SOL 6 NACHMITTAG

Mitten an diesem Nachmittag gelangten sie an den Rand des Canyons, genau dorthin, wohin Jamie gewollt hatte, an die Verbindungsstelle dreier breiter Spalten im Boden, die ihn an von wild dahinschießendem Wasser in den Wüstenboden gegrabene Arroyos erinnerten.

Aber größer. Gigantisch. Wie der Grand Canyon, nur daß es auf ihrem Grund keinen Fluß gab. Jamie stand zu ebener Erde an der Stelle, wo die drei gewaltigen Gräben ineinanderliefen, und konnte die andere Seite kaum sehen. Er spähte in die Tiefe hinunter und schätzte, daß die Böden der Canyons über einen, vielleicht sogar anderthalb Kilometer unter ihm liegen mußten, nichts als rotgetönter Fels, dessen Sprünge und Risse davon herrührten, daß er seit Ewigkeiten in der Sonne aufgeheizt und des Nachts bis tief unter den Gefrierpunkt abgekühlt wurde.

Er kam sich auf einmal klein und unwichtig vor, wie eine Ameise, die am Rand eines normalen Arroyos in New Mexico balancierte. Einen schwindelerregenden Augenblick lang hatte er Angst, vornüberzukippen und hineinzufallen.

Auf dem Marsboden hier oben lagen nicht so viele Steinbrocken verstreut, als ob er irgendwann einmal saubergefegt worden wäre und die Steine nur teilweise wiedergekommen wären. Seltsam, dachte Jamie. Wir sind näher an dem von Kratern durchzogenen Territorium im Süden, aber es gibt hier nicht so viele Einschlagtrümmer wie weiter nördlich.


Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder den Canyons zu und erbebte innerlich von einer bisher ungekannten Erregung.

Er war der erste Mensch, der in einen Marscanyon blickte! In die Felsen dort unten mochten eine Milliarde Jahre Planetengeschichte eingeschrieben sein. Zwei Milliarden Jahre. Vielleicht sogar vier. Da konnte man schon Angst kriegen.

Die Wand des Canyons fiel beinahe senkrecht ab. Der Gedanke, diese Felswand hinabzuklettern, erregte und erschreckte ihn zugleich. Der Boden war so weit unten! Aber er konnte ihn vollkommen deutlich sehen. In der dünnen Luft lag nicht der leiseste Dunsthauch.

Für sein Geologenauge war es ziemlich klar, daß dieses Schluchtenlabyrinth von einer Splitterung des Bodens herrührte, einem Netzwerk von Verwerfungen in dem darunterliegenden Gestein, das die Kruste geschwächt und aufplatzen hatte lassen. Wenn hier Wasser geflossen war – vor wie langer Zeit auch immer –, dann war es diesen Rissen gefolgt, hatte sie verbreitert und vertieft. Wahrscheinlicher ist jedoch, daß der Permafrost unter der Kruste von Zeit und Zeit schmilzt und den Boden unterminiert, bis er zusammenbricht.

»Ist es so passiert?« fragte Jamie die schweigenden Arroyos mit nahezu unhörbarem Flüstern. »Wie lange ist das schon her?«

Die gewundenen Schluchten blieben stumm.

Je länger Jamie in die tiefen Erosionstäler hinunterstarrte, desto deutlicher wurde ihm, daß es hier keine gewaltige, dahinschießende Flut gegeben hatte. Der Mars ist eine sanfte Welt, sagte er sich. Der Boden bebt nicht. Es gibt keine Stürme. Falls es jemals eine Flut auf diesem Planeten gegeben hat, dann nicht hier.


Er richtete sich auf und schaute über den gewaltigen Abgrund hinweg zur anderen Seite des Canyons hinüber. Unsere Unwissenheit ist noch größer. Selbst wenn sämtliche Geologen der Erde ihr ganzes Leben hier verbrächten, würde das nicht reichen, um diesen müden alten Canyons all die Informationen zu entreißen, die sie enthalten müssen. Ich habe nur den Rest des heutigen Tages und morgen. Wenn ich Mikhail nicht dazu bringen kann, den Exkursionsplan noch zu ändern.

Er drehte sich zu dem Russen um, der zwischen ihm und dem Rover stand und in den Canyon hinabschaute. Der glänzende Aluminiumlack des Rovers war jetzt von rötlichem Staub überzogen, besonders um die Räder und Stoßstangen herum. Das Fahrzeug sah aus, als würde es rosten.

Jamie kämpfte eine ganz leise, irrationale Angst nieder, die tief in seinem Innern nagte, und rief: »Mikhail, ich muß zum Grund hinuntersteigen. Ich werde Ihre Hilfe brauchen.«

Der Russe setzte sich in seinem roten Anzug in Bewegung und kam auf Jamie zu. »Das ist ein unnötiges Risiko.«

Jamie zwang sich zu einem Lachen. »Ich bin viel in den Bergen geklettert. Und zwar bei voller Schwerkraft.«

»Es ist ein unnötiges Risiko«, wiederholte Wosnesenski.

»Warum haben die Missionsplaner uns dann erlaubt, Kletterausrüstung im Rover mitzunehmen? Kommen Sie, Mikhail, mit der Winde und allem ist es gar kein so großes Risiko.

Wenn Sie glauben, ich sei in Gefahr, können Sie mich hochziehen, ob es mir paßt oder nicht.«

»Die Sonne geht bereits unter. Es wird zu kalt sein zum Arbeiten. Morgen haben Sie den ganzen Tag Zeit.«

»In dem Anzug erfriere ich schon nicht. Wir haben noch drei, vier Stunden bis Sonnenuntergang«, sagte Jamie. »Außerdem scheint die Sonne jetzt auf diese Wand des Canyons. Morgen früh wird sie natürlich im Schatten liegen.«

Es war unmöglich, das Gesicht des Russen hinter dem goldgetönten Visier seines Helms zu sehen. Er schwieg eine ganze Weile, überlegte offenbar und wog die Möglichkeiten ab.

Schließlich sagte er: »Also schön. Aber wenn ich sage, Sie kommen herauf, dann gibt es keine Diskussionen.«

»Abgemacht«, sagte Jamie.

Die nächste Stunde verbrachte er damit, sich langsam die steil aufragende Felswand des Canyons hinabzulassen. Dabei hielt er etwa alle zehn Meter inne, um Proben abzuschlagen.

Über dem Raumanzug trug er ein Klettergeschirr, das mit einem dünnen Kabel aus Verbundstoffen, die stärker waren als Stahl, an der elektrischen Winde am Rand der Schlucht befestigt war. Jamie selbst steuerte die Winde mit einer Reihe von Knöpfen, die in das Geschirr eingebaut waren, obwohl Wosnesenski sich über ihn hinwegsetzen konnte, indem er die Bedienungselemente an der Winde selbst benutzte oder ihn sogar manuell heraufzog, falls nötig.

Das Gestein war nicht geschichtet, sah Jamie. Scheint alles dasselbe zu sein, bis hinunter zum Boden. Das verblüffte ihn.

Eine einzige dicke Platte aus un-differenziertem Gestein? Wie ist das möglich? Er erinnerte sich an eine Szene in einem Roman, den er vor Jahren gelesen hatte: Eine Infanteriedivision war auf einem Exerzierplatz angetreten, der laut Beschreibung aus massivem, anderthalb Kilometer dickem Eisen bestand.

Hatte diese Szene auf dem Mars gespielt? Jamie wußte es nicht mehr.

Dieses Gebiet unterscheidet sich von der Umgebung der Kuppel. Hier hat es nie ein Meer gegeben, das Sedimente abgelagert und sie mit den Jahren in Gesteinsschichten verwandelt hätte. Ich sehe den echten Mantel des Planeten, das ursprüngliche Material, aus dem der Planet von Anfang an bestanden hat. Eine riesige Steinplatte, die nicht nur lausige anderthalb, sondern hundertfünfzig Kilometer dick sein muß!

Oder noch dicker!

Jamie baumelte in der Luft, drehte sich leicht in dem Geschirr, starrte auf die rötlichgraue Wand vor seinen Augen.

Dieses Zeug ist hier, seit der Planet geboren wurde, seit er abgekühlt ist und sich verfestigt hat. Es könnte über vier Milliarden Jahre alt sein! Er keuchte, als wäre er eine Meile gelaufen, als hätte er gerade den wertvollsten Diamanten im Universum gefunden.

Auf der Erde gab es nichts dergleichen. Mantelgestein war immer unter einer kilometerdicken Kruste begraben. Selbst die Meeresböden waren mit Sedimenten bedeckt. Auf der Erde sah man nie freiliegendes Mantelgestein. Aber beim Mars ist das etwas anderes, sagte sich Jamie. Die alten Annahmen gelten hier nicht.

Er ist nicht differenziert, erkannte er. Deshalb ist so viel Eisen im Sand an der Oberfläche. Das Eisen ist nie in den Kern abgesunken wie auf der Erde. Es hat sich über die gesamte Oberfläche verbreitet. Warum? Und auf welche Weise?

Oben holte Wosnesenski eine automatische Sensorbake aus dem Laderaum des Rovers und machte sich daran, sie aufzustellen. Das Anemometer begann sich sofort zu drehen – sehr schnell, wie er zu seiner Überraschung sah. Die Luft war so dünn, daß sogar eine steife Brise nahezu unbemerkt blieb. Toshima wird sich freuen, Meldungen von einer weiteren Station zu erhalten, sagte sich Wosnesenski, als er das von einer Radionukleidbatterie betriebene Telemetriefunkgerät einschaltete.

Dann ging er zur Winde zurück. Er pflanzte seine kurzen Beine so fest wie die der Maschine auf den staubigen roten Boden und machte stundenlang Videoaufnahmen von dem gesamten Gebiet.

Jamie machte ebenfalls Aufnahmen mit dem Fotoapparat, den er an dem Gerätegürtel um seine Taille trug.

Als er sich der Sohle näherte, suchte er nach Spuren der eigentlichen Verwerfungslinie, die den Canyon geschaffen hatte.

Vergeblich. Die Winde, die sich jedes Jahr zu planetenweiten Sandstürmen entwickelten, hatten den Boden des Canyons seit Ewigkeiten mit Staubablagerungen bedeckt. Jamie lächelte in seinem Klettergeschirr vor sich hin. Noch ein oder zwei Milliarden Jahre, und die Canyons sind aufgefüllt.

Er wollte nicht nach oben schauen, so lange er in dem Geschirr baumelte. Die Felswand ragte über ihm auf, viel zu hoch und zu steil, als daß man sie ersteigen konnte. Die anderen Wände waren kilometerweit entfernt, aber je tiefer Jamie kam, desto näher schienen sie zu rücken. In einem tiefen, der Vernunft nicht zugänglichen Teil seines Gehirns nisteten Furcht und das Gefühl, in der Falle zu sitzen. Deshalb beschäftigte Jamie sich während des Abstiegs damit, Steinbröckchen abzuschlagen und den Grund des Canyons nach Hinweisen auf den ursprünglichen Riß im Boden abzusuchen, der ihn erzeugt hatte. Er fand keine.

Was hast du denn erwartet, fragte er sich. Etwas so Augenfälliges wie den San-Andreas-Graben?

»Es wird Zeit, daß Sie heraufkommen«, rief Wosnesenski.

»Und zwar sofort.«


Unwillkürlich lehnte Jamie sich in dem Geschirr zurück und schaute nach oben. Einen schwindelerregenden Moment lang hatte er das Gefühl, als würde die Felswand kippen und auf ihn stürzen.

Aber er hörte sich nörgeln: »Ich bin noch gar nicht ganz unten!«

»Es wird dunkel.«

Jamie schwankte in seinem Geschirr hin und her. Er stellte fest, daß die Schatten von der gegenüberliegenden Wand des Canyons fast schon bei ihm waren. Er erschauerte. Mikhail hat recht; ich will nicht im Dunkeln hier unten sein.

»Okay, ich komme rauf«, sagte er in sein Helmmikrofon. Er merkte, wie sich das Geschirr um ihn spannte, als das Kabel ihn hochzuziehen begann. Er hielt sich mit beiden behandschuhten Händen an dem Kabel fest und versuchte, sich mit den Stiefeln an der Felswand abzustützen, während er nach oben stieg. Die Winde machte die gesamte eigentliche Arbeit.

Endlich kam er oben an. Die Sonne hatte fast schon den Horizont erreicht. Jamie fröstelte selbst in dem beheizten Anzug.

Der Himmel im Osten war bereits dunkel.

Wosnesenski half ihm, das Geschirr und den Gerätegürtel abzunehmen; dann machten sie sich auf den Rückweg zum Rover.

Jamie hielt seinen Gefährten mit ausgestreckter Hand auf.

»Moment noch, Mikhail. Wir sind schon fast eine Woche auf dem Mars und haben uns noch nicht mal einen Sonnenuntergang angesehen.«

Der Russe gab einen Laut von sich, der zwischen einem Grunzen und einem Schnauben lag, aber er blieb stehen. Die beiden standen auf der weiten Marsebene, die Kletterausrüstung in den Händen, und sahen zu, wie die winzige, blasse Sonne den flachen Horizont berührte. Der Sonnenuntergang war nicht spektakulär. Keine flammenden Farben von atemberaubender Schönheit. Die Luft war zu dünn, zu trocken, zu sauber. Und doch…

Der rosafarbene Himmel wurde erst rot, dann violett, verdunkelte sich gleichförmig und gleichmäßig wie die Kuppel eines Planetariums, wenn das Licht heruntergedreht wird und schließlich erlischt.

»Schauen Sie!« Jamie zeigte zum Horizont, als die Sonne dahinter versank. Ein einzelner, einsamer Wolkenfetzen hing dort und glühte kurz auf, wie ein silberner Geist. Dann verschwand die Sonne ganz, und die Wolke verschmolz mit der allumfassenden Dunkelheit.

»Das ist schöner, als ich es mir je hätte vorstellen können.«

Wosnesenskis Stimme war so leise und sanft, wie Jamie sie noch nie gehört hatte.

»O ja. Ich möchte wissen…«

Die Worte blieben Jamie im Halse stecken. Sein Herz begann zu klopfen. Der Himmel schimmerte, glomm schwach, als würde ein Gespenst über ihnen schweben, ließ so blasse und zarte Farben aufflackern, daß Jamie einen atemlosen Moment lang seinen Augen nicht traute.

»Mikhail…«

»Ich sehe es. Polarlicht.«

»Wie das Nordlicht.« Jamies Stimme hatte vor Ehrfurcht einen hohlen Klang, und sie zitterte. Die Lichter – ganz und gar ätherische Pastelltöne von Pink, Grün, Blau und Weiß –

pulsierten und wogten über den Himmel. Durch sie hindurch konnte er schwach die Sterne sehen.


»Aber der Mars hat doch gar kein Magnetfeld«, sagte Wosnesenski. Es klang eher verblüfft als beeindruckt.

»Genau das ist es«, hörte Jamie sich antworten. »Partikel des Sonnenwindes müssen auf dem ganzen Planeten auf die obere Atmosphäre treffen. Die Gase da oben glühen, wenn die Partikel sie erregen. Das muß überall geschehen, jede Nacht. Wir sind bloß noch nie lange genug draußen geblieben, um es zu sehen.«

»Müßte man es nicht aus der Umlaufbahn sehen können?«

Mikhail war ein nüchternerer Wissenschafter als Jamie.

»Sicher nur ziemlich schwach, wenn man nach unten schaut, vor dem Hintergrund des Planeten.

Aber wenn sie wissen, wonach sie Ausschau halten müssen, werden Katrin Diels und Ulanow es bestimmt beobachten können.«

Die Farben verblaßten. Das Licht erlosch langsam, und der Himmel war wieder dunkel und ruhig. Jamie spürte, wie ihn ein Schauer überlief, obwohl er nicht sagen konnte, ob es Furcht oder Verzückung war. Wahrscheinlich von beidem etwas. Sein Pulsschlag dröhnte ihm immer noch in den Ohren.

Wohin man auch schaute, war nun nichts mehr als absolute Dunkelheit, soweit das Auge reichte. Als wäre die Welt verschwunden, als stünde er allein in einem ganz eigenen Universum, in dem er kein anderes Lebewesen gab außer ihm.

Und die Sterne. Selbst durch das getönte Visier seines Helmes sah Jamie die hellen, unvergänglichen Sterne auf ihn herabschauen wie treue alte Freunde, die ihm sagten, daß sie selbst auf dieser seltsamen, leeren Welt dort oben an ihren Plätzen waren, die Wächter der universalen Ordnung.


Einer der Sterne bewegte sich sichtbar über den Himmel.

»Ob das da unsere Schiffe im Orbit sind?« überlegte Jamie laut.

Wosnesenski lachte leise. »Das ist Phobos. Er ist so nah, daß er wie eine Raumstation aussieht, die von West nach Ost fliegt.

Deimos ist so schwach, daß man ihn nur sieht, wenn man ganz genau weiß, wo man ihn suchen muß.«

Jamie erkannte den Orion und den Stier mit dem Haufen der Plejaden im Hals. Als er sich umdrehte, sah er den großen und den kleinen Wagen. Der Polarstern steht nicht über dem Nordpol des Mars, entsann er sich.

»Schauen Sie dort.« Wosnesenski mußte hingezeigt haben, aber im Sternenlicht konnte Jamie seine Gestalt nicht erkennen.

Der Russe faßte ihn an der Schulter und drehte ihn leicht.

»Direkt über dem Horizont. Der helle, blaue.«

Jamie sah ihn. Ein unglaublich schöner blauer Stern schimmerte tief unten am Horizont.

»Ist das denn die Erde?« fragte er in ehrfüchtigem Flüsterton.

»Die Erde«, bestätigte Wosnesenski. »Und der Mond.«

Jamie konnte den schwächeren, weißlichen Stern, der den blauen beinahe berührte, nicht ausmachen. Wosnesenski behauptete steif und fest, er sähe ihn, aber Jamie dachte, daß es vielleicht eher an der Einbildungskraft als an der überlegenen Sehkraft des Russen lag.

»Wir müssen zurück in den Rover«, sagte Wosnesenski schließlich. »Es hat keinen Sinn, daß wir uns zu Tode frieren, während wir den Himmel bewundern.«

Er schaltete seine Helmlampe ein, woraufhin es mit ihrer an die Dunkelheit angepaßten Sicht sofort vorbei war, betätigte dann ein paar Steuerelemente an seinem Handgelenk und ließ per Fernbedienung die Lichter im Rover aufflammen. Widerstrebend folgte Jamie Wosnesenski zum Fahrzeug zurück.

In der kleinen Luftschleuse des Rovers brauchten sie erstaunlich lange, um ihre Anzüge auszuziehen. Die Aufregung über die Entdeckung des Polarlichts legte sich allmählich. Als sie nur noch ihre von Schläuchen durchzogenen Unteranzüge trugen und sich auf eingeklappten Liegen gegenübersaßen, in der Mikrowelle aufgewärmte Mahlzeiten auf dem schmalen Tisch zwischen ihnen, war Jamies Pulsschlag fast schon wieder normal.

Wosnesenski hob sein Wasserglas. »Ein sehr guter Tag«, sagte er. »Wir haben viel erreicht.«

Jamie hob sein Plastikglas und stieß mit dem Russen an. »Sie können Doktor Li einen guten Bericht erstatten.«

»Ja, wenn wir gegessen haben.«

»Ich speise die Datenbänder in den Computer ein.«

»Gut. Dann rufen wir die Basis an und informieren uns, was sie dort gemacht haben.«

Jamie beugte sich über den schmalen Tisch. »Mikhail, ich habe einen Vorschlag für morgen.«

Der Russe beugte sich ebenfalls ein wenig vor, bis ihre Nasen sich beinahe berührten.

»Nur etwa einen Tag weiter östlich von hier, wenn wir durchfahren, liegt Tithonium Chasma, ein Teil des Valles-Marineris-Komplexes – viel tiefer und breiter als…«

Wosnesenski schüttelte bereits den Kopf. »Das steht nicht auf dem Exkursionsplan. Es ist zu weit für uns.«


»Von hier aus sind es keine sechshundert Kilometer«, wandte Jamie ein. »Wir könnten es in zwanzig Stunden schaffen, wenn wir zwischendurch nicht haltmachen.«

»Bei Nacht fahren? Sind Sie wahnsinnig?« Die himmelblauen Augen des Kosmonauten zeigten keine Furcht, sondern nur die unerschütterliche Festigkeit eines Mannes, der schon entschieden hatte, wie viele Risiken er einzugehen bereit war.

»Ich würde Ihnen gern die geologische Notwendigkeit erklären«, sagte Jamie.

Merkwürdigerweise erschien ein schiefes Grinsen auf dem Gesicht des Russen. »Gut. Sie erklären die Geologie. Ich räume den Tisch ab.«

Als Wosnesneski aufstand und ihre Essensschalen zu dem Ständer brachte, in dem sie bleiben würden, bis der Rover zur Hauptbasis zurückkehrte, klappte Jamie den Tisch zusammen und schob ihn wieder an seinen Platz unter der Liege.

»Die Wände der Canyons hier sind nicht differenziert«, begann Jamie. »Sie bestehen nur aus einer einzigen dicken Platte eisenhaltigen Gesteins, die abgeschliffen und freigelegt worden ist. Das ist unerhört, Mikhail. Auf der Erde gibt es überhaupt nichts dergleichen.«

»Sie haben also eine große Entdeckung gemacht. Gut.«

»Wir müssen herausfinden, ob es in den größeren Canyons genauso ist! Oder gilt das sogar für das gesamte Grabensystem? Dreitausend Kilometer pures Mantelgestein? Das ist unmöglich! Es kann einfach nicht sein.«

Wosnesenski glitt bereits auf den Fahrersitz und überprüfte, ob ihre Antenne noch auf die Raumschiffe im synchronen Orbit ausgerichtet war.

»Was zeigen die Satellitenfotos?« fragte er.


Das schräge, transparente Dach des Cockpits war so niedrig, daß Jamie sich bücken mußte, als er hinter dem Fahrersitz stehenblieb. Er spürte, wie die Kälte der Marsnacht durch das Plastglas hereindrang, obwohl Wosnesenski den Thermovorhang für die Nacht zugezogen hatte.

»Die sind nicht detailliert genug, Mikhail«, antwortete er.

»Wir müssen selbst hinfahren und uns die Gesteinsformationen aus der Nähe ansehen. Und Proben zur Analyse mitnehmen.«

»Das wäre ein Umweg von mindestens zwei Tagen. Einen vollen Tag oder mehr, um dorthin zu gelangen, und noch einmal so lange, um dorthin zurückzukehren, wo wir sein sollten.

Wir haben nicht genug Lebensmittel an Bord, und es wäre eine unnötige Belastung des Luftaufbereitungssystems. Und es würde den Missionsplan zunichte machen.«

»Kommen Sie schon, Mikhail! Wir können die Nahrungsmittel strecken. Die Treibstoffzellen erzeugen sauberes Wasser, und die Luftaufbereiter halten noch Monate. Das wissen Sie.

Und zwischen dieser und der nächsten Exkursion liegt eine volle Woche.«

»Zwanzig Stunden Fahrt, selbst ohne Zwischenaufenthalte.«

»Ich löse Sie beim Fahren ab«, sagte Jamie grinsend. »Ich bin mit Pickups durch schlimmeres Gelände als dieses gefahren.«

Der Russe drehte sich auf seinem Sitz und fixierte Jamie mit seinen klaren blauen Augen. »Wir sind hier nicht in New Mexico.«

»Das stimmt«, erwiderte Jamie. »Wir sind auf dem Mars.

Und zwar, um diese neue Welt zu erforschen. Wir haben hier wichtige wissenschaftliche Arbeiten zu erledigen, Mikhail…«

»Ihr Wissenschaftler wollt immer die Regeln brechen.«


»Verdammt, ja!« fauchte Jamie. »Wir sind wegen der Wissenschaft hier. Um zu forschen. Zu lernen. Die Wahrheit zu suchen, wohin uns das auch führen mag.«

»Schöne Worte«, grummelte Wosnesenski.

»Menschen sind für diese Ideen gestorben!«

»Ja. Genau darum geht es mir.«

»Wir haben hundert Millionen Kilometer zurückgelegt!«

schrie Jamie beinahe. »Was, zum Teufel, sind da ein oder zwei weitere Exkursionstage?«

»Sie sind nicht genehmigt. Sie stehen nicht im Exkursionsplan. Die Flugkontrolle auf der Erde wäre dagegen.«

»Zum Teufel mit ihr! Wir sind hier, Mikhail. Der Grund dafür ist, daß wir lernen sollen. Das geht aber nicht, wenn wir uns stur an Pläne halten, die vor einem Jahr ausgearbeitet worden sind. Sie hätten ebensogut unbemannte Maschinen schicken können, wenn sie uns zwingen wollen, uns wie gottverdammte Roboter zu benehmen.«

Wosnesenski holte tief Luft und atmete dann langsam aus, wie ein Mann, der sich zu beherrschen versuchte. »Wir sind keine Roboter, aber wir sind höheren Stellen verantwortlich.

Der Zweck dieser Expedition ist es, mit der Erforschung des Mars zu beginnen. Wenn wir das Mißfallen der Verantwortlichen erregen, wird es keine weiteren Missionen geben, und dann ist Schluß mit der Forschung.«

Jamie hockte sich auf die Fersen und legte einen Arm auf die Lehne von Wosnesenskis Sitz, um sich abzustützen. Er zwang sich, einen sachlicheren Ton anzuschlagen. »Mikhail, von mir aus könnten alle Politiker auf der Erde mit einem großen Satz in den Grand Canyon springen. Wie kommen Sie auf die Idee, daß sie weitere Missionen zum Mars genehmigen werden, ganz gleich, wie gehorsam wir sind? Wir sind hier, und zwar jetzt. Jetzt ist der richtige Zeitpunkt, um so viel über diese Welt herauszufinden, wie wir können. Je mehr Wissen wir jetzt erwerben, desto schwerer wird es für sie, uns Folgemissionen zu verwehren, wenn wir zurückgekehrt sind.«

»Sie bewegen sich auf dünnem Eis, Jamie.«

»Kann sein. Ich dachte, ihr Russen wäret alle große Spieler«, redete ihm Jamie zu.

Wosnesenski versteifte sich sichtlich. »Ich bin nicht hier, um zu spielen. Nicht mit Leben. Auch nicht mit meinem eigenen.«

»Aber es ist doch nun wirklich kein so großes Risiko«, drängte Jamie und änderte rasch seine Taktik. »Es ist machbar! Wir müssen uns nicht an die Pläne halten, die auf der Erde für uns entwickelt worden sind. Die Missionsbefehle räumen uns eine gewisse Flexibilität ein. Wir haben hier die Gelegenheit, eine äußerst wichtige Entdeckung in bezug auf die geologische Geschichte dieses faszinierenden Planeten zu machen.«

»Es ist ein unnötiges Risiko.«

Jamie zwang sich, den Russen anzugrinsen. »Sehen Sie’s doch mal so, Mikhail – wenn wir dabei umkommen, müssen Sie sich weder mit Doktor Li noch mit der Flugkontrolle in Kaliningrad herumärgern.«

Wosnesenski starrte ihn einen langen Moment an, dann bracht er in schallendes Gelächter aus. »Sie sind ja ein Fatalist!« sagte der Kosmonaut. »Genau wie ein Russe.«

»Also, machen Sie’s?«

»Es steht nicht auf dem Exkursionsplan.«

»Dann ändern wir den Plan eben«, sagte Jamie. »Der Rover hat die Reichweite, und wir haben genug Vorräte an Bord.


Wenn wir steckenbleiben, kann Mironow mit dem anderen Rover kommen.«

Wosnesenskis fleischiges Gesicht nahm wieder den üblichen finsteren Ausdruck an. »Wir dürfen nicht vom Exkursionsplan abweichen«, sagte er. »Das ist nicht erlaubt.«

Jamie merkte, wie er sich innerlich anspannte. Langsam und bedächtig erhob er sich aus seiner Hockstellung. »In diesem Fall geben mir die Missionsvorschriften das Recht, mich über Ihren Kopf hinweg direkt an Doktor Li zu wenden«, sagte er ruhig. »Ich möchte mit Li sprechen.«

Immer noch finster dreinschauend, streckte Wosnesenski die Hand zur Kontrolltafel aus und schaltete die Kommunikationsanlage ein.

»Dann sprechen Sie mit dem Expeditionskommandanten«, knurrte er. »Soll er die Verantwortung übernehmen.«

»Zum Tithonium Chasma?« Dr. Li war überrascht. »Aber das ist tausend Kilometer von Ihrer gegenwärtigen Position entfernt.«

»Bis zum westlichen Rand sind es von unserer gegenwärtigen Position aus weniger als sechshundert Kilometer«, erwiderte James Waterman.

Li sank in seinen gepolsterten Sessel zurück. Er hatte sich in seine Privatunterkunft zurückgezogen, um den erwarteten Anruf von Wosnesenski entgegenzunehmen – zum Teil aus Bequemlichkeit, zum Teil aber auch, weil er das Gefühl hatte, mit allen auftauchenden Problemen leichter fertigwerden zu können, wenn die Techniker und die anderen Mitglieder des Teams nicht an der Kommunikationskonsole im Kommandozentrum des Raumschiffs um ihn herumstanden.


Seine Kabine war so luxuriös, wie es die Missionsvorschriften zuließen. Wie alle anderen Privatkabinen an Bord der beiden Marsschiffe war sie kaum groß genug für eine schmale Koje, einen winzigen Schreibtisch und einen einzelnen Sessel.

Lis Sessel ließ sich jedoch wie die Beschleunigungsliege eines Astronauten nach hinten kippen. Er schlief oft darin, lieber als in der Koje, die er unangenehm kurz fand.

Während andere Teammitglieder ihre Kabinen mit Fotos ihrer Angehörigen, Marskarten oder sogar Computerausdrucken geschmückt hatten, hatte Li eine exquisite Reihe kleiner Seidenmalereien an seine Wände geklebt. Nebelverhangene Berge. Schöne Vögel, die auf einem grazilen Ast saßen. Eine Pagode an einem See. Erinnerungen an die Heimat. Selbst wenn er im All sterben sollte, so seine Begründung, wollte er diese trostreichen Gemälde um sich haben.

Aber er würdigte sie keines Blickes, als er nun auf den Bildschirm starrte, der seinen kleinen Schreibtisch beherrschte.

Watermans breites Gesicht mit den Onyx-Augen sah ihm daraus entgegen. Ein Gesicht, das sehr stur sein konnte, wie Li feststellte.

»Ich möchte Ihnen so viel Spielraum wie möglich geben«, sagte Li, »aber drei zusätzliche Tage für Ihre Exkursion scheinen mir übertrieben zu sein.«

Er fügte nicht hinzu, daß Wosnesenski nicht einmal bei dieser Exkursion dabeisein sollte. Der Russe hätte im Basislager bleiben sollen, wie es der Missionsplan vorsah. Er überschritt bereits seine Direktiven.

»Es muß sein«, erwiderte Waterman. »Aus geologischen Gründen.«


Li hätte sich fast ein Lächeln erlaubt. Natürlich, aus geologischen Gründen. Selbstverständlich würde Waterman einen guten wissenschaftlichen Grund dafür haben, daß er die Grenzen versetzen wollte. Ein geborener Unruhestifter.

Li legte die Fingerspitzen im Schoß zusammen, außerhalb des Bildfelds der Kamera, und wartete auf die Erklärung des Geologen. Dieser schien vor Eifer zu bersten: Die schwarzen Augen waren groß und funkelnd, die Lippen leicht geöffnet, und die Energie leuchtete geradezu aus seinem dunkelhäutigen Gesicht.

»Wir haben die Treibstoffvorräte des Rovers berechnet, und sie sind mehr als ausreichend, um uns zur Tithonium-Region und wieder zur Basis zurückzubringen, Sir. Und inklusive einer großzügig bemessenen Reserve.«

Nun erlaubte sich Li doch ein dünnes Lächeln. Waterman denkt nur an die technische Seite. Für ihn sind die damit verbundenen politischen Probleme einfach nicht von Bedeutung.

Ich frage mich, ob er überhaupt an sie denkt.

»Doktor Li, Sie verfügen ja über grundlegende geologische Kenntnisse…« Und ohne zu zögern stürzte sich Waterman in einen Vortrag über die Gesteinsformationen auf dem Mars.

Li hörte mit einem Ohr zu, während ein anderer Teil von ihm sich über die wissenschaftliche Ernsthaftigkeit und die gedankenlose Arroganz dieses enthusiastischen jungen Mannes amüsierte, der den Älteren belehrte.

Der junge Narr begreift einfach nicht, daß er sich politisch auf furchtbar wackligem Boden bewegt. Er glaubt aufrichtig, daß Wissenschaft das einzige ist, was zählt. Li wünschte, er könnte solch ein unkompliziertes Leben führen, sich von solch einer ungebremsten Begeisterung leiten lassen und auf die Jagd nach Wissen gehen, ohne sich um diejenigen zu scheren, die das Geldsäckel kontrollierten – und die Ehrentitel vergaben.

Andererseits, überlegte er nüchtern, während Jamie mit seinem Nonstop-Vortrag fortfuhr, angenommen, er bringt sich da unten um? Dann wird er automatisch ein Held. Und hört auf, ein Problem zu sein. Höchstwahrscheinlich würde er Wosnesenski ebenfalls umbringen, aber da konnte man nun mal nichts machen.

Li schüttelte sich, als er erkannte, wohin ihn solche Gedanken führten. Meine Aufgabe besteht darin, sagte er sich streng, die Erforschung des Mars zu leiten und dafür zu sorgen, daß die Wissenschaftler ihre Forschungsarbeiten so ungestört wie möglich durchführen können. Waterman will sein Arbeitsfeld weiter ausdehnen und schneller vorgehen, als wir geplant haben. Die Politiker werden wütend sein, wenn etwas schiefgeht.

Es dauerte einen Moment, bis er merkte, daß Waterman aufgehört hatte zu reden und ihn vom Bildschirm herab erwartungsvoll ansah. Wie ein Kind, das seinen Vater um Erlaubnis bittet, einen neuen Schritt zum Erwachsenleben zu tun, dachte Li.

Er zwinkerte zweimal und hörte sich dann wie aus großer Ferne antworten: »Also gut, führen Sie Ihr Vorhaben durch.

Aber ich erwarte von Ihnen, Kommandant Wosnesenski, daß Sie sofort haltmachen, wenn Ihre Treibstoffvorräte unter die kritische Schwelle sinken sollten.«

Die Kamera unten schwenkte zu Wosnesenski zurück. »Ich habe die Treibstoffreserven berechnet, die wir für die sichere Rückkehr zur Basis brauchen, und einen Notfallfaktor von zwanzig Prozent hinzuaddiert.«


»Wenn Sie diesen Punkt erreichen, müssen Sie umkehren, ganz gleich, wo Sie sind oder was Sie tun. Ist das klar?«

»Ja, Sir.«

»Doktor Waterman?«

Er hörte Watermans Stimme antworten: »Klar.«

»Also dann, machen Sie weiter.« Li streckte die Hand zur Tastatur aus, um die Übertragung zu beenden, zögerte dann jedoch einen Moment lang und fügte noch hinzu: »Und viel Glück.«

»Danke!« ertönten die Stimmen der beiden Männer unisono.


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