Im Anschluß an ihre kleinen Ansprachen nach der Landung sammelten die Wissenschaftler als erstes vorläufige Proben vom Gestein, dem Erdreich und der Atmosphäre des Mars.
Nur für den Fall, daß ein plötzlicher Notfall sie zwingen würde, in aller Eile wieder in ihr L/AV-Fahrzeug zu klettern und in den Orbit um den Planeten zurückzukehren, verbrachten sie ihre ersten zwei Stunden auf dem Mars damit, Steine und Bodenproben in luftdichte Behältnisse zu stecken und Fläschchen mit Luftproben zu füllen, die sie vom Boden bis in eine Höhe von zehn Metern nahmen, letztere mit Hilfe einer langen, dünnen Titanstange.
Währenddessen rollte der Bauroboter über den steinigen Boden zu den drei unbemannten Frachtmodulen, die am Vortag in einem Radius von zwei Kilometern um ihren vorgesehenen Landeplatz herum gelandet waren. Geschäftig wie eine übergroße mechanische Ameise schleppte er ihre Fracht zu der aufgeblasenen Kuppel, die für die nächsten acht Wochen das Zuhause der Forscher sein würde.
Mikhail Andrejewitsch Wosnesenski, Veteran eines Dutzends Raumfahrtmissionen, saß oben im Cockpit auf dem Platz des Kommandanten und behielt sowohl die Wissenschaftler als auch den Missionsplan im Auge. Neben ihm überwachte Pete Connors den Roboter und unterhielt sich mit der Expeditionsleitung im Orbit. Obwohl beide Männer ihre Raumanzüge anbehalten hatten und bereit waren, sofort nach draußen zu stürzen, wenn ein Notfall ihre Hilfe erforderlich machte, hatten sie die Helme abgenommen.
Connors schaltete das Funkgerät aus und drehte sich zu dem Russen um. »Die Jungs oben bestätigen, daß wir nur hundertdreißig Meter von unserem geplanten Zielpunkt entfernt gelandet sind. Sie übermitteln uns ihre Glückwünsche.«
Wosnesenski ließ ein seltenes Lächeln sehen. »Wir wären noch näher herangekommen, aber die Felsblöcke weiter südlich waren zu groß.«
»Sie haben verdammt gute Arbeit geleistet«, sagte Connors.
»Kaliningrad wird sich freuen.« Sein voller Bariton war in Kirchenchören ausgebildet worden. Der Amerikaner hatte ein langes, beinahe pferdeartiges Gesicht mit milchschokoladefarbener Haut und großen, sorgenvollen, rotgeränderten braunen Augen. Sein Haar war militärisch kurz geschnitten und wies das charakteristische V eines mitten über der Stirn spitz zulaufenden Haaransatzes auf.
»Sie wissen, was die alten Piloten sagen«, erwiderte Wosnesenski.
Connors schmunzelte. »Jede Landung, nach der man auf den eigenen Beinen gehen kann, ist eine gute Landung.«
»Alle System funktionieren. Wir sind genau in der Zeit.« Das war Wosnesenskis Art, seine exzellente Landung herunterzuspielen. Der Russe mißtraute Schmeicheleien, selbst wenn sie von einem Mann kamen, mit dem er seit fast vier Jahren zusammenarbeitete. Für gewöhnlich lag ein finsterer Ausdruck auf seinem breiten, fleischigen Gesicht. Seine himmelblauen Augen schauten immer skeptisch drein.
»Ja. Und jetzt muß das zweite Team dort landen, wo wir sind. Mal sehen, wie gut Mironow und mein alter Kumpel Abell ihre Sache machen.«
»Mironow ist sehr gut. Ein ausgezeichneter Pilot. Er könnte auf unserem Dach landen, wenn er wollte.«
Connors lachte unbekümmert. »Na, dann hätten wir aber ein höllisches Problem, nicht wahr?«
Wosnesenski zog die Mundwinkel nach oben, aber es kostete ihn offensichtlich Mühe.
Die Wissenschaftler verstauten ihre vorläufigen Proben in der Luftschleusensektion des L/AV. Bei einem Notfall würden die Luftschleusensektion und das darüberliegende Cockpit allein starten. Die untere Hälfte der Landefähre – die Ladebuchten und die Aerobremse – würde auf dem Mars bleiben. Selbst wenn ein oder mehrere Forscher zurückgelassen werden mußten, würden die kostbaren Proben zu den Expeditionsschiffen in der Umlaufbahn und von dort zu den wartenden Wissenschaftlern auf der Erde gelangen.
Nachdem diese erste Aufgabe zu Wosnesenskis Zufriedenheit ausgeführt worden war, befahl er dem Team, Vorräte in die Kuppel zu schaffen. Sie beeilten sich, um der sonderbar kleinen Sonne zuvorzukommen, die sich bereits dem westlichen Horizont näherte. Das Baufahrzeug zog die schweren Paletten mit Geräten, während die Forscher mit scheinbar übermenschlicher Kraft mannshohe, zylindrische grüne Sauerstofftanks und unförmige Kisten schleppten, die auf der Erde mehr als hundert Kilo gewogen hätten.
Jamie, der in seinem Druckanzug wie ein Hafenarbeiter schwitzte, lächelte bitter bei dem Gedanken, daß die erste Aufgabe der ersten Forscher auf dem Mars darin bestand, wie Kulis zu schuften und sich stundenlang ächzend mit schweren Lasten abzuplacken. In den Erklärungen für die Öffentlichkeit und auf den Fernsehbildern erschien alles immer so verdammt leicht, dachte er. Niemand schaut einem Wissenschaftler jemals bei der Arbeit zu – schon gar nicht, wenn er sich wie ein Pferd abrackert.
Weder er noch die anderen schenkten ihrer auf der geringen Gravitation beruhenden Stärke besondere Aufmerksamkeit.
Während des etwas über neunmonatigen Fluges von der Erde waren ihre Raumschiffe an einem fünf Kilometer langen Raumseil umeinander rotiert, um den Eindruck von Schwere zu erzeugen, weil längere Perioden in der Schwerelosigkeit die Muskeln gefährlich schwächten und die mineralischen Substanzen in den Knochen abbauten. Ihre künstliche Schwerkraft hatte anfangs ein normales irdisches Ge betragen und war dann während der Monate ihres Fluges langsam auf den marsianischen Wert von ungefähr einem Drittel Ge reduziert worden. Jetzt konnten sie sich auf dem Boden des Mars normal bewegen, mit ihren auf der Erde entwickelten Muskeln aber trotzdem ungeheure Lasten heben.
Am Ende ihres langen, anstrengenden Tages begaben sie sich schließlich ins Innere der aufgeblasenen Kuppel. Die winzige Sonne färbte den Himmel feuerrot, und die Temperatur drau
ßen betrug bereits 45 Grad unter Null.
Den Meßinstrumenten zufolge war die Kuppel mit atembarer Luft gefüllt; Luftdruck und Temperatur entsprachen denen der Erde. Das Thermometer zeigte genau einundzwanzig Grad Celsius.
Sie behielten jedoch alle sechs ihre Druckanzüge an und würden sie auch erst ablegen, wenn Wosnesenski entschied, daß man die Luft in der Kuppel problemlos atmen konnte. Jamies Anzug lag schwer auf seinen Schultern. Er hatte nicht mehr diesen ›Neuwagen‹-Geruch nach sauberem Plastik und unberührtem Stoff; er roch nach Schweiß und Maschinenöl.
Der Luftaufbereiter im Tornistergerät tauschte zwar Kohlendioxid gegen atembaren Sauerstoff aus, aber die Filter und Miniaturlüfter im Innern des Anzugs konnten nicht alle Gerüche entfernen, die sich bei körperlich anstrengender Arbeit ansammelten.
»Jetzt kommt der Augenblick der Wahrheit«, hörte er Ilona Malaters heisere Stimme sagen. Sie klang sexy – oder vielleicht auch nur müde.
Wosnesenski hatte die letzten paar Stunden damit verbracht, die Kuppel nach Lecks abzusuchen, den Luftdruck und die Zusammensetzung der Luft zu überprüfen und an den Lebenserhaltungspumpen und Heizgeräten herumzuwerkeln, die mitten auf dem gehärteten Kunststoffboden beisammen standen. Die anderen kamen nacheinander langsam zu ihm herüber, stapften in ihren dicken Stiefeln schwerfällig umher und warteten darauf, daß er den Befehl gab, auf den sie alle mit einer seltsamen Mischung aus Ungeduld und Furcht warteten.
Ob es ihnen paßte oder nicht, Wosnesenski war der Leiter ihres Teams, und das jahrelange Training hatte sie darauf gedrillt, die Befehle ihres Anführers ohne einen Gedanken an seine Nationalität zu befolgen. Alles, was sie auf dieser gefährlich andersartigen Welt taten, würde nach den Regeln und Vorschriften geschehen, die auf der Erde gewissenhaft ausgearbeitet worden waren. Wosnesenskis erste und wichtigste Aufgabe bestand darin, dafür zu sorgen, daß sich hier auf dem Mars auch jeder an diese Regeln und Vorschriften hielt.
Jetzt wandte sich der Russe von den leise summenden Luftzirkulationsventilatoren und der Reihe der Sauerstoff-Reservetanks ab und sah, daß seine fünf Teammitglieder sich um ihn herum versammelt hatten. Es war schwierig, sein Gesicht hinter dem Helmvisier auszumachen, und seine Miene konnte man erst recht nicht erkennen. In seinem fast akzentfreien amerikanischen Englisch sagte er: »Die Anzeigen sind alle im normalen Bereich. Wir können unsere Anzüge offenbar gefahrlos ablegen.«
Jamie erinnerte sich an einen Physiker aus Albuquerque, der von einem Experiment, das nicht richtig geklappt hatte, enttäuscht gewesen war und ihm erklärt hatte: »In der Physik geht es letztlich nur darum, eine verdammte Anzeige an einem verdammten Meßinstrument abzulesen.«
Wosnesenski wandte sich an Connors, seinen Stellvertreter.
»Pete, der Missionsplan sieht vor, daß Sie die Luft als erster testen.«
Der Amerikaner kicherte nervös in seinem Helm. »Ja, ich bin das Versuchskaninchen, ich weiß.«
Er stieß einen übertriebenen Seufzer aus, den sie alle in ihren Kopfhörern hören konnten. »Na, dann wollen wir mal«, sagte er.
Connors öffnete sein Helmvisier einen Spaltbreit, schnüffelte, schob das Visier dann ganz hoch und sog die Luft tiefer in die Lungen. Er grinste und fletschte die Zähne. »Verdammt viel besser als das, was da draußen ist.«
Sie lachten alle, und die Spannung löste sich. Sie schoben ihre Visiere hoch, entriegelten dann die Halsverschlüsse ihrer Anzüge und nahmen gemeinsam die Helme ab. Jamies Ohren knackten, aber das war auch schon alles.
Ilona schüttelte ihre kurzgeschnittenen blonden Locken und atmete langsam ein. Ihre schmalen Nasenflügel blähten sich.
»Huh! Riecht ja wie im Trainingsmodul. Zu trocken. Schlecht für die Haut.«
Jamie schaute sich eingehend in ihrem neuen Zuhause um, nachdem sein Blickfeld nun nicht mehr durch den Helm eingeschränkt war.
Er sah die von gebogenen Metallstreben gerippte Kuppel, die sich über ihm in schattenhaftes Halbdunkel erhob, und mußte daran zurückdenken, wie er als Kind in Santa Fe zum ersten Mal in einem Planetarium gewesen war. Die gleiche gedämpfte, einschüchternde Atmosphäre. Die gleiche milde, kühle Luft. Ilona fand die Luft zu trocken; er fand sie köstlich.
Die glatte Kunststoffhaut der Kuppel war von einem polarisierenden elektrischen Strom abgedunkelt worden, damit die Wärme im Innern blieb. Bei Tageslicht würde der untere Teil der Kuppel transparent werden, um die Sonnenwärme auszunutzen, aber bei Nacht war sie ein überdimensionaler Iglu, der abgedunkelt auf der gefrorenen Marsebene stand, um die Wärme zu halten und sie nicht in die dünne, eisige Marsluft entweichen zu lassen. Längliche, sonnenlicht-äquivalente Neonlampen erhellten den Bodenraum ein wenig, aber die oberen Bereiche der Kuppel waren in der Dunkelheit, die sich dort sammelte, kaum zu sehen.
Die Kuppel hatte eine doppelwandige Kunststoffhaut, die ähnlich wie bei Isolierglasfenstern die Kälte draußen halten sollte. Der oberste Teil war undurchsichtig und mit einem speziellen, dichten Kunststoff gefüllt, der schädliche Strahlung absorbieren und den Ingenieuren zufolge sogar kleinen Meteoriten standhalten konnte. Der Gedanke, die Kuppel könnte punktiert werden, war furchteinflößend. Flicken und Klebstoff standen rundum an der Hülle bereit, aber würde die Zeit ausreichen, ein Loch zu flicken, bevor die ganze Luft ausströmte?
Jamie erinnerte sich an den uralten Witz der Fallschirmpacker:
»Keine Angst. Wenn der Fallschirm nicht funktioniert, tauschen Sie ihn einfach um.«
Der elektrische Strom, der die Kuppel heizte, kam aus dem kompakten Atomstromgenerator in einem der Frachtmodule.
Morgen, nach der Landung des zweiten Teams, würde der Roboter den Generator herausholen und ihn einen halben Kilometer von der Kuppel entfernt im Erdreich des Mars vergraben.
Erdreich ist nicht das richtige Wort, ermahnte sich Jamie.
Erdreich wimmelt von Mikroorganismen, Bodenwürmern und anderen Lebewesen. Hier auf dem Mars heißt das Regolith, genau wie der ganz und gar tote Boden auf dem ganz und gar toten Mond.
Jamie fragte sich, ob der Mars wirklich tot war. Er erinnerte sich an die Stories, die er als Junge gelesen hatte, wüste Geschichten über Marsianer, die sich in den um ihren Planeten herumlaufenden Kanälen bekriegten, hübsche Hirngespinste von schachbrettartig angelegten Städten und von Häusern, die sich drehten, um wie Blumen der Sonne zu folgen. Jamie wußte, daß es auf dem Mars keine Kanäle gab. Keine Städte. Aber war der Planet wirklich völlig leblos? Gab es nicht vielleicht doch Fossilien, nach denen man in diesem roten Sand graben konnte?