nicht weiter nachgelaufen bist, als ich vor dir weggerannt bin.«

Jamie war auf einmal durcheinander. »Weil ich dich in Ruhe…«

»Was in McMurdo zwischen uns geschehen ist, hätte gegen dich sprechen müssen, wenn ich auch nur ein Fünkchen Verstand gehabt hätte. Wir sollen keine Bindungen oder gar Beziehungen eingehen. Das weißt du! Aber ich habe dich dennoch vorgeschlagen, trotz der Gefahr.«

»Gefahr?«

Joanna sagte: »Du bist ein außerordentlich attraktiver Mann, James Waterman. Wenn diese Mission vorbei ist und wir wieder wohlbehalten auf der Erde sind, dann können wir uns einander gegenüber vielleicht so verhalten, wie es normale Männer und Frauen tun. Im Moment müssen wir solche Gefühle beiseiteschieben.«

Jamie begriff endlich, daß sich, was McMurdo betraf, vor allem eins in ihr Gedächtnis eingegraben hatte, nämlich sein tastender Versuch am Abend nach ihrer ersten Exkursion auf den Gletscher, sie zu küssen. Es hat viel für sie bedeutet, erkannte er. Und ich dachte, sie wäre deshalb wütend auf mich gewesen. Sie geht davon aus, daß ich in sie verliebt bin.

Und, bin ich es? Er dachte an Edith, die lächelnde, blonde Texas-Schönheit, Millionen von Kilometern entfernt. Herrje, ihr Band liegt jetzt seit zwei Tagen bei mir in der Kabine, und ich habe ihr noch nicht mal geantwortet. Joanna ist ganz anders.

Auf eine tief ergehende Weise schön. Ernst. Sehr ernst.

Dann fragte er sich, ob sie über Ilona Bescheid wußte. Ob sie wußte, daß er mit ihr gevögelt hatte. Wahrscheinlich nicht, aber irgendwann würde sie es erfahren. Irgend jemand würde es ihr mit Genuß hinterbringen. Was würde sie dann von ihm denken?

Ihre Hand umklammerte immer noch die Manschette seines Sweatshirts. Jamie legte seine andere Hand auf ihre.

»Ich glaube, du hast recht, Joanna. Du hattest in McMurdo recht, und du hast auch jetzt recht. Wir sind weit weg von zu Hause. Vielleicht können wir uns eines Tages wie normale Menschen zueinander verhalten und selbst herausfinden, was wir einander wirklich bedeuten. Aber jetzt…« Ihm gingen die Worte aus, und er schloß mit einem halben Achselzucken, das sie in der Dunkelheit wahrscheinlich nicht sehen konnte.

»Jetzt«, beendete Joanna den Satz für ihn so leise, daß er sie kaum hörte, »können wir Freunde sein. Es ist gut, einen Freund zu haben, Jamie. Gut für uns beide.«

»Ja. Sicher.«

»Es ist die einzige Möglichkeit. Wir können jetzt keine Bindungen eingehen. Nicht hier, nicht in diesem…

Goldfischglas.«

Er nickte. Es war ihm egal, ob sie es sehen konnte oder nicht.

»Hast du dir schon überlegt, was du tun wirst, wenn wir nach Hause kommen?« fragte Joanna.

Beinahe wäre ihm entfahren: Hier bin ich zu Hause. Hier auf dem Mars. Statt dessen erwiderte er sanft: »Nicht so richtig.

Du?«

Sie seufzte. »Die National Geographie Society hat meinen Vater schon um einen Artikel über diese Expedition für ihre Zeitschrift gebeten. Den werde ich vermutlich größtenteils für ihn schreiben. Ich bin schon seit vielen Jahren sein Ghostwriter.«

»Das dürfte nicht allzu lange dauern.«

»Dann Vorträge, nehme ich an. Er und ich. In aller Welt. Und ein Buch, natürlich.«

»Ich glaube, ich werde mir eine Universität aussuchen und die nächsten paar Jahre damit verbringen, die Proben zu analysieren, die wir mitbringen. Und die Daten, die wir sammeln.«


»Das könnte eine Lebensaufgabe werden.«

»Schon möglich.«

Sie verstummte.

»Was ist mit der nächsten Expedition?« fragte Jamie.

»Wird sich dein Vater nicht für eine Nachfolgemission einsetzen?«

»Das tut er bereits. Soviel ich weiß, wollen die Politiker aber erst die Resultate dieser Mission sehen, bevor sie sich auf eine weitere festlegen.«

Jamie beugte sie zu ihr, von einem plötzlichen, heißblütigen Drang erfaßt. »Joanna, verstehst du nicht, wie wichtig es ist, daß wir zu dem Canyon zurückfahren und uns diese Formen genauer ansehen? Wenn wir mit Beweisen zurückkommen, daß es früher einmal eine Zivilisation auf dem Mars gegeben hat, eine intelligente Spezies, die Felsenbauten errichtet hat…

heiliger Jesus Christus, dann könnte niemand eine zweite Expedition aufhalten. Und eine dritte, eine zehnte, eine hundertste!«

Er spürte, daß sie im Dunkeln lächelte. »Ja, aber angenommen, wir stellen fest, daß dein Dorf nicht mehr ist als eine natürliche Gesteinsformation? Was dann?«

Ihre Stimme war traurig. Und Jamie wußte keine Antwort.


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