SOL 22 NACHMITTAG

Ravavishnu Patel starrte auf den riesigen, königlichen Kegel von Pavonis Mons. Der Vulkan füllte den Horizont aus wie ein ruhender Buddha, wie ein schlafender Shiva, Zerstörer der Welten – und ihr Erneuerer.

»Schade, daß Toshima nicht bei uns ist.« Abdul al-Naguibs leise Stimme brach den beinahe hypnotischen Bann, unter dem Patel stand.

Die beiden Männer beugten sich über die leeren Sitze im Cockpit des Rovers. Jamie und der Kosmonaut Mironow waren draußen und stellten geologischmeteorologische Baken in dem steinigen Gelände auf.

»Toshima?« fragte Patel ein bißchen verwirrt.

Naguib lächelte. »Pavonis würde ihn an den Fudschijama erinnern, meinen Sie nicht?«

»Oh. Ja, vielleicht. Obwohl dieser Vulkan sehr viel größer ist.

Es gibt auch keinen Schnee auf dem Gipfel. Und die Hangneigung ist eine ganz andere.«

»Ein anderes Schwerefeld«, sagte Naguib, als würde das alles erklären.

»Ja. Natürlich.«

Nach einer Tagesreise und einer Übernachtung im offenen Gelände waren sie am Vormittag über das immer unebener werdende Terrain geholpert, aber der Rover war immer noch über hundert Kilometer vom Fuß des Pavonis Mons entfernt.

Der Berg war so groß, daß man ihn aus der Nähe nur noch ausschnittsweise sehen konnte. Nur aus dieser Entfernung hatten sie ihn komplett im Blickfeld.

Wie die Vulkane, die die hawaiianischen Inseln gebildet haben, sind die Riesen der Tharsis-Region Schildvulkane, deren hohe Kegel von ausgedehnten Fundamenten aus verfestigter Lava umgeben sind. Pavonis Mons war der mittlere von drei solchen Vulkanen und lag der Kuppelbasis der Forscher am nächsten. Die anderen beiden befanden sich weit jenseits des Horizonts. Noch weiter entfernt lag der größte und höchste Vulkan im ganzen Sonnensystem: Olympus Mons.

Verglichen mit dem mächtigen Olymp, ist Pavonis Mons nur ein Mittelgewicht. Er hat einen Basisdurchmesser von kaum vierhundert Kilometern und ist damit ungefähr so groß wie Ohio. Sein Gipfel erhob sich nur knappe sechzehn Kilometer über die Hochebene, auf welcher der Rover stand. Den Gipfel selbst bildete ein Krater, eine Caldera, die kaum groß genug ist, um Delhi oder Kalkutta in sich aufzunehmen.

Trotz der Ausmaße des Berges wirkten seine Hänge jedoch täuschend sanft, ganz anders als jene der steilen, zerklüfteten Himalaya-Berge; die Flanken von Pavonis Mons stiegen nur in einem Winkel von fünf Grad an. Sofern man ein paar Tage Zeit hatte, dachte Patel, könnte man mühelos zu Fuß zum Gipfel hinaufgehen und in diese gähnende Caldera hineinschauen. Ob der Vulkan wirklich erloschen war? Oder würde man Fumarolen sehen, die Wasserdampf oder Spuren anderer Gase abließen und damit den nächsten Ausbruch vorbereiteten? Der Himmel sah klar und wolkenlos aus. Aber was würde er vorfinden, wenn er bis zum Gipfel des Berges vordrang?

Kopfschüttelnd und den Tränen nahe sagte Patel zu Naguib:

»Wenn man bedenkt, daß wir dort nur drei Tage verbringen können. Drei kurze Tage! Wir würden Monate brauchen, um uns auch nur einen groben Überblick zu verschaffen.«

Diese Exkursion zum Pavonis Mons war das erste Opfer, das Jamies Beharren auf die Rückkehr zum Grand Canyon gefordert hatte. Im ursprünglichen Missionsplan war ein einwöchiger Aufenthalt bei Pavonis vorgesehen gewesen. Dieser war nun auf drei Tage reduziert worden.

Naguib klopfte ihm väterlich auf den Rücken. »Selbst drei Jahre würden nicht reichen. Ein Mensch könnte sein ganzes Leben damit verbringen, dieses Ungetüm zu untersuchen.«

»Es ist nicht fair!« explodierte Patel und schlug mit der Faust auf die Rücklehne des leeren Fahrersitzes. »Ich bin nur aus einem einzigen Grund zum Mars geflogen, nämlich um die Tharsis-Schildvulkane zu untersuchen, und jetzt hat dieser…

dieser… Emporkömmling…«

»Beruhigen Sie sich, mein Freund«, sagte Naguib. »Beruhigen Sie sich. Akzeptieren Sie, was nicht zu ändern ist.«

Patel trat abrupt zurück und ging durch das Rover-Modul bis zur Luftschleuse. Dann drehte er sich zu dem Ägypter um.

Die beiden Männer standen schweigend da und sahen einander durch das lange, schmale Modul hindurch an: der schlanke Hindu mit den feuchten Augen, dessen dunkles Gesicht glänzte, als wäre es in Schweiß gebadet; der ältere, stämmigere Geophysiker mit den ergrauenden Schläfen, um dessen Mundwinkel und Augen sich tiefe Falten gegraben hatten.

»Als nächstes werden Sie mir noch erzählen, dies sei Allahs Wille«, sagte Patel.

»Ich bin Atheist«, erwiderte Naguib mit sanftem Lächeln.

»Aber mir ist klar, daß unser Navajo-Freund den Sieg über die Missionsleiter davongetragen hat und daß die Amerikaner die Kontrolle über den Missionsplan an sich gerissen haben. Es gibt nichts, was wir dagegen tun können.«

Sie hörten die schweren Schritte der anderen beiden Männer, die in die Luftschleuse traten. Pateis schlanke Hände ballten sich zu Fäusten, und Naguib dachte einen Moment lang, daß er Waterman mit Freuden ermorden würde.

Während die drei Geologen auf ihrer Exkursion waren, verbrachten die drei Biologinnen ihre freie Zeit mit der Planung der bevorstehenden Reise zum Tithonium Chasma.

Sie saßen am Eßtisch, der mit Karten und von den Raumschiffen im Orbit aus aufgenommenen Fotos übersät war. Sie hatten sich Jamies Videobänder immer wieder angesehen und kannten sie mittlerweile in- und auswendig.

»Ist es wirklich denkbar, daß es sich bei der Formation um eine Art Bauwerk handelt?« fragte Monique Bonnet.

Tony Reed hatte die drei Frauen mit ihren Fotos und Karten in die Messe gehen sehen und sich zu ihnen gesetzt. »Bei Jamie ist das eine Projektion, ein wohlbekanntes psychologisches Phänomen«, tat er den Gedanken ab. »Wir sehen, was wir sehen wollen. Wir hören, was wir hören wollen. So machen Wahrsagerinnen ihr Geld – sie erzählen ihren Kunden, was diese hören wollen, ganz gleich, wie haarsträubend es ist. Etwas in Jamies Unterbewußtsein wollte Felsenbehausungen sehen – und voilá: er sah sie.«

Ilona lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. Sie erinnerte Reed an einen gelbbraunen Jaguar, der sich auf dem Ast eines Baumes ausstreckte.

»Die Formation existiert wirklich. Sie ist kein Phantasiegebilde. Wenn wir dort sind, werden wir ja sehen, ob sie natürlich oder künstlich ist«, sagte sie. Ihre heisere Stimme klang beinahe gelangweilt. »Aber zunächst mal müssen wir festlegen, wer von uns mit Jamie auf die Exkursion geht.«

Joanna nickte zustimmend und drehte sich dann zu Monique um.

»Ihr fahrt«, sagte die französische Geochemikerin. »Ihr beide.

Ich bleibe hier und kümmere mich um die Pflanzen.«

Ilona sah sie stirnrunzelnd an.

»Willst du denn nicht mitfahren?« fragte Joanna.

Monique hob anmutig die Schultern. »Ihr seid viel erpichter darauf als ich. Und ich finde es auch sinnvoller, daß unsere Biologin und Biochemikerin daran teilnehmen.«

»Aber du gehörst auch zu unserem Biologieteam«, sagte Ilona und setzte sich aufrecht hin. »Wir werden deine Sachkenntnis bei der Untersuchung des Bodens auf dem Grund des Canyons brauchen.«

»Ihr könnt mir ja Proben mitbringen.«

»Und was ist mit Fossilien?« fragte Joanna mit besorgter Miene. »Du hast die beste paläontologische Ausbildung. Es wäre möglich, daß wir etwas übersehen.«

Monique lachte hell auf. »Wenn es da draußen irgendwelche Knochen oder Schädel gibt, findet ihr sie bestimmt ebenso leicht wie ich.«

»Und wenn es Mikrofossilien sind?« fragte Reed.

Sie wandte dem Engländer ihr lächelndes Gesicht zu. »Tony, ich habe jede Bodenprobe untersucht, die wir bisher genommen haben. Ich habe Steine zerschlagen und mikroatomdünne Scheiben unters Mikroskop gelegt. Hier gibt es keine Fossilien.

Und auch keine Mikroben, weder lebendige noch längst tote.«


Reed zupfte etwas zögernd an seinem dünnen Schnurrbart.

»Nun ja…«

»Aber Monique«, sagte Joanna, »angenommen, wir stoßen auf dem Grund des Canyons auf Fossilien, erkennen sie aber nicht als solche? Organismen, die auf dem Mars beheimatet sind. Woher sollen wir wissen, daß wir Fossilien vor uns haben?«

»Woher sollte ich es wissen?« erwiderte Monique. »Oder sonst jemand von uns?«

Joanna warf ihren Kolleginnen am Tisch einen unsicheren Blick zu.

Reed setzte ein breites Grinsen auf. »Ein klassisches Problem, nicht wahr? Woran erkennt man etwas, das man noch nie gesehen hat?«

Die drei Frauen hatten keine Antwort darauf.

Jamie spürte, wie die Feindseligkeit in dem engen Rover mit jedem Kilometer wuchs, den sie auf ihrem Weg zum Pavonis Mons zurücklegten.

Das Abendessen nahmen sie praktisch schweigend ein.

Selbst Mironow, der normalerweise immer ein freundliches Lächeln zur Schau trug, hatte nichts zu sagen und keine Scherze auf Lager. Patel hockte wie ein nervöser Vogel gegenüber von Jamie auf dem Rand seiner Bank und vermied es, ihn anzusehen.

Naguib versuchte, die Spannung zu mildern.

»Morgen erreichen wir endlich die Bruchzone«, sagte er und tunkte die letzten Reste seiner Mahlzeit mit einem dünnen Stück Pita-Brot auf.


»Stimmt«, griff Jamie die Worte des älteren Mann dankbar auf. »Dann bekommen wir die ersten sicheren Daten über das Alter der Lavaströme.«

Patel legte seine Gabel weg. »Wir haben nur drei kurze Tage Zeit für die Arbeit, für die ursprünglich eine ganze Woche eingeplant war.«

»Ich bin bereit, in diesen drei Tagen Doppelschichten einzulegen, Rava«, sagte Jamie. »Ich weiß, wie Ihnen…«

»Gar nichts wissen Sie!« fauchte der Hindu ihn an. »Sie sind doch nur von Ihrem verrückten Wunsch erfüllt, zu dem Canyon zurückzukehren und der Held dieser Expedition zu werden.«

»Der Held?«

»Wissen Sie, wie viele Jahre ich mit dem Studium der Tharsis-Vulkane verbracht habe? Nicht drei. Nicht fünf. Nicht zehn.« Patel zitterte vor Zorn. »Fünfzehn Jahre! Seit meiner Studentenzeit in Delhi! Fünfzehn Jahre lang habe ich über Fotos dieser Schildvulkane gehockt, habe die Fernmessungen der Raumsonden studiert. Und jetzt, wo ich endlich hier bin, haben Sie meine Zeit auf drei elende Tage zusammengestrichen.«

Jamie verspürte keinen Zorn. Er wußte genau, was Patel durchmachte. Er erinnerte sich, wie es ihm gegangen war, als Wosnesenski die Untersuchung des Canyons und der Felsenbauten wegen Konoyes Tod abgebrochen hatte.

»Sie haben recht, Rava«, sagte er. Seine Stimme war tief, ruhig und unnachgiebig. »Nur drei Tage. Ich werde tun, was ich kann, damit Sie während unseres Aufenthalts bei Pavonis soviel wie möglich in Erfahrung bringen können. Aber nach drei Tagen fahren wir zurück.«

»Damit Sie zum Canyon fahren können.«


»Ja.«

»Um nach Ihren absurden Felsenbauten zu suchen.«

»Nach Leben.«

»Pah! Unsinn! Totaler Unsinn.«

»Rava, wenn es wirklich nach mir ginge, würden wir ein Jahr oder länger hier auf dem Mars bleiben. Neue Teams würden zu uns kommen. Wir würden diesen Planeten auf einer rationalen, wissenschaftlichen Basis erforschen. Aber es geht nicht nach mir. Es geht nach keinem von uns.«

»Es geht jedenfalls mehr nach Ihnen als nach mir«, murrte Patel.

Das gestand ihm Jamie mit einem kurzen Nicken zu.

»Ja, so ist es. Aber wenn Sie eines Tages zum Mars zurückkommen und sich ohne zeitliche Begrenzung mit der Erforschung dieser Vulkane beschäftigen wollen, dann müssen wir den Politikern etwas mitbringen, das sie nicht ignorieren können. Beweise für Leben können sie nicht ignorieren, Rava. Und wenn wir überhaupt irgendwo Leben finden können – oder auch nur Spuren erloschenen Lebens –, dann am ehesten auf dem Boden von Tithonium Chasma.«

»Es gibt noch andere Stellen«, sagte Naguib, »wo die Wahrscheinlichkeit ebenso groß wäre. Hellas zum Beispiel…«

»Das ist für diese Mission zu weit«, sagte Jamie. »Es liegt praktisch auf der anderen Seite des Planeten. Weiter als bis zu dem Canyon kommen wir diesmal nicht, und selbst das geht schon hart an die Grenze unserer Möglichkeiten.«

»Sie können total vernünftig sein, wenn Sie kriegen, was Sie wollen, nicht wahr?« sagte Patel.


»Ich will mich nicht mit Ihnen streiten, Rava«, erwiderte Jamie. »Ich verstehe Ihre Gefühle. Ich würde genauso empfinden, wenn unsere Rollen vertauscht wären.«

»Ja, natürlich.«

Jamie schlüpfte hinter dem schmalen Tisch hervor und richtete sich zu seinen vollen Größe auf. Er blickte auf Patel herab.

»Wenn man meinen Ausflug zum Canyon zugunsten eines ausgedehnten Aufenthalts bei Ihren Vulkanen gestrichen hätte, wäre ich höllisch wütend. Aber ich würde es akzeptieren und mein Bestes tun, um Ihre Exkursion zu einem echten Erfolg zu machen.«

Patel wandte sich von ihm ab.

Mironow, dessen übliches Lächeln schon längst erloschen war, sagte leise: »Ich schlage vor, daß wir dieses Thema fallenlassen. Der Missionsplan steht fest. Wir verbringen die nächsten drei Tage am Pavonis Mons und kehren dann zur Basis zurück. Keine weiteren Diskussionen.«

Jamie nickte und ging nach vorn ins Cockpit. Naguib akzeptierte den Vorschlag mit einem leichten Achselzucken. Patel verzog das Gesicht und starrte Jamie nach. Seine dunklen Augen brannten.

Als Tony Reed einzuschlafen versuchte, hörte er den Nachtwind des Mars außerhalb der Kuppel seufzen. Das Geräusch beunruhigte ihn. Ein einziger kleiner Meteoriteneinschlag, ein so winziges Staubkörnchen, daß hinterher keine Spur mehr davon zu finden gewesen war, hätte sie beinahe alle umgebracht. Oh, sollen Wosnesenski und die anderen ruhig damit prahlen, daß alle Sicherheitssysteme funktioniert haben und wir nie wirklich in Gefahr waren. Du meine Güte! Wir hätten alle ersticken können. Nein, so lange hätten wir gar nicht gelebt. Unser Blut und die anderen Körperflüssigkeiten hätten gekocht. Wir wären geplatzt wie zu rasch erhitzte Würstchen, wie angestochene Ballons.

Er erschauerte unter seiner leichten Decke.

Ich bin kein Feigling. Tony hätte es beinahe laut ausgesprochen. Er sah seinen Vater über seinem Bett stehen und mit finsterer Miene auf ihn herabschauen. Ich bin kein Feigling. Es ist nicht feige, wenn man Angst vor einer echten Gefahr hat.

Wir stehen hier fortwährend am Rand des Todes. Jeder Atemzug, den wir tun, könnte unser letzter sein.

Er schloß die Augen ganz fest und versuchte mit aller Macht einzuschlafen. Ohne daß er es wollte, kam ihm die Erinnerung an seine Mutter: wie oft sie ihn in ihr Bett hatte krabbeln lassen, wenn ein Donnerschlag oder ein anderes Geräusch ihn erschreckt hatte.

Er wünschte, seine Mutter wäre jetzt hier, um ihn zu trösten.

Ilona hatte sich seit ihrer Landung auf dem Mars geweigert, mit ihm ins Bett zu gehen. Wenn er sich mit einem derartigen Ansinnen an Monique heranmachte, würde sie lächeln, ihm die Wange tätscheln und leise in sich hineinlachend weggehen. Da war er sicher.

Joanna. Wenn Joanna nur zu ihm kommen, ihn trösten würde. Hier auf dieser kalten, gefährlichen Welt brauchte er ihre Wärme. Er sehnte sich danach, geborgen in ihren Armen zu liegen.


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