SOL 34 NACHMITTAG

Pete Connors blickte mit finsterer Miene auf die Kontrolltafel des Rovers und sagte ins Stiftmikrofon seiner Kopfhörergarnitur: »Die verdammten Lüfter wollen immer noch nicht hundert Prozent Leistung bringen.«

Wosnesenskis Gesicht war auf dem Bildschirm in der Mitte der Tafel. »Wieviel bringen sie denn?«

»Achtzig, zweiundachtzig.«

Jamie, der neben dem Astronauten saß, versuchte, die kribbelnde Ungeduld und Besorgnis in seinem Innern vor den anderen zu verbergen. Wir können die Abfahrt nicht verschieben, nur weil die Luftzirkulationsventilatoren nicht ihre maximale Leistung bringen. Das ist kein Grund, die Exkursion auf einen späteren Zeitpunkt zu verlegen.

Wosnesenski blickte auf die Checkliste vor sich hinunter.

»Achtzig Prozent ist im Toleranzbereich«, sagte er zweifelnd.

»Ich glaube nicht, daß es irgendwelche Probleme geben wird, Mike«, sagte Connors. »Die Lüfter haben schon immer ihre Macken gehabt.«

»Ihr könnt den Sauerstoffanteil erhöhen, wenn es nötig ist«, sagte Wosnesenski.

»Genau. Dann kann es ja losgehen. Wir sind abfahrbereit.«

Connors wirkte todernst und entschlossen. Jamie fand, daß der Mann seit ihrer Ankunft auf dem Mars abgenommen hatte. Sein Gesicht sieht dünner aus, beinahe hager. Ich glaube, das ist bei uns allen der Fall.


Ilona stand hinter Jamies Sitz, die Hände auf der Lehne. Joanna stand hinter Connors. Die gespannte Erwartung straffte ihre Lippen zu einem dünnen Strich.

Na los, drängte Jamie stumm. Machen wir, daß wir in die Loipe kommen.

Wosnesenskis Gesicht zog sich in einem mürrischen kleinen Stirnrunzeln zusammen. Er stieß einen tiefen Atemzug aus; es war eher ein Schnauben als ein Seufzen. »Na schön«, sagte er schließlich. »Sie haben grünes Licht.«

Jamie stieß ebenfalls die angehaltene Luft aus, als Connors nickte und antwortete: »Okay. Auf geht’s.«

» Doswidanja. Viel Glück.«

»Danke, Mike«, sagte Connors. Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und tippte dann das Gaspedal an. Der Rover machte einen Satz nach vorn. Jamie schaltete den Kommunikationsbildschirm ab, bevor Wosnesenski seine Meinung ändern konnte.

»Wir sind unterwegs«, sagte Ilona leise.

»Nächste Haltestelle: Tithonium Chasma«, sagte Connors und bemühte sich, seiner Stimme einen fröhlichen Klang zu geben.

Ihr Exkursionsplan sah vor, daß sie auf direktem Weg zu dem Canyon fuhren, erst bei Sonnenuntergang haltmachten und beim nächsten Sonnenaufgang weiterfuhren. Es sollte keine EVAs(Extra-Vehicular ActiviHes: Außenbord-Einsätze, Ausstieg aus dem Fahrzeug – Anm. d. Übers. ) geben, keine Zwischenstops, bei denen sie den Rover verließen, um irgend etwas zu erforschen. Ihr Ziel hieß Tithonium Chasma, sonst nichts. Jamie wollte, daß sie bei dem Canyon so viel Zeit, Nahrungsmittel, Wasser und andere Verbrauchsstoffe hatten wie irgend möglich.

Die improvisierten Karten, die aus den von den ferngesteuerten Flugzeugen aufgenommenen Fotos zusammengesetzt worden waren, hatten gezeigt, daß man eventuell den Hang einer Rutschung zum Boden der Schlucht hinunterfahren konnte.

Leicht würde es aber mit Sicherheit nicht werden. Die meisten alten Rutschungen waren unter den Rand des Canyons abgesackt, und die steil abfallenden Felswände, die sie hinterlassen hatten, konnte der Rover nicht bewältigen. Manche Lawinen hatten den Boden der Schlucht vollständig ausgefüllt und sich sogar an der südlichen Wand aufgehäuft.

Die ins Auge gefaßte Rutschung schien jedoch brauchbar zu sein, und sie lag innerhalb der Reichweite ihres Rovers. Sie führte in nicht allzu steilem Winkel vom oberen Rand der Felswand zum Boden hinunter, ohne den Grund des Canyons vollständig zu bedecken. Im Vergleich zu den meisten anderen war sie schmal, kaum einen Kilometer breit. Aber das würde dem Rover ausreichend Platz bieten – wenn das Geröll fest genug war, daß man darauf fahren konnte, ohne steckenzubleiben. Und wenn der Hang bis zum Boden hinunter sanft genug abfiel; die Luftaufnahmen konnten nicht jeden Zentimeter der Rutschung im Detail einfangen.

Jamie kam sie wie eine relativ junge Rutschung vor, neuer und frischer als die älteren, größeren, die riesige Erosionsnischen in die Wände des Canyons gerissen hatten. Jung hieß, daß sie vielleicht erst ein paar Millionen Jahre alt war.

»Wir scheinen Glück mit dem Wetter zu haben«, scherzte Connors.


Der Himmel war von einem zarten Lachsrosa und so wolkenlos wie immer.

»Ich weiß nicht«, witzelte Jamie zurück. »Vielleicht regnet’s in hunderttausend Jahren oder so.«

»Verdammt! Und ich hab meinen Regenschirm in Houston gelassen.«

Joanna, die immer noch hinter dem Fahrersitz stand, sagte ganz ernst: »Toshima hat gesagt, weiter nördlich hätte es ein ungewöhnliche Anzahl von Staubstürmen gegeben.«

»Wie definiert er ungewöhnlich?« fragte Ilona.

»Im Vergleich zu Satellitenbeobachtungen während der letzten zehn Jahre, nehme ich an.«

»Aber es gibt keine Stürme so nahe am Äquator«, sagte Jamie.

»Bisher nicht«, erwiderte Joanna. »Aber wir wissen nicht, wodurch die Stürme ausgelöst werden.«

»Oder beendet«, ergänzte Ilona.

Connors sagte: »Zum Teufel, wir wissen nicht mal, wodurch Stürme auf der Erde ausgelöst werden, und die Meteorologen studieren sie schon seit den Zeiten von Ben Franklin.«

Sie hielten sich genau an den Plan, machten halt, als die geschrumpfte Sonne den roten Horizont streifte, und gaben Wosnesenski in der Kuppel ihre Position durch. Etwas von der alten Fremdheit sickerte in Jamies Seele, als die vier ihre Fertiggerichte aßen. Wir befinden uns mitten in einer eisigen Wüste, umgeben von Luft, die wir nicht atmen können, und das bei einer Temperatur, die unser Blut innerhalb von Sekunden gefrieren lassen kann. Wie sicher und heimelig ihm die Kuppel jetzt erschien!


Sie saßen jeweils zu zweit auf den gepolsterten Bänken, die sich zu Liegen ausklappen ließen, die Männer auf der einen Seite des schmalen Tisches, die Frauen auf der anderen. Jamie machte sich als erster für die Nacht fertig, während Connors wieder ins Cockpit ging, um noch einmal alle Systeme des Rovers durchzuchecken, bevor er sich für die Nacht zurückzog.

Die Frauen schwatzten miteinander und schoben den Tisch in seine Nische unter der Liege rechts unten, dann gingen sie nacheinander in den Waschraum.

Als alle vier Liegen ausgeklappt waren, wurde es verdammt eng im Rover. Die beiden Frauen nahmen die oberen Liegen, so daß Jamie und Connors in die unteren Kojen schlüpfen mußten wie zwei Kanalarbeiter, die in einen Tunnel krochen.

Jamie hörte, wie Joanna und Ilona sich über ihm wie zwei Schulmädchen im Flüsterton unterhielten. Aber sie kicherten nicht. Sie schienen vollkommen ernst zu sein, was immer sie einander auch anvertrauten.

Plötzlich schoß ihm ein Gedanke durch den Kopf. Angenommen, Ilona erzählt Joanna, daß sie es während des Transits mit mir getrieben hat! Verdammt. Er wollte nicht, daß Joanna es erfuhr.

Das würde Ilona nicht tun, sagte er sich. Es wäre unvernünftig, wenn sie darüber sprechen würde. Warum sollte sie es Joanna erzählen? Es würde unsere Beziehungen total zerstören, während wir hier in diese Aluminiumdose eingepfercht sind.

Das würde sie nicht tun. Ilona ist klug genug, um zu wissen, daß sie das lieber bleibenlassen sollte.

Aber sie hat einen seltsamen Zug an sich, sagte er sich. Einen eigenartigen Humor. Vielleicht ist sie der Meinung, daß es lustig wäre.


Jamie strengte die Ohren an, konnte aber nur das Seufzen des Windes draußen hören. Die Frauen waren eingeschlafen.

Oder hatten zumindest aufgehört zu reden. Es dauerte lange, bis Jamie in einen unruhigen Schlaf fiel. Er träumte wieder von der Schule.

Li Chengdu war zum ersten Mal entspannt, seit sie in die Umlaufbahn um den Mars eingeparkt hatten.

Wir haben die politischen Stürme abgewettert, sagte er sich.

Wir machen sogar gute wissenschaftliche Arbeit. Trotz Konoyes tragischem Tod haben die Amerikaner und die Russen bewiesen, daß sie tatsächlich imstande sind, Wasser aus den Marsmonden zu gewinnen. Die nächste Expedition wird hier auftanken und ihre Verbrauchsstoffe erneuern können. Es wird nicht mehr nötig sein, jedes Gramm Wasser, Luft und Raketentreibstoff für den gesamten Hin- und Rückflug mitzuführen. Nächstesmal wird alles einfacher sein. Wir werden sogar ein Vorratslager auf Phobos einrichten können.

Er lehnte sich in seinen bequemen Sessel zurück und betrachtete Wosnesenskis grobe, mißmutige Züge auf seinem Kommunikationsbildschirm, während der Russe seinen abendlichen Bericht durchgab. Der Mann macht immer so ein finsteres Gesicht, dachte Li. Ich glaube nicht, daß ich ihn jemals habe auch nur lächeln sehen.

Wosnesenski meldete, daß alles seinen normalen Gang nahm. Die Exkursion verlief plangemäß; Watermans Team sollte den Rand des Canyons am folgenden Tag vor Sonnenuntergang erreichen. Patel und Naguib analysierten die Lavaproben, die sie vom Pavonis Mons mitgebracht hatten. Monique Bonnet testete andere Gesteinsproben von Pavonis nach Lebensspuren. Sie hatte ein paar interessante mikroskopische Formationen darin gefunden, aber keine Organismen, nicht einmal organische Verbindungen.

Toshima machte sich Sorgen wegen einer Reihe von Staubstürmen im Norden, fast am Rand der schmelzenden Polarkappe. Der japanische Meteorologe behauptete mit Nachdruck, eine solche Sturmaktivität zu dieser Jahreszeit sei ungewöhnlich und müsse aufmerksam beobachtet werden. Erst recht, wenn ein Exkursionsteam draußen unterwegs sei. Li Chengdu nickte geistesabwesend. Er war absolut der gleichen Meinung. Die Stürme mußten beobachtet werden. Aber sonst konnte man wenig gegen sie tun.

Schließlich blickte Wosnesenski von den Notizen auf, die er vorgelesen hatte, und sagte: »Damit ist mein Bericht beendet.«

»Sind alle bei guter Gesundheit?« fragte Li das Gesicht auf dem Bildschirm.

Mit einem Grunzen und einem Nicken antwortete der Russe:

»Ja, offenbar. Ich kann Doktor Reed bitten, Ihnen die Daten seiner wöchentlichen Untersuchungen zu geben.«

»Diese Information wird in unseren Computer übertragen, nicht wahr?«

»Ja. Automatisch.«

»Dann kann ich darauf zugreifen, wenn nötig, ohne Doktor Reed bemühen zu müssen.« Li zögerte einen Herzschlag lang.

»Sagen Sie mir, wie geht es Ihren Leuten in emotionaler Hinsicht? Wie schätzen Sie die Mitglieder Ihrer Gruppe unter psychologischen Aspekten ein?«

Auf Wosnesenskis fleischigem Gesicht zeichnete sich Überraschung ab, dann legte er die Stirn nachdenklich in Falten. »Sie kommen mir alle ziemlich normal vor«, sagte er nach einer Weile. »Kurz vor dem Aufbruch des Exkursionsteams gab es beträchtliche Aufregung, aber inzwischen ist wieder die normale Routine eingekehrt.«

Das war genau, was Dr. Li hören wollte. »Gut«, sagte er. »Es freut mich, daß alle mit ihrer Arbeit zufrieden sind.«

Mikhail Wosnesenski nickte Dr. Lis Bild auf dem Kommunikationsbildschirm mürrisch zu. Der Expeditionskommandant sagte noch ein paar höfliche Worte und wünschte dem Kosmonauten dann gute Nacht.

Wosnesenski starrte noch geraume Zeit auf den Bildschirm, nachdem dieser grau geworden war. Er hatte den Expeditionskommandanten nicht angelogen. Nicht direkt. Er hatte sich bei der Antwort, die er Li auf seine Frage nach der Moral gegeben hatte, nur nichts anmerken lassen. Es stimmte tatsächlich, daß alle mit ihrer Arbeit zufrieden zu sein schienen. Aber das war nicht die ganze Wahrheit.

Irgend etwas stimmte nicht, dachte Wosnesenski. Aber es war schwer zu fassen, was. Er spürte eine Spannung in der Luft, die vor ein paar Wochen noch nicht dagewesen war.

Nichts, worauf er den Finger legen konnte, keine offensichtlichen Zusammenstöße oder Animositäten. Nichts so Krasses wie Ilona Malaters boshafte Gehässigkeiten oder Pateis unzufriedenes Gemecker über die Änderungen des Plans.

Aber es war etwas im Busch. Irgend etwas.

Die meisten Mitglieder der Gruppe haben abgenommen.

Etwa seit der letzten Woche ist das besonders deutlich zu sehen. Aber Reed sagt, das war zu erwarten. Und sämtliche physiologischen Daten gehen direkt an die medizinischen Experten auf der Erde. Wenn sie alarmiert wären, dann hätten sie es uns inzwischen mitgeteilt, oder nicht?


Oder würden sie befürchten, daß sie uns Angst einjagen könnten, unsere Effizienz zunichte machen? Immerhin bleiben uns nur noch etwas über drei Wochen.

Vielleicht sollte ich mit Reed darüber sprechen, sagte er sich, als er von der Kommunikationskonsole aufstand. Er ist unser Arzt. Und Psychologe. Vielleicht kann er Licht in die Sache bringen.

Mit einem Zucken seiner massigen Schultern beschloß Wosnesenski, sich statt dessen einmal richtig auszuschlafen. Ich kann morgen mit Reed sprechen, wenn ich mir dann immer noch Sorgen mache. Morgen ist früh genug.


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